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Pessimismus, Zynismus… Optimismus?

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Die Medien verbreiten Pessimismus, Staatspräsidenten Zynismus – wo bleibt Platz für Optimismus? Gleichzeitig scheinen die Ideale der Aufklärung hinter Nebelschwaden zu verschwinden. Wenn Letztere sich lichten, werden Vernunft, Wissenschaft und Humanismus wieder sichtbar. Hoffentlich.

Denken wir, was wir zu lesen bekommen?

Haben Sie kürzlich in Ihrer Zeitung, am Radio oder TV davon vernommen, dass im Land, aus dem der Korrespondent berichtet, kein Krieg mehr herrscht? Oder: Wann lasen Sie in Ihrem Leibblatt eine Reportage über den Rückgang von Sprengstoffattentaten und der Kriminalität in der Hauptstatt jenes Landes im Fernen Osten? Wurde vom G21-Gipfel berichtet, ging es nicht um Diskussionsthemen, sondern um Proteste und Demos der Globalisierungsgegner. Schon gar nicht existent scheinen positive Reportagen über Fortschritte im Schulwesen oder in der Spitalversorgung eines Entwicklungslandes im Herzen Afrikas. Dies sind vier spontan herausgegriffene Beispiele aus der Welt der medialen Berichterstattung. „Bad News“ sind eben Good News im Jargon. „Good News“ dagegen sind No News. Wer ist an dieser Tatsache hauptschuldig? Die Newsanbieter oder die Leserschaft? Müssige Frage. Zweifellos fördern Skandal- und Katastrophenberichte die Auflagewerte und Gewinnmargen der Produzenten und ebenso offensichtlich ergötzen sich Leserinnen und Leser an den bruchstückartig aufgebauschten Good News in den 20 Minuten ihrer allmorgendlichen Tramfahrt.

Stetig tropfen Negativmeldungen aus der ganzen Welt in unser Aufmerksamkeits-Reservoir. Kein Wunder herrscht in weiten Kreisen Pessimismus über den zukünftigen Gang der Welt, über die zukunftsgerichtete Gestaltungsfähigkeit der Regierung oder komplizierte Forschungsergebnisse der Wissenschaft. Sind wir allesamt Opfer dessen, was wir lesen, hören, sehen? Zumindest einer subtilen Beeinflussung sind wir wohl ausgesetzt.

Autoritär, zynisch, „trumpisch“

Dieser Zukunfts-Pessimismus ist auch eine Reaktion auf autoritär auftretende Männer, die sich als Staatspräsidenten berufen fühlen, die Ideale der Aufklärung (von denen sie, mag sein, gar nie gehört haben?) zu ignorieren. Seit einigen Jahren ist eine veritable Gegenaufklärung im Gange, genannt autoritärer Populismus. In seinem Schlepptau sammeln sich dessen „Jünger“, sie applaudieren dem starken Führer, der sich über Institutionen und verfassungsmässige Kontrollmechanismen hinwegsetzt. Die Beschränktheit der menschlichen Natur wird sichtbar – beim Schauspieler und seinem Publikum. Die Vorgauklung der direkten Herrschaft des Volkes ist Balsam für die Seelen dieser Menschen.

Woher mag der Erfolg dieser Trump, Erdogan, Putin und wie sie alle heissen, stammen? Warum akzeptieren deren Anhänger die grossartig inszenierte Beseitigung jeglicher Faktenüberprüfung und Ignorierung von mühsam errungenem Wissen, insbesondere aber auch das Lächerlichmachen von Eliten und Experten? Warum nur orten sie überall bösartige Absichten heimtückischer Feinde des Volkes, erpresserische Ansprüche der Immigranten oder verräterische Strategien „deren da oben“, die ihre Heimat partout in die EU führen möchten? (Letztere Bemerkung bezieht sich nicht auf Trump, Erdogan oder Putin.)

Vielleicht „glauben“ sie den einfachen, kurzen Botschaften ihrer Idole. Der verlorene Glauben an Religionen mag da und dort ein Vakuum hinterlassen haben, das es bei dieser Gelegenheit aufzufüllen gilt. Nicht umsonst gehören religiöse Fundamentalisten in den USA zu Trumps eifrigsten Befürwortern. In autoritär geführten Nationen fehlen Alternativmöglichkeiten, dem zynischen Gehabe des Staatsführers überhaupt entgegenzutreten. Doch in europäischen Ländern müssen es andere Beweggründe sein. Die populistischen Versprechungen an „ihr“ Volk wie: Höhere Steuern für Reiche, tiefere Benzinpreise für alle, nationale Selbstbestimmung auch dort, wo diese gegen die eigenen Interessen verstossen würde, Suggestion eines äusseren Feindes (sehr beliebt ist da die EU) oder einfache Schlagworte wie „die haben es nur auf unser Geld abgesehen“. Alle diese falschen Thesen werden unreflektiert herumgeboten – „Genauso ist es.“, tönt es dann am Stammtisch.

Optimismus als Medizin

Es liegt an uns. Lesen, hören, sehen wir selektiver. Überspringen wir Unglücksfälle auf der Strasse oder im Bundeshaus. Hören wir weg bei Demonstrationen, politischen Selbstläufern und Skandal-News. Wenn wir schon am TV die Werbung überspringen können, tun wir das gleiche bei Kampf-Arenen und „Talks“ mit den Ewiggleichen. Es gibt Interessanteres.

Es liegt an uns. Unsere guten Vorsätze fürs neue Jahr könnten sich diesmal zusätzlich „auf die Welt, in der wir leben“ beziehen. Natürlich neben der Pflicht: Persönliche Familie, Gesundheit, Wohlstand, Zufriedenheit kommen zuerst, doch dann folgt die Kür. Indem wir uns Gedanken über jene Werte machen, die uns berechtigte Chancen einräumen, unsere Pflicht-Wünsche zu realisieren. Dass wir uns wieder einmal in Erinnerung rufen, warum es uns so gut geht. Diese Voraussetzungen riskieren im Social-Media Ge(t)witter weggespült zu werden. Doch Achtung! Die Selbstverständlichkeit, mit der wir die schweizerischen Gegebenheiten voraussetzen, ist in Frage gestellt. Wenn wir uns wieder einmal die Ideale der Aufklärung in Erinnerung rufen, jene Werte, die unsere Vorfahren seit dem 17. Jahrhundert erkannt, definiert, etabliert und weiterentwickelt haben. Diese Ideale unserer Demokratie sind gefährdet.

Vernunft, Wissenschaft und Humanismus waren Nährboden für den Fortschritt durch die fünf Jahrhunderte. Wobei nicht jeder Fortschritt ein solcher ist. Fehlt die Nachhaltigkeitsidee, ist es nur ein Fortschreiten vom Idealzustand. Der Frieden in Europa seit über 60 Jahren hat Eltern: Das gemeinsame Sorgerecht für 28 Nationen liegt bei der EU. Wie bei allen Eltern gibt es da Fehleinschätzungen, falsche Erziehungsmethoden, übertriebene Pingeligkeit. Die Schweiz als Nachbar hat von Frieden und Fortschritt enorm profitiert.

Was heisst das jetzt für uns? Wie können wir mitgestalten? Indem wir uns involvieren ausserhalb von Familie und Beruf. Indem wir uns beteiligen am lokalen Föderalismus, an der Gemeindeversammlung und an den kommunalen Diskussionen über Strassen- und Schulhausbau. Indem wir uns im gelebten „Hier und Jetzt“ einmischen und so Teil des Volkes werden – im weitesten, positiven Sinn. Indem wir uns Gedanken machen zur Zukunft der Politik und Nachhaltigkeit. Indem wir denken.

Zukunfts-Optimismus entsteht in unseren Köpfen. Unser Aufmerksamkeits-Reservoir hat noch unendlich viel Aufnahme- und Speicherkapazität. Wir sind nicht Opfer von äusseren Einflüssen. Wir sind Täter: Unser Denken und Handeln bestimmt unsere persönliche Zukunft.

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Ärgerlich

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Michel Houellebecq, das Enfant terrible der französischen Gegenwartsliteratur, von den einen über den grünen Klee gelobt, von den anderen verachtet, hat rund um dieses Wochenende, in den verschiedensten europäischen Sprachen seinen 7. Roman vorgelegt.

Seit Freitag liegt die ursprüngliche, französische Version in Frankreichs Buchläden auf, seit Montag in den Buchhandlungen des deutschsprachigen Raums. Die Rede ist von: „Serotonin“ – so der Titel des neuen Houellebecq-Romans – ein Glückshormon, das die 46-jährige, deprimierte Hauptperson ausgiebigst konsumiert.

Ein Agraringenieur, der einst bei Monsanto tätig war, zuletzt als Berater im Pariser Landwirtschaftsministerium arbeitete, bevor er sich aus seinem ohnehin schon trostlosen sozialen Pariser Umfeld noch weiter zurückzieht, sich von seiner Gefährtin trennt, in die Anonymität eines seelenlosen Hotelzimmers abtaucht und auf den Selbstmord in einem anonymen Einzimmerappartment hoch oben in einem der Hochhäuser des 13. Pariser Arrondissements hin steuert.

Übliche Provokationen

Die Houellebecq-Maschinerie mit den üblichen Provokationen des mittlerweile 60-jährigen Autors im Vorfeld des Erscheinens eines Romans hat erneut perfekt funktioniert – mehr als 300’000 Exemplare beträgt die erste Auflage in Frankreich, wo die Kritik, mit wenigen Ausnahmen, immer noch Loblieder in höchsten Tönen singt,  80’000 Exemplare sind für den deutschsprachigen Raum vorgesehen. 

Wenn man so will ist „Serotonin“ in der Tat wieder ein echter Houellebecq. Seitenlang darf man erneut über den Zustand oder die Qualität von weiblichen oder männlichen Genitalien lesen, Seitenhiebe auf Holländer in einer spanischen Nudistenkolonie wahrnehmen, sich suhlen im grenzenlosen Zynismus eines abgehalfterten Mitvierzigers aus der oberen Mittelklasse, der sich doch glatt an seine Unterschichtenleser wendet, um ihnen zu erklären, was denn eine Mastersuite in einem der hässlichen Hochhäuser entlang der Seine im 15. Arrondissement ist.  

Menschen-verachtend

Der Erzähler hat praktisch keine Freunde, ein total reduziertes Sozialleben, ergötzt sich an permanenten Fussballübertragungen der Pay-TVs, lässt sich seitenlang über Vorzüge und Nachteile von Antidepressiva aus und trinkt sich sich zwischen Anfang und Ende des Romans durch fast alle Sorten von Alkohol. Frauen werden meist als Schlampen bezeichnet, Homosexuelle kann Houellebecqs Protagonist gar nicht leiden, Umweltschützer noch weniger und Europa und die gesamte damit verbundene Bürokratie natürlich sowieso nicht.

