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Die Stunde des Taktikers

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Abdel Fattah as-Sissi hat, wie erwartet, seinen Dienst in der Armee quittiert und seine Kandidatur für das Präsidentenamt Ägyptens angemeldet. Damit ist die Wahl im Grunde schon entschieden. Er wird sie gewinnen.

An den Abläufen ändert sich dadurch nichts. Sissi selbst, die Armee, die Richter Ägyptens und all jene Kräfte der Staatsangestellten, der Mittel- und Oberschichten, die auf Stabilität und womöglich Fortschritt hoffen, bestehen darauf, dass die Formen der Legalität bewahrt werden. Davon erwarten sie eine Festigung ihrer durch die Erhebung  gegen Mubarak angeschlagenen Positionen, die sie nun unter der Führung as-Sissis wieder zu zementieren gedenken.

Hochbegabt im Umgang mit Menschen

Alle Beobachter, die sich nun über die Karriere des 1954 geborenen künftigen Präsidenten beugen, stimmen darin überein, dass der bisherige Marschall und künftige Präsident ein begnadeter politischer Taktiker ist. Man kann ihn auch einen Meister der Manipulation von Menschen nennen. In der Rückschau auf seine militärische Laufbahn wird klar, dass er es regelmässig vermochte, Gunst und Vertrauen seiner Vorgesetzten zu erlangen. Seine Loyalität endete regelmässig, wenn er in die Lage kam, auf ihre Hilfe zu verzichten und an ihnen vorbei aufzusteigen.

Seine militärische Karriere wurde durch Marschall Tantawi gefördert, der unter Mubarak 17 Jahre lang als Oberkommandant der Armee wirkte. Es war auch Tantawi, der ihn nach verschiedenen Feldkommandos als das jüngste Mitglied des Offiziersrates SCAF in das Gremium der regierenden Offiziere aufnahm. Dort erhielt er die Schlüsselposition des Chefs des militärischen Geheimdienstes. In Ägypten ist dies der Mann, der darüber zu wachen hat, dass kein Offizier einen Putsch auslöst. Es soll ebenfalls Tantawi gewesen sein, der ihm den Auftrag erteilte, die Beziehungen der Streitkräfte zu der damals politisch aufsteigenden Muslimbruderschaft zu pflegen.

Zweckbündnis mit Morsi

Seinen Erfolg in dieser Mission verdankte er zumindest teilweise seiner Fähigkeit, sich den Brüdern als frommer Muslim und beinahe als Sympathisant der Bruderschaft darzustellen. In dieser Lage vermochte er es, in einem für die Streitkräfte kritischen Augenblick, als am 10. August  2012 24 ägyptische Soldaten im Sinai überfallen und erschossen worden waren, mit Morsi darüber übereinzukommen, dass Tantawi und sein Generalstabschef, Enan, ehrenvoll in die Pension geschickt wurden und er selbst das Oberkommando der Armee übernahm. Morsi, der bis dahin der Armeeführung unter SCAF machtlos entgegengestanden war, erhielt als Gegenleistung die Vollmacht, als Präsident den zivilen Bereich zu regieren.

Alle Beobachter stimmen darin überein, dass Morsi damals und während des ganzen folgenden Jahres der Ansicht war, as-Sissi sei sein Mann in der Armee, auf den er sich voll verlassen könne. 70 weitere Offiziere, die alle älter als Sissi waren und ihm im Rang überlegen, wurden ebenfalls in die Pension geschickt. Im Gegenzug sorgte Morsi dafür, dass in der Verfassung, die er mit Hilfe seiner Anhänger formulierte und über die er das Volk abstimmen liess, die wirtschaftlichen und politischen Privilegien der Armeeoffiziere noch weiter ausgebaut und gefestigt wurden, als dies schon vorher der Fall gewesen war.

