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Gescheiterte Verhandlung um Yarmuk

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Das einstige Lager für palästinensische Flüchtlinge, Yarmuk, damals südlich von Damaskus, entwickelte sich über die Jahrzehnte seit 1948 zu einer palästinensischen Stadt am Südrand der ausgedehnten Agglomeration von Damaskus. 220’000 Palästinenser lebten hier, mehr als sonstwo ausserhalb Palästinas.

Als im März 2011 die Volkserhebung gegen Asads Regime ausbrach, entschieden sich die Palästinenser von  Yarmuk nach anfänglichem Zögern für den Aufstand. Damals erschien es als wahrscheinlich, dass das syrische Regime nicht mehr lange dauern  würde. Yarmuk kam dadurch in die gleiche Lage wie zahlreiche der  Aussenquartiere und der umliegenden Ortschaften der Hauptstadt und der umgebenden landwirtschaftlichen Ebene, der Ghuta.

Armee des Regimes belagert Aufständische

Das Regime hielt sich im Zentrum der Hauptstadt und in den Quartieren,  die von – meist alawitischen – Angehörigen der Armee und der Sicherheitsdienste bewohnt waren. Die Armee war nicht in der Lage oder nicht Willens, die rebellischen Aussenquartiere der Millionenstadt Damaskus zu stürmen. Sie begnügte sich damit, sie vom Zentrum  abzuschneiden, womöglich zu umzingeln, die Zufuhr von Wasser, Elektrizität und Nahrungsmitteln nach Möglichkeit zu verhindern, und sie bombardierte die aufständischen Quartiere aus der Luft und mit  Artillerie.

In den Quartieren nisteten sich die Kämpfer der unterschiedlichen Widerstandsgruppen ein und verteidigten ihre Wohnorte gegen die Armee. Nach Möglichkeit nahmen sie ihrerseits das  Zentrum der Hauptstadt unter Beschuss, etwa aus Mörsern, und sie  legten auch Bomben. Doch ihre offensiven Mittel waren beschränkt.

Hunger als Waffe gegen die Bevölkerung

In der Mehrzahl dieser Quartiere war es die Zivilbevölkerung, die am meisten zu leiden hatte. Über die Jahre hin verschlimmerte sich ihre Lage. Todesfälle durch Hunger wurden gemeldet. Dies führte nach Monaten und Jahren der Belagerung in zahlreichen Fällen zu Verhandlungen zwischen dem Regime und dem Widerstand. Sie mündeten  stets in Kompromisse ein, die dem Widerstand erlaubten, seine leichten Waffen zu behalten, ihn jedoch zwangen, schwereres Kriegsgerät an die  Regierung abzuliefern.

In manchen Fällen erhielten die Kämpfer freien Abzug aus belagerten Ortschaften und Quartieren, in anderen konnten sie bleiben und sogar eine Art provisorischer  Lokalverwaltungen einrichten. Allerdings mussten sie auch zulassen, dass die syrischen Sicherheitskräfte, lies Geheimdienste, in diese  Quartiere zurückkehrten. Die Zivilbevölkerung, soweit sie verblieben war, konnte Nahrungsmittel erhalten und versuchen, sich in den zerstörten Ortschaften Notwohnungen einzurichten.

Yarmuk als Kriegsschauplatz

Die Palästinenserstadt Yarmuk erlitt das gleiche Schicksal. Zwei Jahre lang stand sie unter Belagerung und Beschuss durch die Armee. Bewaffnete Palästinenser versuchten sich gegen die Belagerer zu verteidigen. Der Belagerungsring der Arme war am dichtesten in den südlichen Teilen der Stadt, die am tiefsten nach Damaskus  hineinreichen.

Dort fanden auch die heftigsten Kämpfe und die grössten  Zerstörungen statt. Schleichwege und Verbindungen nach dem  benachbarten, von syrischen Sunniten bewohnten Aussenquartier Hajar al-Aswad blieben offen. Der grösste Teil der Zivilbevölkerung floh aus dem belagerten Yarmuk. Zurzeit soll die Stadt nur noch von etwa 18’000 Zivilisten bewohnt sein, davon  sind mindestens 3’500 Kinder.