Kurzum: nichts ist neu an diesem Houellebecq mit seinem permanent Menschen verachtenden Unterton.   

Der Autor selbst, der beim Erscheinen seines Romans gerade mal wieder keine Interviews gibt, hatte im letzten Herbst, als er „Serotonin“ schon längst abgeschlossen hatte, bei der Verleihung eines drittklassigen Literaturpreises für sein Gesamtwerk mit der reichlich hohen Meinung von sich selbst nicht hinter dem Berg gehalten:

„Es gibt eine Kategorie von Phänomenen unserer Welt“, so der Meister, „die man heute als Houellebecqsche bezeichnet und die vor mir nicht beschrieben worden waren – das stimmt wohl. Man kann mich dafür loben, Lebensweisen in unserer Welt ausfindig gemacht zu haben, die zuvor nicht beachtet worden waren. Meine Bücher können in der Tat dazu führen, dass man lebensunfähig wird. Bücher schreiben kann eine schwerwiegende Verantwortung sein, aus der ich mich nicht davonstehlen will.“ 

„Trump ist der Grösste“

Und weil das Erscheinen eines Houllebecqschen Romans auch immer von grösseren oder kleineren Skandälchen begleitet sein muss, hat der Autor  diesmal zeitgerecht für Harper’s Magazine im Dezember einen Text abgeliefert, in dem er Donald Trump als den grössen Präsidenten der USA bezeichnet, dessen Nationalismus und Protektionismus hochleben lässt und den man mit der orangefarbernen Haarwelle als Friedensfreund preist.

Teile der französischen Kritik haben Houllebecq auch diesmal wieder – und ebenso unberechtigt wie schon vor vier Jahren beim Erscheinen seines Romans „Die Unterwerfung“ – als Visionär und Propheten bezeichnet. Weil Bauern in diesem neuen Roman jetzt eine Autobahnzufahrt blockieren, hat Houellebecq noch lange nicht die Gelbwestenbewegung vorhergesehen.

Vor zwei Jahren gab es eben in der Bretagne und der Normandie – wo ein Gutteil der Romanhandlung angesiedelt ist – die „Rotmützenbewegung“, die damals schon eine erste Ökosteuer zu Fall gebracht hatte. Umweltministerin Segolène Royal liess diesen Rückzieher den französischen Steuerzahler über eine Milliarde Euro kosten.

Von der Provinz nicht die geringste Ahnung

Und wenn Houellebecq heute über die französische Provinz und besonders über die Normandie schreibt und seine Hauptfigur dort in Erinnerungen schwelgen lässt, dann darf man den Eindruck haben, er hat sich eine der guten alten, gelben Michelin-Karten auf den Schreibtisch gelegt, zusätzlich einige Webseiten über sehenswerte Schlösser und charmante Hotels in historischen Gebäuden aufgeschlagen und dann „Namedropping“ betrieben. Nie stellt sich der Eindruck ein, als hätte der Autor vom so genannten tiefen Frankreich und den Provinzen, in die es seine Romanhelden verschlägt, auch nur die geringste Ahnung.

Man selbst hat den vor exakt vier Jahren erschienenen Roman „Die Unterwerfung“ in dem Moment definitiv aus der Hand gelegt, als sich der Hauptakteur vor dem sich ausbreitenden Islamismus aus Paris ins französische Zentralmassiv geflüchtet hatte. Fast alles was dort in der Auvergne geschah, klang falsch und unauthentisch.    

„Goethe, das Rindvieh“

Am Ende seines über dreihundert Seiten starken neuen Werkes lässt Houellebecq diesmal die Hauptfigur die Fallgeschwindigkeit von nicht ganz 5 Sekunden berechnen, bei dem bevorstehenden Selbstmord aus einem Wolkenkratzer im 13. Pariser Arrondissement, wo der Autor tatsächlich selbst lebt. Nicht ohne dass Houellebecq wenige Seiten zuvor und aus völlig heiterem Himmel Goethe ein altes Rindvieh nennt, einen deutschen Humanisten mit mediterranem Einschlag und einen der grauenvollsten Schwafler der Weltliteratur. 

Vielleicht ist dieser siebte Houellebecq-Roman nun doch derjenige, nach welchem es mit dem Stiefellecken der internationalen Kritik ein Ende hat, vor einem Autor, der die pure Provokation und den schier unermesslichen Zynismus zum immer wiederkehrenden Prinzip seiner Romanwelten erhoben hat. Das Ärgerlichste bei Houellebecqs Masche und seinen Werken bleibt: die Kritik tut immer wieder und auch diesmal so, als stünden Houellebcqs hochnäsige Charaktere, voll des Zynismus und der absoluten Wurschtigkeit, für den Zustand der gesamten französischen Gesellschaft und des Landes schlechthin.

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Paris
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Dietrich Dörner, deutscher Psychologe, *1938

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Ein hervorragendes Mittel, Hypothesen ad infinitum aufrechtzuerhalten, ist die hypothesengerechte Informationsauswahl. Informationen, die nicht der jeweiligen Hypothese entsprechen, werden einfach nicht zur Kenntnis genommen.

Lamm und Löwe

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Ich schreibe diese Zeilen in der ländlichen Abgeschiedenheit von Alibagh, mit einem Höllenlärm in den Ohren: eine dröhnende Lautsprecherstimme, die bedächtig und sachlich beginnt und sich dann im Fünfminutentakt zum Gebrüll steigert. Sie bricht abrupt ab, es folgen einige Takte hämmernder Bass und die Melodiefahne einer krähenden Frauenstimme. Dann plötzlich Stille. Einige Sekunden lang lassen sich Vogelstimmen vernehmen, dann hebt der rotierende Kommentar wiederum an.

Nationalsport Cricket

Heute morgen besichtigte ich die Quelle dieses Lärms, das jedes Jahr den Alltag unseres Alibagh-Winters ausfüllt. Eine holprige Allmend, noch immer voller Lehmklumpen unter der Grasdecke des letzten Monsuns. Ein Kreidekreis misst ein Cricketfeld ab, am Rand ein flatterndes Zelt, darunter ein paar Stühle, und eine Wand aufgestapelter Lautsprecherwürfel.

Ausser uns scheinen sich keine Dorfbewohner davon irritieren zu lassen. Warum sollten sie, kommen damit doch ganz Awas und die Dörfer im Umkreis in den Genuss eines Live-Cricketspiels. Man kann seinen täglichen Pflichten nachgehen und trotzdem dabeisein, wenn dem Nationalsport gefrönt wird.

Der Bauer kann weiter seinen Mist über das abgeerntete Reisfeld verteilen; der Lumpensammler radelt im Takt der Stentorstimme die Dorfstrasse entlang und kündet mit der Fahrradglocke an, dass er open for business ist; die Hausfrau kann in der Sonne vor dem Haus sitzen, Erbsen schälen, und vage mitbekommen, ob ihr Team oder das vom Nachbarweiler mehr Runs zuwege und Wickets zum Fallen bringt.

Historischer Sieg der indischen Selection

Sässe Ravi Shastri in seinem Wochenendhaus im benachbarten Sasawne, könnte auch er mitbekommen, wie sich die zwei Teams im Dezibelgewitter – und vor leeren Rängen – die Bälle ablaufen. Aber er ist mit Sicherheit nicht zuhause, sondern in Sidney. Das weiss nicht nur jedermann in Sasawne, sondern ganz Indien, zumindest die ungezählten Millionen Inder, die in den letzten Wochen die Australien-Tour ihres Teams mitverfolgt haben.

Ravi Shastri ist der Chef-Trainer der indischen Selection. Und mit ihr hat er soeben seinen grössten sportlichen Triumph erlebt: Sie haben das – zuhause schier unbezwingbare –  australische Team in einer Test-Serie bezwungen. Am Montag nahm Captain Virat Kohli nach dem letzten von vier Spielen in Sidney den Pokal entgegen. Es war das erste Mal, dass Indien Australien down under besiegen konnte. Es musste dafür 71 Jahre warten, d. h. seit es das demokratische Indien gibt.

Im Cricket sind Test-Spiele nicht das, was wir unter dem Wort Test verstehen. Es bezeichnet den klassischen Cricket-Match, der über vier bis fünf Tage geht, von langen Tea Breaks im Pavillon unterbrochen, bis alle Wickets auf beiden Seiten gefallen sind.

Ein Spiel für Gentlemen

In seiner Test-Variante ist Cricket nicht nur ein Ausdauersport, der Geduld und Zähigkeit verlangt. Die wechselnden Tageszeiten, Lichtverhältnisse, Rasen- und  Wetterbedingungen verlangen vom Captain taktisches Gespür dafür, wie er sein Team im Rund verteilt, welchen Spieler er gegen welchen Gegner zum Batting (Schlagen) und Bowling (Werfen) aufbietet, wie eng oder weit er das Team im runden Feld staffelt.

Test-Cricket war ursprünglich ein Spiel für Gentlemen, eine Spezies Mensch, die keiner geregelten Arbeit nachgehen muss und es sich leisten kann, als Spieler oder Zuschauer ganze Nachmittage zu verbringen, ohne dass etwas passiert. Es ist nicht das Spiel für die Sorte Zuschauer und Teilnehmer, die nur am Wochenende oder am Abend Zeit haben, den weissen Flanell-Pullover überzuziehen oder sich ein Spiel anzuschauen, sei es auf den Rängen oder vor dem Bildschirm.

Doch dem Arbeitsethos der Inder scheint es entgegenzukommen. Es entspricht ihrem Zeitgefühl – Indian Standard Time ist auch Indian Stretchable Time – und sie lieben das Nebeneinander von kurzen explosiven Ausbrüchen und langen Phasen, in denen die Mehrzahl der Spieler ihren Raum decken und einfach herumstehen, bevor der Umpire seinen Sonnenhut abnimmt und damit das Signal zum Tee gibt.

Sportfernsehen verlangt Kurzformen

Mit dem weltweiten Siegeszug des Sportfernsehens schien auch die Zeit des mehrtägigen Test-Crickets vorüber zu sein. Neue, kürzere Spielformate wurden geschaffen, um den Sehgewohnheiten des Publikums und der TV-Werbung entgegenzukommen. Es kam zur Schaffung des One-Day Cricket mit 50 Spielabschnitten („Overs“) und dem etwa zweistündigen T-20.  