Die militärische Linie im Sinai

In Bezug auf die Unruhen auf dem Sinai, die damals gefährlich zu werden begannen, wollte Morsi eine versöhnliche politische Linie einschlagen und versuchen, die dortigen aufgebrachten Islamisten und die mit ihnen sympathisierenden Stammesleute durch Eingehen auf ihre Forderungen und Anliegen zu versöhnen. Es gab sogar einen Plan Morsis, den Sinai mit Hilfe von Geldanlagen aus Qatar zu entwickeln. Doch die Armee legte ihr Veto ein. As-Sissi verfolgte im Sinai und in der Kanalzone seine eigene Linie, indem er Kampfparolen, nicht Versöhnungsparolen, ausgab und durchsetzte. Der Armeekommandant konnte damit seinem Offizierskorps zeigen, dass er kein Mann der Bruderschaft war. Mit Morsi geriet er über die Sinai-Politik in Konflikte. Dennoch scheint der damalige Präsident bis zum Ende geglaubt zu haben, dass as-Sissi seinen Weisungen folgen werde.

Am Tag der Absetzung Morsis (dem 3. Juli 2013) setzte as-Sissi seinen ehemaligen Vorgesetzten und Förderer, General Mohammed Farid at-Tohamy, zum Chef des "General Intelligence Service" (GIS) ein. Er sollte zum Hauptinitiator der Repression der Brüder werden. Er war als bitterer Feind der Brüder bekannt. Morsi hatte ihn aus der Armee entfernt und auf den zivilen Posten eines Direktors der "Administrative Oversight Authority" verschoben. Dies ist die wichtigste Anti-Korruptions-Einheit der ägyptischen Verwaltung. Zyniker merken an, zur Zeit Mubaraks habe sie dazu gedient, die Missetaten der Machthaber zu verdecken.

Imagepflege
 

Zur Politik  des kommenden Staatschefs gehört auch, dass er sein  Bild in der Öffentlichkeit sehr bewusst und peinlich genau pflegt und pflegen lässt. Bisher war die Armeeabteilung für "moralische Angelegenheiten" für diese Imagepflege verantwortilich. Sie hatte nach seiner Ernennung zum Oberkommandanten durch Morsi einen Film produziert, der as-Sissi als frommen Offizier darstellte. Später, nach dem Sturz Morsis, kam ein neuer Film, der den Soldaten und Bereitschaftspolizisten gezeigt wurde. Darin wurden die Brüder mit einer ketzerischen Sekte des frühen Islam verglichen. Diese Armeeabteilung sorgte auch dafür, dass das Gesicht as-Sissis häufig in den Regierungszeitungen und auf Strassenplakaten erschien. Damit begann sein Personenkult.

Sogar der Moskaubesuch des damaligen Armeechefs vom vergangenen  Februar wird  als ein Teil der Imagepflege gesehen. Er diente dazu, den Ägyptern zu zeigen, dass die Armee unter seiner Führung keineswegs einzig von Amerika abhänge und wenn nötig in der Lage sei, den Amerikanern ein Schnippchen zu schlagen.

Terrorismus und Streiks

Anti-Terrorismus ist bisher der Hauptinhalt der Wahlkampagne gewesen. Das überaus heikle Thema der Wirtschaftsmisere wird nur sehr oberflächlich berührt. As-Sissi leugnet die schwierige Lage nicht. Er verspricht auch nicht baldige Besserung, sondern unterstreicht wieder und wieder, dass der wirtschaftliche Wiederaufschwung Selbstlosigkeit, harte Arbeit  und Patriotismus von allen erfordere.

Ägypten erlebt gegenwärtig eine intensive Streikwelle. Die Arbeiter in den staatlichen und privaten Textilfabriken von Mahalla al-Kubra befinden sich seit Februar im Ausstand. Auch die Ärzte in den staatlichen Spitälern und die Postbeamten streiken zur Zeit. Die Ärzte fordern bessere Spitalausrüstungen und mehr Geld für die staatliche medizinische Fürsorge. Die Missstände in diesen Bereichen sind seit Jahr und Tag als untragbar bekannt.