UNRWA, das internationale Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge, hatte auch in Yarmuk eine Präsenz und half jenen unter den Flüchtlingen, die sich nicht selbst zu ernähren vermochten. Doch das Hilfswerk sah sich  gezwungen, den belagerten und unter Beschuss liegenden Stadtteil zu räumen. Die verantwortlichen Uno-Beamten erklären, sie seien bereit, die Hilfeleistungen wieder aufzunehmen, sobald die Sicherheit im Lager wieder hergestellt sei. Doch dies liess auf sich warten. Yarmuk entwickelte sich zu einem Abbild des syrischen Bruderkrieges im Kleinen.

Yarmuk vorübergehend in der Hand des IS

Die Palästinenser selbst fanden sich genauso in unterschiedliche Kampfgruppen  gespalten wie die Syrer im weiteren Umfeld. Dies hatte ohne Zweifel teilweise damit zu tun, dass jede Kampfgruppe, um sich zu bewaffnen und zu verproviantieren, gezwungen war, Anschluss nach aussen zu suchen. So kamen Verbindungen mit unterschiedlichen Gruppen  zustande.

Es gab aber auch Infiltrationen von syrischen Kämpfern aus den benachbarten Quartieren, besonders Hajar al-Aswad. Dies waren Bewaffnete, die versuchten, Yarmuk als ihren Stützpunkt zu nutzen. Die Nähe zum Zentrum der Hauptstadt war für sie attraktiv. So kam es im April dieses Jahres zu einem Versuch von IS, Yarmuk in Besitz zu  nehmen. Vorübergehend soll beinahe das ganze Lager, genauer der ganze Stadtteil von IS beherrscht gewesen sein.

Interne Feindschaften

Doch es kam zu Gegenoffensiven von anderen bewaffneten Gruppen, teils  Palästinensern, teils syrischen Rivalen von IS, und am Ende musste IS sich damit begnügen, einen kleinen Teil der Gesamtfläche von Yarmuk, das Quartier von Qadam, zu beherrschen. In anderen Teilen dominierten entweder palästinensische Bewaffnete, die sich IS-feindlichen Kampfgruppen angeschlossen hatten, oder auch Kleingruppen von bewaffneten Palästinensern alleine.

Präsent waren neben IS Kämpfer der Nusra-Front, solche der FSA, der Dschund al-Islam, des Dschaisch al-Islam und eine grössere Zahl von palästinensischen Kleingruppen, die sich mehr oder weniger eng an syrische Kampfgruppen ausserhalb anlehnten. Es gibt auch eine Gruppe von Palästinensern, die  Saiqa, welche seit den Jahren des libanesischen Bürgerkrieges (1975-91) auf Seiten des syrischen Regimes steht. Ihre Anhänger kämpfen heute mit dem Regime gegen die verbliebene Mehrheit der Palästinenser von Yarmuk.

Kompromiss für Yarmuk

Neuerdings wird gemeldet, um Yarmuk sei ein Kompromiss ausgehandelt worden zwischen dem Regime und dem bewaffneten Widerstand. Die UNRWA hat erklärt, sie habe dabei nicht als Vermittler gewirkt, doch sie  beobachte die Verhandlungen mit Interesse. Möglicherweise hatte die Hilfsorganisation dennoch eine inoffizielle Hand im Spiel. Jedenfalls  hat sie versprochen, falls der Kompromiss durchgeführt werde und falls  dann die Sicherheit in Yarmuk wieder gewährleistet sei, werde sie den hungernden Zivilisten mit Nahrungsmitteln zu Hilfe kommen.