In beiden Formaten erwies sich Indien als rasch lernende Cricket-Nation. Neben Pakistan heimste es eine Rekordzahl von Länderspielsiegen ein – mehr als die alten Cricket-Nationen England, Australien und Neuseeland, mehr auch als die hochbewerteten südafrikanischen und karibischen Teams.

Trotz der viel lukrativeren Limited Overs-Turniere hat sich das klassische Test-Cricket erstaunlicherweise gehalten, zweifellos querfinanziert durch Einnahmen aus TV-Rechten der kürzeren Formate. Es bleibt der Goldstandard, und das Prestige einer Cricket-Nation hängt bis heute davon ab, wie gut sie in jener Spielart ist, die kaum Zuschauer und bedeutend weniger hohe Einschaltquoten erreicht als One-Day Cricket und T-20.

Es gibt Experten – in meinem Gastland zählen sie in Hunderten von Millionen – die behaupten, dass die kürzeren Formate jene Spieler und Teams begünstigt, die im (defensiven) Batting stärker sind als im (offensiven) Bowling, dem Werfen des Balls. Dies gilt gerade für Indien, das nur wenige Weltklasse-Bowler hervorgebracht hat. Im Gegensatz dazu verlangt ein mehrtägiger Test-Match geduldiges, varianten- und fintenreiches Bowling, um die Verteidiger zu ermüden und auszutricksen.

In Indien kommt hinzu, dass die besten Testspieler lange Zeit gerade jenen Schichten entsprossen, mit denen englische Gentlemen auch sozial verkehrten – Maharadschas und  Mitglieder städtischer Oberschichten. Stil und Eleganz waren wichtiger als der Killer Instinct und eine aggressive Körpersprache. Während andere Cricket-Nationen wie Australien und Neuseeland auch im Test-Cricket immer hemdsärmliger (und erfolgreicher) wurden, blieben Indien und lange Zeit auch England Gefangene ihrer noblen Tradition.

Echoraum für Chauvinismus

Allerdings gilt dies nicht für das Publikum. In Indien ist Cricket mehr als anderswo ein Volkssport. Wie in allen Sportarten mit Massenzulauf ist die Cricket-Arena damit auch der lautstarke Echoraum für chauvinistische Emotionen. Dies mag ein Grund sein, warum Indien in Test-Spielen zuhause oft als Sieger vom Feld ging, während es international schlecht abschnitt. Dies war besonders häufig in Australien der Fall, wo sie nicht nur einer aggressiven Spielweise begegneten, sondern auch einem feindlich gestimmten Publikum und höhnischen Medien-Kommentaren.

Lions at Home, Lambs Abroad, lautete einer der Kommentare, den sie immer wieder hören mussten. Er war scharfer Toback, auch weil er unterschwellig mit dem alten rassistischen Vorurteil aus Kolonialzeiten spielte, das Indern eine gesunde muskulöse Aggressivität aberkannte.

Es war auch dieses Vorurteil, mit dem das indische Team mit seinem ersten Sieg nun aufgeräumt hat. Keiner verkörpert das neue aggressive Selbstbild besser als dessen Captain Virat Kohli. Er ist nicht nur einer der weltbesten Cricket-Schläger. Er ist auch ein Fitness-Fanatiker, ein Grossmaul, und ein Mann, der seine Autorität auf dem Feld ohne viel Federlesens ausübt.

Kohli koppelt sein strategisches Geschick mit einer kontrollierten Wut, die dem Gegner auf dem Feld oder der Tribüne nichts schuldig bleibt. Darin gleicht er seinem Chef-Trainer Shastri. Im Gegensatz zum Fussball ist im Cricket allerdings der Captain der alleinige Spielchef, nicht der Coach. Insofern hätte Shastri gut und gern auch in Alibagh auf den Lorbeeren seines Teams ausruhen können. Aber ich hege die Hoffnung, dass der Lautsprecherlärm selbst ihn vertrieben hätte.

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Bombay
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David Bowie, gestorben heute vor drei Jahren

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People are so fucking dumb. Nobody reads anymore, nobody goes out and looks and explores the society and culture they were brought up in. People have attention spans of five seconds and as much depth as a glass of water.

Trumps Wutanfall

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Wie es sich für einen verblichenen Star des Reality TV ziemt, sprach der Präsident abends zur besten Sendezeit aus dem Oval Office. Teils widerstrebend und auf sozialen Medien mit harscher Kritik eingedeckt, hatten sich Amerikas grosse Fernsehsender zuvor bereit erklärt, Donald Trumps Rede an die Nation live zu übertragen und der demokratischen Opposition Gelegenheit zu einer Replik zu bieten.

Das Argument der TV-Bosse: Das Amt des Präsidenten ist grösser als sein Inhaber und es gilt, dem Amt Respekt zu zollen. Obwohl zum Voraus zu vermuten war, dass Donald Trumps Rede eher zu einem Wahlkampfauftritt denn zu einem Akt der Versöhnung geraten würde. Am Ende sprach der Präsident, angestachelt von rechten Medien wie „Fox News“, eigentlich nur zu seiner Basis und nicht zur ganzen Nation, wie heuchlerisch auch immer er diese beschwor.

Die Leitartikler der „New York Times“ bringen es auf den Punkt, wenn sie schreiben, Donald Trump habe die amerikanische Öffentlichkeit zur Empörung über eine Krise anstacheln wollen, die er zum grossen Teil selbst verursacht hat: „Bei der Verfolgung einer ungenügend durchdachten und noch schlechter umgesetzten Politik hat Mr. Trump unter dem Vorwand der Bekämpfung einer nicht gegebenen nationalen Sicherheitskrise dazu beigetragen, eine drängende humanitäre Krise zu kreieren.“

Noch hat der amerikanische Präsident in seiner Rede davon abgesehen, den nationalen Notstand auszurufen, der es ihm ermöglichen würde, auf rechtlich fragwürdigen Wegen via das Budget des Pentagons jene 5,7 Milliarden Dollar aufzutreiben, die er für den Bau einer Mauer oder eines Stahlzauns an der Grenze zu Mexiko will. Ein Projekt notabene, das es seinen politischen Gegnern zufolge nicht braucht, weil es die zweifellos vorhandenen Probleme an der fast 3200 Kilometer langen Südgrenze der USA nicht löst.

Die Mauer ist ein Projekt, das selbst viele Bewohner der vier Grenzstaaten Kalifornien, New Mexico, Arizona und Texas ablehnen, weil es für sie dringlichere Probleme gibt, die es zu lösen gilt. Wie für jenen 71-jährigen Demonstranten vor dem Borderland Café in Columbus (New Mexico), der wenige Stunden vor der Rede des Präsidenten ein Schild hochhielt, auf dem zu lesen stand: „Stop truth decay: Dump Trump.“

Schon im ersten Satz seiner Rede bewies Donald Trump, wie lose er mit der Wahrheit umgeht. Er sprach von einer „Sicherheitskrise an der Südgrenze“, obwohl die Zahl jener, die 2018 versucht haben, die Grenze illegal zu überqueren, fast die tiefste seit 20 Jahren ist. Jeden Tag, so der Präsident ferner, würden Tausende illegaler Einwanderer versuchen, amerikanischen Boden zu betreten. Seine Verwaltung hat den täglichen Durchschnitt im letzten Jahr auf täglich Hunderte beziffert.

Anders auch als von Trump behauptet, sickert das meiste Rauschgift über legale Grenzposten oder via Postsendungen in die USA ein, das heisst, eine Mauer würde die Drogen nicht stoppen. Auch stimmt nicht, was die Pressesprecherin des Weissen Haues in einem Interview mit „Fox News“ behauptet hat: dass fast 4000 bekannte oder mutmassliche Terroristen festgenommen worden seien beim Versuch, illegal in die USA zu gelangen, wobei die Südgrenze das breiteste Eintrittstor für Terroristen sei – eine Feststellung, die das US-Aussenministerium dementiert.

Auf jeden Fall dürfte Donald Trumps kurze Rede an die Nation wenig  dazu beigetragen haben, die Demokraten im Kongress kompromissbereiter zu machen, was eine Lösung des Shutdowns der Regierung in Washington D. C. betrifft. Dieser ist eine Art Strafmassnahme, von der der Präsident drohend sagt, er sei bereit, sie auf Monate, ja auf Jahre hinaus aufrechtzuerhalten. Und zwar bis die Opposition die 5,7 Milliarden Dollar für den Bau einer Mauer bewillige, von der es einst hiess, Mexiko würde sie bezahlen. Doch die Demokraten, behauptet Trump, seien nicht bereit, Geld für höhere Grenzsicherheit auszugeben.

Was so wiederum nicht stimmt: Die Demokraten haben im Kongress einen auch von Republikanern getragenen Gesetzesentwurf eingebracht, der 1,3 Milliarden Dollar für zusätzliche Massnahmen zum Schutz der Südgrenze vorsieht, falls der Präsident im Gegenzug dafür den seit dem 22. Dezember anhaltenden Shutdown beendet, der 800’000 Staatsangestellte betrifft – mit zunehmend gravierenderen Folgen. Doch Donald Trump, in der Mitte seiner Amtszeit, will nicht einlenken.

Kein Wunder, meint zynisch ein Kolumnist der „Washington Post“ unter Verweis auf Amerikas berühmten Kinderarzt Benjamin Spock (1903–1998). Der Präsident sei zu Beginn seiner „terrible twos“, jener schwierigen Phase der Kindheit, in der Zweijährige und ihr Trötzeln die Erwachsenen um sie herum zur Verzweiflung treiben würden: „Das kann eine physisch erschöpfende und schwierige Zeit sein.“

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Anerkennen und in Pflicht nehmen

Historische Jahrestage

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Der genaue Verlauf  des «Jahrhunderts der Schande und Erniedrigung», verursacht durch die imperialistischen Mächte des Westens, Russlands und Japans vom Beginn des ersten Opiumkrieges 1839 über die Ungleichen Verträge im 19. Jahrhundert bis hin zur Invasion der Japaner in den 1930er-Jahren, ist jedem chinesischen Schüler wohlbekannt. Mit der «Befreiung der Nation» durch die Kommunisten 1949 nach dem gewonnen Bürgerkrieg gegen die Nationalisten brach ein neues Zeitalter an.