Veruntreute Staatsgelder

Viele Arbeiter, unter ihnen auch die Postbeamten, verlangen die Auszahlung des neuen Mindestlohns, von 1200 ägyptischen Pfund im Monat (knapp 200 Franken). Diese Massnahme  wurde im Januar beschlossen und gesetzlich verankert, aber nur mangelhaft umgesetzt. Zuerst sollte sie für alle Arbeiter gelten. Doch dann hiess es, sie sei auf die Arbeiter der staatlichen Betriebe beschränkt. Auch dort ist sie nicht immer durchgeführt worden.

Die Textilarbeiter machen in vielen Fabriken auch geltend, dass ihnen versprochene Prämien oder Löhne nicht ausbezahlt worden seien. Ihre erste Forderung ist, dass der Chef der 32 staatlichen Textilfabriken, ein gewisser Farid Abdul Aleem, entlassen wird. Sie werfen ihm vor, er habe in den Jahren seiner Amtsführung Milliarden von Staatsgeldern  veruntreut oder vergeudet.

Die Streiks werden dadurch unübersichtlich, dass es staatlich gelenkte Gewerkschaften gibt, mit denen die Behörden verhandeln und nicht staatliche, frei von den Arbeitern aufgestellte, die hinter den meisten Protesten und Streikbewegungen stehen.

Energiemangel

Alle Industrieunternehmen leiden zur Zeit unter dem Mangel an Strom oder Erdgas. Der Staat versucht die Energieleistungen zu kontingentieren und legt periodisch die Fabriken still. Oftmals geschieht dies ohne Vorauswarnung.  In den Stahlwerken und Keramikfabriken führt dies zu grossen Verlusten, weil die Hochöfen abkühlen. Doch auch die Textilwerke stehen periodisch still. Auf den Sommer, wenn der Elektrizitätsbedarf wegen der  Luftkühlanlagen steil ansteigt, ist ein noch viel grösseres Chaos zu erwarten.

Der Energiemangel geht darauf zurück, dass der Energiebefarf ständig ansteigt, der Staat jedoch seit Jahren kaum etwas unternommen hat, um die dafür nötigen Infrastrukturen auszubauen. Erhebliche staatliche Preisubventionen für Erdgas, Petrol und Elektrizität tragen mit dazu bei, dass bisher verschwenderisch mit diesen Energieträgern umgegangen wurde. Der ägyptische Staat ist mit Milliardensummen bei den Erdöl- und Erdgasfirmen verschuldet, denen er die im Lande benötigten Mengen abkauft, um sie - verbilligt - an die Industrie und Bevölkerung zu verteilen. Die ausstehenden Schulden haben manches Energieunternehmen veranlasst, die Produktion in Ägypten zu reduzieren oder die Suche nach neuen Energiequellen einzustellen.

Ein Berg von Problemen

Der neue Präsident wird sich schon bald mit diesen Fragen auseinanderzusetzen haben. Er wird zwar in der Lage sein, einen Ministerpräsidenten und Fachminister für die verschiedenen Mangelbereiche als die ersten Verantwortlichen vorzuschieben und sich selbst dadurch bedeckt zu halten. Doch er ist nun die Person, auf welche sich alle Hoffnungen der millionenstarken Bevölkerungsteile konzentrieren, die bessere Lebensbedingungen erwarten und fordern. Er hat schon begonnen, auf den Patriotismus dieser Leute zu setzen und ihnen erklärt, alle müssten nun selbstlos und hart arbeiten, um Ägypten voranzubringen.

Morsi verfügt auch über eine mächtige Polizei, ihrerseits gestützt durch die Armee, um die zu erwartenden Unruhen niederzuschlagen und einzudämmen. Sein unbestreitbares Talent, Menschen zu lenken und zu beeinflussen, wird voll gefordert werden. Für die 85 Millionen Ägypter ist zu hoffen, dass er es wirklich zur Besserung der Verhältnisse des ganzen Landes einsetzen kann.

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