Quantcast
Viewing all articles
Browse latest Browse all 14608

Jede Millisekunde zählt

Neulich, auf der Fahrt mit dem ICE von Bremen nach Bern, machte ich die schon fast unumgehbare Zeiterfahrung des Im-Zug-wartens. Sie scheint ironischer Weise zum Getriebe unserer beschleunigten Lebensform zu gehören. Der Zug verliess den Bahnhof Bremen mit Verspätung, aufgrund eines Notfalls bei einem Reisenden. Dann folgten Signalstörungen, Bauarbeiten, „ausserplanmässige Halte“, sogar ein Suizidalarm vor Dortmund, und anderes. Ich wurde also – buchstäblich – angehalten zu Geduld. Und die eigentliche Erfahrung, die ich machte, war: meine Geduldsreserve geht schnell zur Neige. Ich bin verwöhnt vom reibungslosen Funktionieren eines immer dichteren und schnelleren Verkehrsnetzes und wie alles Verwöhnen führt dies zu Verkümmerungen. Ich verlerne eine Fähigkeit: das Warten.

250 Millisekunden

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Informationsverkehr. In der Anfangsphase des Internets kursierte noch der boshafte Scherz des „World Wide Wait“. Langsame Übermittlung der Daten, langsames Laden von Websites, Geduld und Nerven waren nötig. Das änderte sich schnell. Investitionen und Erfindungen – Glasfaserkabel, globale Verteilung von Servern, effizientere Software -  treiben das Geschäft im Netz mit atemloser Rasanz voran, die uns im wahrsten Sinne des Wortes Hören und Sehen vergehen lässt. Der Schnelligkeitshunger nährt einen fiebrigen Markt der Beschleunigungssoftware, der nun – ein Paradox – den Hunger noch steigert. Führende Firmen wie Akamai Technologies sind im wörtlichen Sinn Herrinnen der Zeit, weil sie den Takt vorgeben. Google oder Microsoft unterhalten Forschungslabors, in denen die Verhaltensweisen der Nutzer aufs Minutiöseste studiert werden. Und Verhalten bedeutet primär: Umgang mit der Zeit.

In der Beschleunigungsspirale

In den frühen 1960er Jahren machten die Entwickler der Programmiersprache BASIC, John Kemeny und Thomas Kurtz, Beobachtungen bei Studenten, die ihre Befehle von individuellen Terminals in einen einzigen gemeinsamen Computer tippten. „Wir stellten fest,“ so Kemeny und Kurtz, „dass jede Reaktionszeit des Computers, die durchschnittlich 10 Sekunden übertraf, von den Studenten als Zerstörung der Illusion wahrgenommen wurde, sie verfügten über einen eigenen Computer.“ Google-Tests ergaben, dass Websites mit einer Ladezeit grösser als 4 Sekunden zu 90% verlassen werden. Es gab eine Zeit lang so etwas wie einen angestrebten Standard: 2 Sekunden. Aber er wird auch schon unterboten. Je schneller die Informationsströme im Netz fliessen, desto ungeduldiger werden wir. Die Ungeduld breitet sich aus wie eine ansteckende Krankheit, von App zu App. Unser Leben pulsiert im Takt der mobilen Gadgets. „Jede Millisekunde zählt,“ sagt Arvind Jain, ein Geschwindigkeitsevangelist bei Google. Der massierte Gebrauch der individuellen digitalen Kommunikationsmittel erzeugt natürlich leicht einen Datenverkehrsstau, und dieses Problem sucht man unter anderem durch schnelleren Verkehr zu lösen. Der Kampf um die Geschwindigkeits-Hegemonie tobt, vornehmlich in der Werbebranche. Harry Shum, Computerwissenschaftler bei Microsoft, drückt es so aus: „250 Millisekunden, entweder langsamer oder schneller, entscheiden über den Positionsvorteil im Netz.“

Im Velozitop

Lebensformen - pflanzliche, tierische, menschliche - haben ihre Velozitope: Biotope der Geschwindigkeit. Im Unterschied zu den anderen Spezies hat sich der Mensch längst aus einem ihm auf den Leib zugeschnittenen Lebensrhythmus herausentwickelt. Er ist ein von seinem natürlichen Tempo entfremdetes Wesen, nicht geschaffen für zu hohe Geschwindigkeiten. Man kann hier entgegnen, dass der Mensch als das „nicht festgestellte Tier“ (Nietzsche) auch nicht in seinem Geschwindigkeitsverhalten und seinem Zeitumgang festgelegt sei. Wir passen uns ja wie keine andere Tierart gewandelten Umweltbedingungen an. Noch im 19. Jahrhundert wurden die ersten Bahnreisenden von Schwindelanfällen heimgesucht, bei Geschwindigkeiten von 20-30km/h. Goethe prägte für seine Zeit, in der Presseerzeugnisse zunehmend für eine rasche Verbreitung von Neuigkeiten sorgten, den genialen Ausdruck „veloziferisch“, aus „velocitas“ und „luziferisch“: teuflische Eile. Aber man sollte hier nicht die anthropologische Komponente der Anpassung vernachlässigen.

So wie Geschwindigkeit eine Waffe sein kann, so kann sie sich zu einer Krankheit, einer Sucht, entwickeln. Nicht von ungefähr spricht man ja vom „Rausch“ der Schnelligkeit. Es fragt sich, ob der Mensch der Internetepoche sein Zeitverhalten bereits dermassen internalisiert hat, dass er auch ohne Gadgets wie „angeschlossen“ funktioniert. Schon 1996 führte die Psychologin Kimberley Young den Begriff der „internet addiction“ ein; Untertitel ihres Aufsatzes: „Das Erscheinen einer neuen Geistesstörung.“ Sie bezog sich dabei vor allem auf die Spielsucht, aber in gewissem Sinne wird die ganze Netzexistenz immer mehr zu einem totalen Game.

Die Kultur des Wartens

Ich halte es für voreilig, soziokulturelle Phänomene, die das Muster des Althergebrachten sprengen, als anormal oder pathologisch zu klassifizieren. Wenn wir hingegen die sich verbreitende Ungeduld als primär technisch induziert erkennen, dann wäre vielleicht eine Gegenmassnahme angesagt, die sich individuell erproben lässt: die Kultur des Wartens. Seiner ursprünglichen Bedeutung nach meint Warten „den Blick auf etwas richten“, aber auch „Sorge tragen“, „Pflege“. Der bewusste Verzug wäre als eine neue Kulturtechnik wahrzunehmen.

Dass Geduld die Mutter von Fertigkeiten und Fähigkeiten ist, gilt ja als eine alte und keineswegs altmodische Einsicht. Neu an ihr erscheint die gewandelte Stellung im Kontext heutigen Hochgeschwindigkeitslebens. Möglicherweise gehört es zur Ironie der technischen Entwicklung, dass sie einer herkömmlichen Tugend des Zeitumgangs neue Bedeutung verleiht. Wir müssen auf nahezu nichts mehr warten. Alles ist fast instantan zu haben. Aber wir können lernen, nicht alles instantan haben zu wollen. Warten können würde sich dann als eine Freiheit herausstellen. Wenn Geduld früher einmal Mangel an Kontrolle anzeigte, so erwiese sie sich jetzt als eine Art von Kontrolle über ein Leben, das in den Zeithäckseln von Millisekunden zu ersticken droht. 

Media slideshow teaser: 

Viewing all articles
Browse latest Browse all 14608