Chinas Schülerinnen und Schüler wissen von der ersten bis zur letzten Kaiser-Dynastie alles vor- und rückwärts auswendig. Die neueste Geschichte Chinas wird in den Schulen jedoch eher selektiv behandelt. Die Hungersnot mit über dreissig Millionen Toten während des von Staatengründer Mao Dsedong angestossenen utopischen «Grossen Sprungs nach Vorn» (1958–61) wird noch heute vornehmlich als natürliche und nicht von Menschen verursachte Katastrophe vermittelt. Die «Grosse Proletarische Kulturrevolution» (1966–76) wird zwar als «chaotisch» beschrieben, doch detailliertere Kritik wird vermieden. Schliesslich wurde Mao Dsedongs Wirken wenige Jahre nach seinem Tod parteioffiziell als zu siebzig Prozent gut und dreissig Prozent schlecht beurteilt. Von Tiananmen 1989 weiss die heutige Jugend kaum mehr etwas.

1. Oktober

Die allmächtige Kommunistische Partei Chinas legt grossen Wert auf Feiern historischer Ereignisse. Wie das geschichtsträchtige Jahr 2019 jedoch zeigt, müssen es die richtigen Gedenkmarken sein. Das wohl bedeutendste Jubiläum im laufenden Jahr wird am 1. Oktober begangen. Vor siebzig Jahren hat Mao Dsedong vom Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen die Volksrepublik ausgerufen und das «Wiederaufstehen der Nation» proklamiert.

Wie alle zehn Jahre wird eine grosse Militärparade am Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens durchgeführt, und der Parteichef wird die Errungenschaften der Nation preisen und Ziele des Landes formulieren. Immer unter der Führung natürlich der weisen KP. Wie Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping wiederholt in seinem «Grossen Chinesischen Traum» von der «Wiedergeburt und Verjüngung der Nation» es in Anlehnung an den grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping formuliert hat, soll dann zum 100. Jahrestag der Volksrepublik am 1. Oktober 2049 China zu einer friedlichen Nation bescheidenen Wohlstands geworden sein und mit den reichen Industriestaaten in jeder Beziehung – also Wissenschaft, Forschung, Ökonomie – gleichgezogen haben.

4. Mai

Ein weiterer politisch und kulturell wichtiger Jahrestag wird am 4. Mai begangen. Zum hundertsten Mal jährt sich die erste politische Massenbewegung in Chinas neuester Geschichte, nämlich die «Bewegung des 4. Mai» (Wusi Yundong). Tausende von Studenten, Gewerbetreibenden und Arbeitern protestierten auf dem Tiananmenplatz in Peking und in andern Städten am 4. Mai 1919 gegen die Behandlung Chinas an den Pariser Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg. Im Versailler Vertrag nämlich erhielt Japan die deutschen Niederlassungen zugesprochen, entgegen dem ausdrücklichen Wunsch Chinas, das auf Seiten der Alliierten Siegermächte am Weltkrieg teilgenommen hatte. Landesweit wurde gestreikt. Japanische Waren wurden boykottiert.

Die 4. Mai-Bewegung, die an die 1915 gegründete «Bewegung für eine neue Kultur» anknüpfte, erhob im damals chaotisch regierten China auch grundsätzliche Forderungen. Zunächst skandierten die Demonstranten Politisches: «Kämpft für Chinas nationale Souveränität! Bestraft die Landesverräter!» Zur Erneuerung forderten sie «Mister Science and Mister Democracy». Mit andern Worten verlangten die aufmüpfigen Studenten, Intellektuellen und Arbeiter Demokratie, Gleichheit und Freiheit sowie neueste Entwicklung in Wissenschaft und Technik. Auch die abgehobene Literatursprache der Mandarine sollte reformiert werden.

Zu den Intellektuellen der Bewegung gehörten auch Chen Duxiu und Li Dazhao, die zwei Jahre später die Kommunistische Partei Chinas mitbegründen sollten. Auch der berühmte Schriftstelle Lu Xun war Teil der Intellektuellen-Avantgarde. Einige Historiker gingen so weit, den 4. Mai 1919 als Beginn der chinesischen Aufklärung zu interpretieren. Während in der Folge die Kommunisten und linken Intellektuellen die «Bewegung des 4. Mai» unterstützten und weiterentwickelten, waren die Nationalisten Sun Yat-sen und General Chiang Kai-shek als Konfuzianer eher skeptisch gegenüber westlichen Ideen.

Eines steht heute fest: Wie der 100. Jahrestag der 4. Mai-Bewegung von der chinesischen Führung begangen wird, lässt vermutlich auf die Zukunft des kulturellen Umbruchs schliessen. Bereits vor zehn Jahren hat der Pekinger Literaturwissenschafter Wang Furen von einem regelmässigen kulturellen Umbruch alle dreissig Jahre gesprochen. Also der 4. Mai 1919, die Staatengründung am 1. Oktober 1949 und schliesslich Deng Xiaopings Reform und Öffnung nach aussen 1979. Nochmals dreissig Jahre später, 2009, lässt sich nicht datumsgenau ein solcher Bruch festmachen, doch kurz danach wurde Xi Jinping Parteichef und steht, so wie es heute aussieht, für einen neuen kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbruch.

15. April

Auch wenn die Partei Historisches gross schreibt, gibt es viele Tabus. Dazu gehören die Studenten- und Arbeiterproteste auf dem Platz  vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen in den Wochen zwischen Mitte April und Anfang Juni 1989. Sie beriefen sich unter anderem auch auf die «Bewegung des 4. Mai». Auslöser der auch landesweiten Unruhen war der Tod des ehemaligen Parteichefs (1980–87) Hu Yaobang am 15. April 1989. Bei der Beerdigung des bei Intellektuellen wie bei einfachen Bürgern beliebten Hu versammelten sich weit über 50’000 Studenten und Arbeiter auf dem Tiananmenplatz und forderten in einer Petition an Premierminister Li Peng mehr Redefreiheit, grösseren wirtschaftlichen Freiraum sowie Kampf gegen grassierende Korruption. Der Ausgang ist bekannt.

3./4. Juni

Deng Xiaoping, mit Blick auf die Zustände im Chaos der Kulturrevolution, liess die Proteste in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni gewaltsam von der Volksbefreiungsarmee unterdrücken. Noch heute werden die Tiananmen-Ereignisse als «konterrevolutionärer Vorfall» und als «politische Unruhen» qualifiziert. Das Thema ist und bleibt tabu. Vom 15. April bis in den Juni jedenfalls werden deshalb die Behörden höchste Vorsicht walten lassen und auch den kleinsten Protest im Keim ersticken.

10. März

Ein weiteres heikles Datum ist der 10. März. An diesem Tag jährt sich heuer zum 60. Mal ein Aufstand der Tibeter in Lhasa inmitten des «Grossen Sprungs nach Vorn» und der katastrophalen Hungersnot . Der Dalai Lama und Zehntausende von Tibeterinnen und Tibetern flohen nach Indien und Nepal.

Auf dem «Dach der Welt» hat sich seither viel verändert. Zwar diktieren hauptsächlich die Han-Chinesen, doch die Entwicklung hat der tibetischen Bevölkerung einiges gebracht: Bildung etwa, wirtschaftlicher Aufschwung, Jobs oder Öffnung nach aussen. In Tibet, seit dem 18. Jahrhundert Teil Chinas, ist wie überall auf der Welt bei fortschreitender Entwicklung leider vieles an alter Kultur verloren gegangen. Dass aber ein «kultureller Genozid», wie vom Dalai Lama behauptet, stattfindet, ist nicht zutreffend. Viele Westler projizieren heute ihre Träume ins Shangri-la friedlicher Tibeter, das es so nie gab und noch viel mehr nicht gibt. Die Exil-Tibeter und die Chinesen decken sich gegenseitig mit Propaganda ein. Für Aussenstehende sollte deshalb gelten: Nicht alles was Peking sagt, ist falsch, und nicht alles was Dharamsala sagt ist richtig. Und umgekehrt.

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Peking
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Georges Clemenceau, französischer Journalist, zweifacher Ministerpräsident, 1841–1929

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Es gibt zwei völlig unnütze Dinge auf der Welt: die Prostata und das Amt des französischen Ministerpräsidenten.

Legendär

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Die legendäre Showmasterin Madonna. „Legendär“ beinhaltet, dass sie alle kennen und alle wissen, dass sie legendär ist. Wüsste man es nicht, wäre sie nicht legendär. Wieso muss man es dennoch sagen?

Auch „Ikone“ ist ein solches Wort. Wer eine wirkliche Ikone ist, braucht den Zusatz „Ikone“ nicht“. Denn er oder sie ist ja eine Ikone.

Oder: „Der weltberühmte Boxer Muhammad Ali“. „Weltberühmt“ und „Muhammad Ali“ – das ist fast schon ein Pleonasmus.

Haarspalterei? Ein bisschen schon. Trotzdem gehört vor allem „legendär“ zu den inflationär gebrauchten Füllwörtern.

Wer ist heute nicht alles „legendär“! All die Sternchen und Möchte-gern-Promis? Kaum jemand kennt sie. Wer einmal aus der „Gala“ oder der „Bunten“ herausgegrinst oder in „Glanz und Gloria“ zwei Sätzchen probiert hat, ist schon „legendär“.

Vor allem der Boulevard bemächtigt sich dieses Mittels. „Der legendäre Pietro Krüsi.“ Schon mal von Pietro Krüsi gehört? „Die legendäre Schauspielerin Gloria della Valle“. Schon mal von Gloria della Valle gehört?

Die Verwendung des Zusatzes „legendär“ ist ein Trick des Boulevards. Man muss ja rechtfertigen, dass man über ein Sternchen schreibt, das zwar kaum jemand kennt, über das man aber einen Artikel verfasst. Man braucht ja Stoff. So adelt man dieses Sternchen mit „legendär“ und wertet die bisher eher unbekannte Person so auf.

Die Leserinnen und Leser sagen sich dann: Ich kenne zwar Lieschen Müller (alias Gloria della Valle) nicht, aber da sie „legendär“ ist, sollte ich sie wohl kennen.

Natürlich gibt es viele echte Legenden. Doch wer wirklich eine Legende ist, braucht den Zusatz „legendär“ nicht.

Niemandem käme es in den Sinn vom „legendären Goethe“ oder vom „legendären Albert Einstein“ zu sprechen.  Oder vom „legendären Elvis Presley“.

Haarspalterei? Vielleicht.

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Das Labyrinth führt zum Buch

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Die Buchhandlung «Das Labyrinth» wurde im März/April 1984 gegründet und als «Buchhandlung und Galerie» eröffnet. Vieles veränderte sich über die Jahre. Die Galerie endete, doch die Buchhandlung blieb.