Der Kompromiss sieht vor, dass die Kämpfer mit ihren Familien Yarmuk verlassen und unbehelligt nach den Orten ausreisen können, an denen ihre Kampfverbände Territorien beherrschen. Das wäre nach Raqqa für die Leute des IS und nach Idlib für jene der Nusra-Front. Eventuell wohl auch in Teile der Ghuta, die von Dschaisch ul-Islam beherrscht werden, für deren Kämpfer und Angehörige. Die Formel „mit den  Familien“ zeigt, dass es sich offenbar oft um Palästinenser handeln muss, da die Kämpfer von auswärts schwerlich ihre Familien nach Yarmuk mitgebracht haben.

Endet die Belagerung?

Der Kompromiss hat für das Regime den Vorteil, dass er eine Front stilllegt, die nahe an der Hauptstadt gelegen war. Abzuwarten bleibt zurzeit noch, ob das Regime sein Wort halten und wirklich die Ausreise der Kämpfer in die entfernteren Gebiete zulassen  wird, wo ihre jeweiligen Kampfgruppen dominieren.

Die Kämpfer von Yarmuk haben schlussendlich eingewilligt abzuziehen, weil sie offenbar einsehen mussten, dass es keine Möglicheit mehr für sie gab, in Yarmuk und an der südlichen Peripherie der Hauptstadt eine bleibende Basis aufzubauen und zu halten. Für die überlebende Zivilbevölkerung besteht eine Hoffnung auf Aufhebung der seit über zwei Jahren bestehenden Belagerungssperre und damit der Zufuhr von  Nahrungsmitteln. Die Zeit der Belagerung, deren Ende nun möglicherweise absehbar ist, war einmal vom Generalsekretär der Uno als der „unterste Rang der Hölle“ beschrieben worden.

Fehlschlag im letzten Moment

Nach den jüngsten Berichten sollen jedoch die Autobusse, die für die Evakuation der Kampfgruppen von Yarmuk bereitgestellt worden waren, leer wieder abgefahren sein. Dies wird in Zusammenhang mit dem Tod von Zahran Allusch, dem Führer der Kampfgruppe, Dschaisch ul-Islam,  gebracht.

Allusch, sein Stellvertreter und einige andere Führerfiguren der Gruppe, die Zehntausende von Kämpfern umfassen soll, wurden bei einer Zusammenkunft in der Nähe von Damaskus am 25. Dezember durch einen Raketenangriff aus drei Flugzeugen überrascht. Die Armeeführung von Damaskus erklärte, sie habe die Raketen abgeschossen. Die Möglichkeit  ist nicht auszuschliessen, dass die Russen den Syrern dabei behilflich gewesen sein könnten. Dschaisch ul-Islam gab bekannt, ein neuer Führer der Gruppe sei in der Person von Issam al-Buwaydam ernannt worden. Er ist auch unter dem Kriegsnamen Abu Humam bekannt.

Endgültig gescheitert oder eingefroren?

Dschaisch ul-Islam war an der Zusammenkunft beteiligt, welche anfangs Dezember in Riad zusammengetreten war, um eine Verhandlungsdelegation der syrischen Rebellen zu bestimmen. Doch Allusch persönlich hatte sich vertreten lassen mit der Begründung, der Weg nach Riad sei versperrt.

Nach der Zusammenkunft von Riad hatten sowohl die Russen wie auch das Asad-Regime erklärt, die Gruppen, die sich in Riad getroffen hätten, seien „nicht repräsentativ“ und arbeiteten mit Terroristen zusammen. Sie seien als  Verhandlungspartner nicht genehm. Der Raketenschlag auf die Führung des Dschaisch ul-Islam mutet an wie eine brutale Bestätigung der Ablehung durch Damaskus und Moskau.

Ob die geplante Evakuation von Yarmuk durch diese Vorfälle endgültig  gescheitert ist oder ob die Verhandlung wieder aufgenommen werden kann, müssen die  kommenden Tage zeigen. Der Kompromiss hatte vorgesehen, dass Dschaisch ul-Islam die Sicherheit des Transports der Kämpfer von Yarmuk und ihrer Familien garantiere. Das Abkommen gilt für den Augenblick als „eingefroren“. Es wird weitere Verhandlungen brauchen, um es wieder in Gang zu bringen.

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