Wir finden einen Weg für Sie zum Buch – das Labyrinth hat einen Ausgang. Wir sind eine Sortimentsbuchhandlung im klassischen Sinne geblieben, haben die geisteswissenschaftliche Ausrichtung beibehalten, unsere Sachgebiete entsprechen den Departementen der Philosophisch-Historischen Fakultät.

Hier wohnte und wirkte Erasmus von Rotterdam

Das Haus zur Alten Treu, das seit 1984 die Buchhandlung Labyrinth in ihrem Erdgeschoss beherbergt, hat eine lange Geschichte hinter sich.

Erbaut wurde es nach dem Erdbeben von 1356, wahrscheinlich im Jahre 1362, dessen erster Besitzer der Junker Hug von Drachen war. Das Haus wurde dann von weiteren Junkern, Familien, Handelnden und sogar einem Ritter bewohnt. Von 1521 bis 1529 nannte Erasmus von Rotterdam die Alte Treu sein Zuhause, zuerst als Gast bei dem Buchdrucker Hans Froben, dann, als dieser starb, als Besitzer. In Folge der Reformation verliess Erasmus Basel im Jahre 1529, und das Haus fiel in die Hände der Nachkommen des Buchdruckers Froben.

Nach einigen Besitzerwechseln, wurde Niklaus Bernoulli, wahrscheinlich im Jahre 1678, durch die Heirat mit Margaretha Schönauer, Eigentümer des Hauses. Er war der Vater der beiden Mathematiker Jakob und Johannes, die zusammen mit ihrem Bruder Niklaus, der später das Haus erben sollte, hier aufwuchsen.

Buchempfehlungen von drei Mitarbeitern

Die drei Labyrinth-Mitarbeiter Vera Marti, Julian Dilmi und Cedric Lutz
Die drei Labyrinth-Mitarbeiter Vera Marti, Julian Dilmi und Cedric Lutz

Julian Dilmi empfiehlt

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin.Hanser Berlin 2018

Im Zuge des neuen utopischen Genres nach Dave Eggers beschreibt Julia von Lucadou eine gläserne, glitzernde Stadt, in der alles dank einer totalen, medial funktionierenden Technologie (beinahe) unter Kontrolle ist. Das (Beinahe) holt die Zukunft eng an die Aktualität heran – und den digitalen Totalitarismus an den einzelnen Menschen. Riva ist eine erfolgreiche Hochhausspringerin, die dank der neuen Welt zu Ansehen und Prosperität gelangt ist, die sich aber mit Beginn des Romans aus unerfindlichen Gründen weigert, weiter mitzumachen. Trotz lückenloser medialer Kontrolle ist sie von ihrer Weigerung nicht abzubringen und wird aus der Welt ausgeschlossen und in die Slums verbannt. Rivas Beobachterin aus dem Überwachungsapparat, Hitomi, die Riva zum Weitermachen bringen soll und damit scheitert, erleidet aufgrund dieses Misserfolgs dasselbe Schicksal wie Riva, begibt sich danach in eine Wellness-Klinik für das totale Vergessen. Dort lernt sie all jene Methoden an sich zu verwirklichen, die Bedingung sind, um als Hochhausspringerin überhaupt aufgenommen zu werden. Anstelle von Riva begibt sich nun Hitomi in dieselbe Vertikalität, die sie – weit hinaushebt über die gläserne, glitzernde Welt.

Hanser, 2018, 3. Auflage, 288 Seiten

                                                 ***

Vera Marti empfiehlt

Vincenzo Todisco: Das Eidechsenkind

Das Kind ist ein Geheimnis. In Ripa – zu Hause im Heimatland – ist es glücklich, im Gastland darf es nicht sein. So verbirgt es sich, huscht wie eine Eidechse immer ins nächste Versteck. Durch Mauerritzen und unter Möbeln hervor beobachtet es das Leben draussen: den tyrannischen Chef des Vaters, das biedere Hausmeisterpaar, die spielenden Nachbarskinder. Die Jahre vergehen und das provisorische Leben im Gastland wird zur Wirklichkeit. Die Eltern arbeiten unter unwürdigen Bedingungen bis zum Ende ihrer Kräfte und bis ihre Träume zerstört sind. Derweil wird das Eidechsenkind unsichtbar, versteckt sich in den dunkelsten Ecken des Hauses und seiner selbst. Nur wenigen Nachbarn, die selber Aussenseiter sind, zeigt es sich, und findet in ihnen Freunde und Verbündete. Die Geschichte des Eidechsenkindes, das nicht einmal einen Namen hat, mag erfunden oder ausgeschmückt sein, sein Schicksal als Kollateralschaden der Gesellschaft hat es wohl mit vielen anderen Gastarbeiterkindern der Schweiz geteilt. Umsichtig und wirkmächtig nimmt sich Vincenzo Todiscos neuer Roman dieses dunkeln Kapitels der jüngeren Geschichte an.

Rotpunktverlang, 2018, 216 Seiten

                                                ***

Cedric Lutz empfiehlt

Erich Hackl: Am Seil. Eine Heldengeschichte

Reinhold Duschka versteckt während der Naziherrschaft die Jüdin Regina Steinig und deren Tochter Lucia vier Jahre lang in seiner Werkstatt in Wien. Ein weiterer von Erich Hackl literarisierter Tatsachenbericht über einen Helden, der keiner sein wollte.

Diogenes, 2018, 128 Seiten

 

 

 

 

 

 

Dringender Aufruf der Buchhandlung Labyrinth

Liebe Freunde, Kunden und Interessierte der Buchhandlung Labyrinth,

Seit der Neugründung unserer Buchhandlung im April 2015 generierten wir jedes Jahr mehr Umsatz und dennoch reicht es noch nicht. Um weiter zu bestehen, braucht es einen Bewusstseinsumschwung unter der Basler Leserschaft wie auch unter den Uni-versitätsgelehrten zu konsequent lokalem Denken und Handeln.

Dringend gebraucht: grosszügige Spenden und Kundschaft! Viel mehr Kundschaft, sowie ein reges Interesse und eine Zugewandtheit unserer Buchhandlung gegenüber. Im Klartext: Wir erhalten Spenden, um uns von Minusbeträgen zu befreien und wir erzielen einen höheren Umsatz dank Ihnen als Kunden. - In der bisherigen Lage kann die Buchhandlung Labyrinth nicht weiter existieren. Notwendige technologische Investitio-nen (neue IT, Warenwirtschaftssystem, Webshop) und Kosten für unsere Veranstaltun-gen führten zum Minusbetrag. In Zukunft soll das «Forum Labyrinth» eigenständig und die Buchhandlung mit einem schlanken Kostenmanagement geführt werden.

Das Labyrinth liegt nur einen Steinwurf vom Marktplatz entfernt. Für alle Buchliebhaber und Vielleser unter der Laufkundschaft ist dennoch ein kleiner Umweg erforderlich, um zu uns zu finden, ein Umweg, der sich auf jeden Fall lohnt. Sich von Gewohnheiten zu lösen und der altbekannten Büchereinkaufsmentalität die Stirn zu bieten, ist gefragt. Wir brauchen Sie, deshalb wollen wir Sie und Ihr gesamtes Umfeld, Ihre Freunde, Bekann-ten, Verwandten und Ihre Studenten einladen, in unsere Buchhandlung zu kommen und Bücher zu kaufen. Leseratten aus allen verborgenen Winkeln Basels: «Vereinigt Euch!» Tragen Sie mit Ihrer Liebe und Ihrem Enthusiasmus zum Überleben des Buches bei. Ihre Nachfrage und Ihre Kauflust sichern unser Fortbestehen.

Wir sind eine geisteswissenschaftlich orientierte Buchhandlung und führen auch eine differenzierte Auswahl an Belletristik und Lyrik. Eine spezielle Abteilung für Schweizer Literatur ist ebenso vertreten wie eine Abteilung für englischsprachige Bücher. – Bestel-len können Sie jedes Buch. Auf unserer Homepage erfahren Sie mehr:

http://www.buchhandlung-labyrinth.ch/

Wenn Sie uns helfen und etwas zur Rettung unserer Buchhandlung beitragen möchten, überweisen Sie bitte bis 31. Januar 2019 Ihren gewünschten Betrag (jeder Franken zählt!) auf folgendes Konto:

Bankname und Adresse: Freie Gemeinschaftsbank, 4001 Basel

Konto: 40-963-0, IBAN: CH87 0839 2000 1534 8133 1 Zugunsten von: Buchhandlung Labyrinth GmbH, Nadelberg 17, 4051 Basel Vermerk: Rettung Labyrinth

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«Am liebsten würde ich ein Porträt von Erwin Koch oder Margrit Sprecher über Relotius lesen.»

Ottmar Hitzfeld, Fussballtrainer, geboren heute vor 70 Jahren

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Ein Mensch, der keine Angst hat, hat auch nicht mehr jene Mechanismen, die ihn vor Leichtsinn schützen.

Erneuerbare Energien fordern den fossilen Koloss heraus

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Erneuerbare Energien haben in fast allen wichtigen Ländern der Welt die Erwartungen übertroffen. Obwohl immer noch im Schatten konventioneller Brennstoffe wie Kohle, scheinen ehrgeizige nationale Ziele für die Erzeugung eines beträchtlichen Teils des gesamten Stroms aus sauberen Quellen bis 2030 und die fast vollständige Beseitigung fossiler Brennstoffe aus dem Energiemix bis 2050 immer besser machbar zu sein.

Dekarbonisierung der elektrischen Energie

Es gibt viele Quellen für elektrische Energie. Die Kernkraft ist wegen ihrer Sicherheitsrisiken und der ungelösten langfristigen Probleme bei der Lagerung radioaktiver Abfälle sehr umstritten, hat aber zumindest den Vorteil, dass sie keine Treibhausgase emittiert. Wasserkraft ist die grösste erneuerbare Energiequelle und produziert fast doppelt so viel Strom wie alle anderen erneuerbaren Energien zusammen. In vielen großen Volkswirtschaften ist das Potenzial jedoch längst ausgeschöpft, und die Expansion kann mit dem Anstieg der Nachfrage nicht Schritt halten.

Damit die Unterzeichnerstaaten ihren Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen über den Klimawandel nachkommen können, muss ihre Stromerzeugung bis Mitte des Jahrhunderts zu 80-95% dekarbonisiert werden. Obwohl die Verbrennung fossiler Brennstoffe zur Erzeugung von Strom und Wärme derzeit knapp ein Drittel der globalen CO2-Emissionen ausmacht, können alle energieintensiven Sektoren, einschließlich Industrie, Gebäude und Verkehr, durch Elektrifizierung dekarbonisiert werden. Auch Brennstoffzellen für Fahrzeuge benötigen elektrische Energie, um den von ihnen verbrauchten Wasserstoff herzustellen.

Neue erneurbare Energien: Wind, Sonne, Biomasse, Geothermie

Wie kann dieser zusätzliche Strom erzeugt werden, während gleichzeitig Kohle, Öl und Gas aus dem Energiemix eliminiert werden? Angesichts der Einschränkungen der Kern- und Wasserkraft liegt das größte Potenzial in den sogenannten neuen erneuerbaren Energien. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Technologien, vor allem Wind, Sonne, Biomasse und Geothermie, die alle relativ geringe Auswirkungen auf die Umwelt haben und wenig Kohlendioxid oder andere Treibhausgase produzieren.

Vorläufige Dominanz fossiler Brennstoffe

Obwohl der globale Beitrag der neuen erneuerbaren Energien zur Stromerzeugung von 3,5 % im Jahr 2010 auf 8,4 % im Jahr 2017 gestiegen ist, haben die fossilen Brennstoffe ihre Dominanz beibehalten und ihren relativen Anteil nur um 2,3 % reduziert (von 67 % im Jahr 2010 auf 64,7 % im Jahr 2017). Von den fossilen Brennstoffen ist Kohle der schlimmste Verursacher, der weitaus mehr Treibhausgase emittiert, nicht zu vergessen andere schwerwiegende Schadstoffe, als Öl oder Gas für die gleiche Menge an zurückgeführter Energie. Und doch ist es sehr reichlich vorhanden und in vielen Fällen die billigste Option. Infolgedessen verbrennt die Welt heute viermal so viel Kohle wie in den 1970er Jahren, für etwa den gleichen Prozentsatz des Stromanteils.

Verdoppelung erneuerbarer Energieen in der EU

Dies stellt auf den ersten Blick eine düstere Perspektive für den globalen Energiewandel dar, ausser wenn wir uns die einzelnen Regionen genauer ansehen.

Die EU hat es beispielsweise viel ernster mit der Dekarbonisierung genommen, indem sie ihre durchschnittliche Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien seit 2010 auf über 20 % verdoppelt und fast ebenso viel an fossiler Energie verloren hat, die von 51 % auf 43 % gesunken ist.

Im Januar 2014 verabschiedete der Europäische Rat einen neuen politischen Rahmen für Klima und Energie für den Zeitraum bis 2030, der allgemein als Zwischenetappe für das größere Ziel einer nahezu vollständigen Dekarbonisierung bis 2050 angesehen wird. Die Politik der EU im Jahr 2030 legt das verbindliche Ziel fest, die Treibhausgasemissionen um 40% gegenüber dem Stand von 1990 zu senken. Sie verpflichtet die Mitgliedstaaten auch, mindestens 27% ihrer gesamten Endenergie in allen Sektoren aus erneuerbaren Energien zu erzeugen. Darüber hinaus gibt es ein unverbindliches Ziel zur Verbesserung der Energieeffizienz im Vergleich zu 2008 um 30%.

Deutschland: Ein Drittel des Stroms aus neuen erneuerbaren Energien

Die einzelnen Länder weisen bei diesen Zielen unterschiedliche Ergebnisse auf. Deutschland erzeugt inzwischen mehr als ein Drittel seines Stroms aus neuen erneuerbaren Energien, obwohl es immer noch etwas mehr als die Hälfte seines Stroms aus fossilen Brennstoffen bezieht. Es sieht daher so aus, als würde es sein Ziel einer Treibhausgasreduktion von 40% um bis zu 8% verfehlen. Es wird erwartet, dass Deutschland in der Lage sein wird, seine Verringerung der Kohleabhängigkeit zu beschleunigen, sobald sein Kernkraftabschlussprogramm Ende 2022 abgeschlossen ist.

Großbritannien, Spanien und Italien erzeugen inzwischen rund ein Viertel ihres Stroms aus erneuerbaren Energien, aber sie haben sehr unterschiedliche Erfolge bei der Reduzierung ihrer fossilen Abhängigkeit (Großbritannien -29%, Italien -10% und Spanien -0,5%). Frankreich erzeugt den größten Teil seines Stroms aus Kernenergie, so dass seine fossilen Brennstoffe nur zehn Prozent des Stroms ausmachen, nicht viel mehr als seine erneuerbaren Energien. Die Frage ist, ob sie sich bei der Abschaltung ihrer alternden Atomflotte zu sauberer oder schmutziger Energie verpflichten wird.

Wendepunkt Mitte der 2020er Jahre?

Wenn sich die jüngsten Trends fortsetzen, dürften die nicht-hydroelektrischen erneuerbaren Energien in Europa bis Mitte der 20er Jahre den fossilen Brennstoff für die Stromerzeugung überholen [siehe Grafik]. Dieser Wendepunkt wird ernsthafte Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit von Kohle und Gas haben und viele parallele Industrien wie Elektrofahrzeuge und intelligente Netze hervorbringen, die ebenfalls wichtige Elemente des Energiewandels sind.

Ein wesentliches Merkmal der erneuerbaren Energien ist, dass sie weitaus mehr Menschen beschäftigen, meist lokale, als fossile Brennstoffe oder Kernkraft. Und die Investitionen bleiben in die nationale Infrastruktur, anstatt aus dem Land zu fließen.

USA: Langsamer Ersatz fossiler Energie

Obwohl die Energiewende in Europa bereits weit fortgeschritten ist, ist die Situation bei Energieriesen wie den USA und China ganz anders. Die Vereinigten Staaten sind bekanntlich ambivalent, wenn es darum geht, die Priorität des Klimawandels in ihrer Energiepolitik zu akzeptieren. Derzeit erzeugt sie mehr als 60% ihres Stroms aus fossilen und weniger als 10% aus erneuerbaren Energien. Die Hochrechnung der Fortschritte seit 2010 deuten darauf hin, dass es nicht vor Mitte der vierziger Jahre sein wird, dass neue erneuerbare Energien mehr Strom als fossile Brennstoffe erzeugen werden.

China: Riesiger Kohleverbrauch, grosses Solar- und Windenergie-Programm

Die Bedeutung Chinas, einer boomenden Wirtschaft mit fast einem Fünftel der Weltbevölkerung, für die Zukunft der Weltenergie ist klar: Fast die Hälfte der weltweiten Kohle wird in China verbrannt. Auf der anderen Seite hat China seine fossile Abhängigkeit in seinem Stromsektor seit 2010 um 10% auf 70% reduziert, indem es seine Wasserkraftkapazität auf fast 20% des gesamten Stroms verdoppelt hat. Es verfügt auch über das ambitionierteste Wind- und Solarprogramm der Welt. Allein 2017 hat China mehr Solarstrom in sein Netz eingespeist als die gesamte Solarkapazität der USA, und seine neuen erneuerbaren Energien sind schnell auf 8,1% gestiegen.

Bei den derzeitigen Übergangsgeschwindigkeiten wird China erst gegen Ende der 2040er Jahre mehr Strom aus neuen erneuerbaren Energien als aus fossilen Brennstoffen erzeugen, viel zu spät, um die Verpflichtungen zur Dekarbonisierung von mehr als 80% bis 2050 einzuhalten.

Neue erneuerbare Energien ohne Subventionen?

Die Energiewende geht nun in eine neue Phase über, in der neue erneuerbare Energien als konventionelle Energiequelle betrachtet werden. In den nächsten Jahren werden neue Herausforderungen entstehen, vor allem, wie neue Technologien zur Lösung von Problemen im Zusammenhang mit dem Netzausgleich und der Dezentralisierung der Versorgung beitragen können.

Die Netzparität, der Punkt, an dem erneuerbare Energien auch ohne Subventionen oder andere finanzielle Unterstützung die billigste neue Energiequelle sind, ist nahe. Damit das Pariser Abkommen sein Ziel erreichen kann, die globale Erwärmung in diesem Jahrhundert auf 1,5-2,0°C zu begrenzen, müssen alle diese Teile zusammengebracht werden, um das komplexe Energiepuzzle zu lösen.

Andrew Bone lebt in der Schweiz und beschäftigt sich als freiberuflicher Schriftsteller und Übersetzer mit Energie- und Umweltfragen, seit seinem Abschluss im Jahr 2004 mit einem BSc in Environmental Science und einem MSc in Environmental Management am Imperial College of Science and Technology, London. Weitere Informationen zum Thema findet  man auf der Website von Andrew Bone, www.renewable-media.com

Der Artikel enthält ein Originaldiagramm des Autors, das Daten aus 8 zuverlässigen und querverwiesenen Quellen sammelt:

https://www.bp.com/content/dam/bp/business-sites/en/global/corporate/pdfs/energy-economics/statistical-review/bp-stats-review-2018-full-report.pdf

https://www.ag-energiebilanzen.de/

https://data.worldbank.org/indicator/EG.ELC.FOSL.ZS?end=2015&start=2010

https://www.statista.com/statistics/274036/renewable-energy-consumption-in-france/

https://uk.practicallaw.thomsonreuters.com

https://www.eia.gov/tools/faqs/faq.php?id=427&t=3

https://en.wikipedia.org/wiki/Electricity_sector_in_India

https://data.worldbank.org/indicator/EG.ELC.FOSL.ZS?end=2015&start=2010

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Ueli Maurers helvetischer Zaubertrank

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Laut Medienberichten hat Bundespräsident Ueli Maurer am vergangenen Freitag anlässlich seines offiziellen Antrittsbesuches beim österreichischen Präsidenten erklärt, dass die Schweiz nie in die Europäische Union passen würde. Den Auftrag zu dieser eigenartigen Aussage hat er wohl kaum vom Gesamtbundesrat erhalten. Noch weniger hat Maurer damit für jene Schweizer gesprochen, welche europafreundlich sind, ja den Beitritt der Schweiz zur EU befürworten.

Auch von der Sache her liegt Maurer daneben, da keineswegs Unvereinbarkeit besteht zwischen EU-Prinzipien einerseits und Schweizerischer Verfassung und Politik andererseits. Verschiedene EU-Mitglieder pflegen ihre eigene Version von staatspolitischen Referenden, sind ebenso dezentral aufgebaut wie die Schweiz und haben sich ebenfalls historischer Neutralitätspolitik verschrieben.  

Maurer ist zum zweiten Mal Bundespräsident. Damit sollte er wissen, dass er als schweizerisches Staatsoberhaupt im Ausland sowohl den Bundesrat als auch die gesamte Schweiz vertritt. Mit dem Herausposaunen der SVP-Parteilinie hat er sowohl das Kollegialitätsprinzip verletzt als auch die schweizerische Demokratie beleidigt, welche in ihrer Gesamtheit entscheiden wird, ob unser Land «nie» oder irgendwann doch der EU beitreten wird.

Vielleicht aber war Maurers Geist von einer helvetischen Version der potion magique benebelt, dem Zaubertrank von Astérix und Obélix, welcher bekanntlich unbesiegbar macht. Das würde die muskelprotzende Prahlerei erklären, die Schweiz komme auch ganz ohne Europa zurecht.

Die gallischen Urväter der potion magique allerdings sind längst gute Europäer geworden.  

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Vom Waldtänzchen zum Weltenbrand

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Arthur Miller (1915–2005) schrieb sein mutiges Stück „The Crucible“ (in weit gedachter Übersetzung „Der Tiegel“) mit gerade mal 40 Jahren. Durch das Wissen über Millers eigene Erfahrungen mit McCarthys Kommunistenjagd – Miller war da persönlich hineingeraten und wegen seiner Weigerung, Kommunisten zu denunzieren, mit Gefängnis bestraft worden – hat die US-amerikanische Tragödie um eine Hexenjagd von 1692 im Jahr der Stück-Uraufführung 1953 starke Reaktionen hervorgerufen.

Heute, unter dem Eindruck von Trumps und anderer Despoten Menschenhatz gegen alles Ausländische, flammt die Aktualität dieses Stückes erneut auf. Ob der Teufel, ob Kommunismus, ob Rassismus oder unter den Generalverdacht des Terrorismus gestellte Ausländer: Gejagt wird ein Begriff, eine Ideologie, eine Angst. Auf den Punkt gebracht wird diese hochkochende Hysterie mit einem Satz aus Millers Stück: „Hexerei ist ein unsichtbares Verbrechen.“

Genau genommen geht es in „Hexenjagd“ nicht explizit um Hexen, sondern um Hexerei, um angeblich vom Teufel besessene und seinen Wünschen gehorchende Menschen. Im Raum steht also der Vorwurf, dem Bösen zu dienen, dessen gefrässige Begierde nach neuen Opfern zu befriedigen und ihm diese zuzuführen. Im kleinen Städtchen Salem im US-amerikanischen Massachusetts haben die puritanischen Siedler noch nicht sehr lange zu einer zivilen Gemeinschaft zusammengefunden. Alles, hat man den Eindruck, läuft mühsam ab. Von einer kleinen Clique diktierte, lebensfeindliche Religiosität, Machismo, Missgunst und Besitzgier beherrschen Moral und Sitte in diesem Tiegel der Gottesfürchtigen.

Die Mittel der Machtlosen

Aus dieser verkrusteten Stimmung brechen einige junge Mädchen, teilweise noch Kinder, aus purer Spiellust aus. Im Herbst 1692 treffen sie sich nachts im Wald und tanzen, offenbar teilweise nackt, um ein Feuer. Leider werden sie dabei aber vom Reverend Parris beobachtet, dessen eigene Tochter sich auch unter den Tanzenden befindet. Im Schrecken des Ertapptseins flüchten sich einige der Kinder ins einzige Verhalten, das Machtlosen zur Verfügung steht: Sie brechen zusammen und rühren sich nicht mehr, sodass man um das Leben der Mädchen zu zittern anfängt. Erwacht, schreien sie immer wieder panikartig los, um hochnotpeinlichen Fragen auszuweichen. Und selbstverständlich, so nehmen die untersuchenden Behörden und Geistlichen an, sind sie in diesen Panikattacken vom Teufel besessen.

Als alle Ohnmachten und Schreie ihre Wirkung zu verlieren drohen, greifen die Mädchen, um sich selbst zu retten, zu einem perfiden Mittel: Sie klagen wahllos, wie es scheint, Menschen ihrer Umgebung an, mit dem Teufel zu paktieren. Sie schrecken nicht einmal davor zurück, die allseits geachtete alte Hebamme der Stadt des mehrfachen Babymordes anzuklagen. Erst mit diesen Anklagen, welche in den Lebensnerv jedes Einzelnen zielen, werden sie ernst genommen.  

Verzerrung, Verleumdung, Fakes

Und von diesem Punkt an wird das im ersten Teil etwas langatmige Stück schlagartig spannend und fängt an, unter die Haut zu gehen. Kennen wir das nicht alle aus vielen Beispielen des 20. und 21. Jahrhunderts, die uns näher sind als das Salem von 1692? Verzerrung, Verleumdung, Fakes, Vorverurteilung ohne Ansehen der Person. Arthur Miller ging es in seinen Dramen stets darum, die ethische Grundhaltung des Menschen einzufordern respektive anzuklagen, ohne jedoch die Ambivalenz von Verführungen und Lebenszwängen jedes Einzelnen aus den Augen zu verlieren.

Alle Inszenierungen des Stücks, auch die inzwischen vier Verfilmungen waren bemüht, den Gewissenskonflikt des Einzelnen innerhalb der Zwänge der Gesellschaft – bei Arthur Miller war das noch der American Way of Life – ins Zentrum zu stellen. Dies versuchte in Basel auch der als Londoner Shootingstar gehandelte junge Regisseur Robert Icke, der in Basel seine erste Schweizer Arbeit vorstellte. Aber auch wenn die Bühnenanordnung den Anhörungspulten der McCarthy-Verhöre nachempfunden ist (Bühne Chloe Lamford) und ansonsten auf jegliches störendes Requisiten-Gigi verzichtet wird: Die Inszenierung kommt trotz aller Sorgfalt dem grossen Einsatz des gesamten Ensembles nicht über eine relativ brave Aufführung hinaus.

Bestürzend aktuell

Als hervorstechendstes Stilmittel wird in dieser im zweiten Teil stark vorangetriebenen Inszenierung ungeheuer oft (durcheinander-)gebrüllt, wobei viel Textverständlichkeit verloren geht. Langeweile kommt dabei natürlich nicht auf, doch geht durch solch akustische Reize die erschreckende Unerbittlichkeit des Textes unter. Im letzten Akt lodern ringsum auf der Bühne echte Feuer auf, welche im Schauspielhaus eine fast unerträgliche Hitze verbreiten und den Stimmen der bedauernswerten Schauspielerinnen und Schauspieler gewiss nicht zuträglich sind. Es ist anzunehmen, dass uns damit ein etwas plakativer Hinweis darauf gegeben werden sollte, wie aus einem kleinen Waldfeuerchen mit tanzenden Mädchen eine Art Weltenbrand entstehen kann. Über die künstlerische Umsetzung kann man sich streiten, aber als historischer Hinweis ist das ein bedenkenswerter Ansatz. Aber vielleicht hatte Icke auch nur das Fegefeuer im Kopf und griff damit zu einem explizit katholischen Mythos inmitten eines puritanischen Weltbilds.

Trotz allem: Es lohnt sich, dieses starke, bestürzend aktuelle Stück Literatur über ein auch heute immer wieder aufflammendes Problem im Theater zu erleben. Das Basler Publikum dankte jedenfalls mit starkem, wenn auch nicht gerade frenetischem Applaus.

Nächste Vorstellungen:  17., 21., 25. Januar

Fotos: Sandra Then

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Ein ruhiges Jahr als Erfolg

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Im Gegensatz zu Weihnachten feiern die Griechen Silvester und Neujahr mit vielen Bräuchen und grosser Anteilnahme. Der erste Januar ist der Namenstag des heiligen Basilius, griechisch Agios Vassilis. Dieser ist deshalb die griechische Variante des St. Nikolaus, der die Geschenke bringt und unter den Weihnachtsbaum legt. Die Geschenke werden denn auch in der Silvesternacht kurz nach Mitternacht geöffnet. Da wird auch ein Kuchen gegessen, in den eine Münze eingelassen wurde.

Agios Vassilis

Und das kam gemäss der orthodoxen Tradition so: Basilios lebte im vierten Jahrhundert n. Chr. in der Stadt Caesarea in Kappadokien als Bischof. Zeit seines Lebens setzte er sich für die Armen und Benachteiligten ein. Kappadokien, heute in der Türkei gelegen, stand damals unter römischer Herrschaft. Die Bewohner litten unter der hohen Steuerlast. Der damalige Bischof Basilios wandte sich an die Reichen des Landes und bat sie, ihre armen Mitbürger zu unterstützen. Die Vermögenden gaben dem Bischof Geld und Schmuck, so dass dieser die Steuerschuld aller Bürger begleichen konnte.

Der römische Präfekt war von dieser Tat so gerührt, dass er auf die Steuer verzichtete und dem Bischof die Wertgegenstände und das Geld zurückgab. Weil es nun nicht mehr möglich war, die Gegenstände ihrem jeweiligen Besitzer zuzuordnen, liess Basilios süsse Brote backen, in denen im Rückgriff auf einen sehr alten Brauch die Schmuckstücke und das Geld eingebacken wurden. Diese Kuchen nannte man recht bald „Vassilopita“. Auf diese Weise verteilte er das Geld unter den Armen des Landes und wurde schliesslich zum Gabenbringer der Kinder an seinem Namenstag am Neujahr.

Was hat das mit der heutigen griechischen Realität zu tun – abgesehen von der Bescherung unter dem Baum und der Vassilopita? In den kommenden zehn Monaten stehen Parlaments-, Kommunal- und Europawahlen an. Ministerpräsident Tsipras versucht mit Wahlgeschenken das Elektorat gnädig zu stimmen. Durch konsequenteres Eintreiben der Steuern hat er die Staatskasse stabilisiert. Was fehlt, ist ein heiliger Basilius, der die Reichen zum Steuerzahlen animiert und die Steuerlast der Armen mässigt. Liberalisierungen und Privatisierungen, die Jobs und Wachstum schaffen würden, lassen ebenfalls auf sich warten.

Der Ökonomieprofessor

Es muss irgendwann während der akuten Phase der Krise gewesen sein. Wir waren um die Weihnachtszeit bei einer Familie eingeladen. Das Haus war sehr schön weihnächtlich dekoriert, im Cheminée prasselte ein Feuer und die Gastgeberin servierte hausgemachte griechische Weihnachtsgüezi und einen Cake.

Die Kinder spielten im Obergeschoss, die Erwachsenen diskutierten im Wohnzimmer und irgendwann kam der Ökonomieprofessor nach Hause. Es kam wie es kommen musste: Die Krise wurde auch Thema dieser Kaminfeuerrunde. Wir argumentierten, dass die nach wie vor grassierende Steuerhinterziehung einer finanziellen Konsolidierung im Wege stehen würde, dass diese Konsolidierung keinesfalls nur durch Ausgabenkürzungen hinzubekommen sei und dass sowohl Ausgabenkürzungen wie Steuererhöhungen in Griechenland meist präzis die Falschen treffen, den Mittelstand ruinieren und den wirtschaftlichen Einbruch verstärken. Wir fügten hinzu, dass insbesondere Reiche und Freiberufler hier bisher ungenügend bis gar nicht an die Kandare genommen wurden.

Der Professor sagte, dass Ausgabenkürzungen, eine Verschlankung des Staates und Privatisierungen trotzdem unentbehrlich seien, dass aber einnahmenseitig eine Konsolidierung nicht hinzubekommen sei, wenn man gezielt auf die Reichen und die Freiberufler losgeht.

Und so ist es mit dem Amtsantritt der notabene der radikalen Linken zugehörigen Regierung Tsipras gekommen: Es handelt sich um die erste Regierung seit Wiederherstellung der Demokratie, die ernsthaft gegen die Steuerhinterziehung vorgeht. Und sie tut das geschickt: Durch die Kapitalverkehrskontrollen ist es seit fast vier Jahren nur in sehr beschränktem Umfang möglich, Bargeld abzuheben. Mit Karten kann man hingegen unbeschränkt zahlen. Das zwang viele Leistungserbringer dazu, erst Kartenleser anzuschaffen. Und damit können solche Transaktionen ohne weiteres besteuert werden. Griechenland wandelt sich von einer fast reinen Bargeldwirtschaft in ein Land, in dem Karten ebenfalls ein gängiges Zahlungsmittel sind. So ist es gelungen – zum dritten Mal in Folge – 2018 einen Primärüberschuss (Überschuss abzüglich Zinsen und Amortisationen) zu erwirtschaften, der weit über dem mit den Geldgebern festgelegten Ziel liegt. Definitive Zahlen liegen zwar noch nicht vor, aber Hellas mausert sich damit langsam aber sicher vom Prügelknaben zum Musterschüler.

Was fehlt?

Das Wirtschaftswachstum – immerhin: Griechenland wächst wieder – ist mit 2,2 Prozent (BIP-Zahlen bis zum 3. Quartal 2018 auf Jahresbasis gerechnet) zu niedrig, damit der riesige Einbruch der Krise messbar kompensiert werden könnte. Die Löhne sinken und die Reichen und Freiberufler finden nach wie vor Möglichkeiten, sich dem Steuervogt zu entziehen. Ein Leistungserbringer im Gesundheitswesen sagte uns über das Neujahr, dass es für ihn nur einen Weg gäbe, in Griechenland auf einen grünen Zweig zu kommen: Keine Quittungen ausstellen. Das mag aus seiner Optik stimmen. Auch bei einem Arztbesuch ist es für viele Griechinnen und Griechen verlockend, die Frau oder den Mann im weissen Kittel bar zu bezahlen, dafür mit einem etwas kleineren Betrag. Das Risiko, erwischt zu werden, ist verschwindend gering.

Obwohl Griechenland zu einer prekären Stabilisierung gefunden hat, vergisst der Professor, dass die Akzeptanz harter Massnahmen nicht zuletzt davon abhängt, dass niemand ausgenommen wird. Und hier hapert es gewaltig. Die gleichen gesellschaftlichen Gruppen, die unter Lohn- und Rentenkürzungen litten und in die Arbeitslosigkeit getrieben wurden, erhalten nun auch die Rechnung vom Steuervogt präsentiert. Wie lange hält das eine Gesellschaft aus? Agios Vassilis sollte echt nicht nur am Neujahr die Geschenke verteilen!

Stabilität gefährdet

Die Stabilität Griechenlands ist aber nicht nur beim gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet. Rein finanzwirtschaftlich kann man nur von einer prekären Stabilisierung sprechen. Die Geldgeber haben zwar die Zinsen für die griechischen Schulden sehr stark gesenkt. Der Rucksack muss nicht mehr bei jedem Schritt getragen werden, aber er ist immer noch gleich schwer. Griechenland hat sich zu hohen Überschüssen bis ins Jahr 2060 verpflichtet – musste sich verpflichten. Wollten die Geldgeber an dem kleinen Land ein Exempel statuieren, ein abschreckendes Beispiel geben nach dem Motto: Seht her, was passiert, wenn ihr nicht bezahlt?

Dass Schulden in diesem Ausmass nicht amortisiert werden können, habe ich hier schon oft nachgewiesen. Bei der Beendigung der dritten Darlehensvereinbarung im August erhielten die Griechen einen Puffer von ca. EUR 20 Mrd. Dieses Geld – Gerüchte in Athen sagen, es sei schon angeknabbert worden – ist für den Fall gedacht, dass die Märkte nicht gnädig sind und die Griechen die am Markt verlangten Risikoaufschläge nicht tragen können. Fliegt uns Italien um die Ohren oder zwingen die Gelbwesten Frankreich in die Knie oder trifft sonst ein externer Schock Griechenland (wie 2008 die hohen Ölpreise) – was wir nicht hoffen – dann hat Europa nicht nur ein Problem, gegenüber dem die Griechenlandkrise nur ein Sturm im Wasserglas war, sondern Hellas wird sehr schnell wieder Pleite sein.

Oder darf es ein innenpolitisches Ereignis sein? Eine Regierungskrise aufgrund von politischer Unsicherheit? Immerhin stehen, wie eingangs erwähnt, in diesem Jahr drei reguläre Urnengänge an. Und da kann viel passieren. Gerät aber Griechenland wieder in eine Situation, in der das Land seine Schulden nicht begleichen kann, dann wird irgendwann die Einsicht auch in Berlin und Brüssel nicht zu umgehen sein, dass Hellas nur durch einen grosszügigen Schuldenschnitt wieder auf die Beine kommt – eine Einsicht, die schon im März 2010, bei der ersten Darlehensvereinbarung, fällig gewesen wäre.

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Marlene Dietrich

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Die Männer beteuern immer, sie lieben die innere Schönheit der Frau – komischerweise gucken sie aber ganz woanders hin.

Sinngemäss oder wortwörtlich?

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Wer schriftliche Produktionen als Erzählungen oder Romane unter die Leute bringt, kann es sich erlauben, Fakten zu fiktionalisieren, Erfindungen als Tatsachen auszugeben. Leserinnen und Leser wissen, dass sie sich mit artistischen Spielen beschäftigen – und oft genug gehört das Mischen von Fakt und Fiktion, das ihnen geboten wird, zu den Hauptanreizen des literarischen Spiels.

Anders ist es beim Journalismus. Da geht das geneigte Publikum immer noch davon aus, dass das, was es liest, wahr ist, der Realität entspricht, stimmt. Auch wenn es im postmodernen Journalismus Mode geworden ist, an der Realität als solcher zu zweifeln, „alternative Fakten“ neben gesicherten gelten zu lassen, Geschichten zu erzählen, statt die Wirklichkeit zu beschreiben, stimmig zu formulieren, statt dafür besorgt zu sein, dass das Geschriebene stimmt. Selbst wenn das so ist, möchte man der Zeitung, die man liest, vertrauen und also davon ausgehen können dass das, was geschrieben steht, wahr ist.

Der österreichische Autor Robert Menasse kann beides. Romane schreiben: „Die Hauptstadt“ ist einer der besten, die in letzter Zeit im deutschsprachigen Raum erschienen sind. Der überzeugte Europäer äussert sich gerne in Zeitungen und Zeitschriften und  ist dann – auch – ein Journalist. Als solchem wies man ihm nach, dass er mehrmals einem der Gründerväter der EU, Walter Hallstein, Zitate in den Mund gelegt hat, die dieser so nicht gesagt hatte.

Menasse  hat sprachliche Fakten ein bisschen hergerichtet, damit sie ihm in den politischen Kram passen. Als die Sache aufflog, meinte er in einer ersten Stellungnahme, sinngemäss sei er ganz nahe bei Hallstein geblieben, nur im „Wortwörtlichen“ sei er abgewichen. Inzwischen ist er von dieser Haltung ein Stück weit abgerückt. Dass sich der  Journalist im Gegensatz zum Schriftsteller an Fakten halten muss, scheint ihm neuerdings einzuleuchten.

Kann einem im Ernst ein so begabter und bewusster Sprachmensch wie Menasse weismachen wollen, dass es beim Schreiben weniger auf das Wortwörtliche als auf das Sinngemässe ankomme? Gehört nicht die Lust und die Arbeit am Wort, am richtigen Wort zu den Grundvoraussetzungen literarischen wie journalistischen Schaffens? Zitate sind eine Art von Fakten. Werden sie mir in einem Zeitungsartikel serviert, gehe ich davon aus, dass sie stimmen. Wortwörtlich natürlich, nicht sinngemäss.

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Erschütternde Geschichte der Lynchjustiz

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Eingebracht hatte damals diesen Gesetzestext der republikanische Abgeordnete im Repräsentantenhaus aus Missouri, Leonidas C. Dyer.  Sie wurde im Senat abgelehnt.

„Ultimativer Ausdruck des Rassismus“

Über 200 derartige Gesetzesvorschläge waren in den letzten hundert Jahren im Kongress zu Fall gebracht worden. Noch 2005, als der Senat eine Resolution verabschiedete, in der er sich für seine Unfähigkeit entschuldigte, ein Gesetz gegen Lynchjustiz zu verabschieden, hielten Senatoren einem Bericht der „Washington Post“ zufolge „leidenschaftliche Reden darüber, wie Lynchen geholfen habe, die Gefahr (durch Farbige) für weisse Frauen zu kontrollieren und die Rassen getrennt zu halten.“ 

Laut CNN definiert das neue Gesetz Lynchen oder das Töten ohne gesetzliche Autorität durch aufgebrachte Menschen als „ultimativen Ausdruck des Rassismus in den Vereinigten Staaten“ und führt es auf der Liste von Hassverbrechen. „Lynchjustiz war ein unnötiger und abscheulicher Akt der Gewalt, angetrieben von Rassismus“, sagte die kalifornische Senatorin Kamala Harris nach der Verabschiedung des Gesetzes. „Diese Tatsache müssen wir eingestehen, so dass wir sie nicht wiederholen.“

Ihr Kollege aus New Jersey, Cory Booker, räumte ein, dass das Gesetz „den Schaden, den Schrecken und die Gewalt, die begangen wurden, nicht ungeschehen mache, noch die Leben zurückbringe, die brutal genommen wurden. Es wird aber die Fehler in unserer Geschichte anerkennen. Es wird jener gedenken, die so brutal getötet wurden. Und es wird ein Vermächtnis hinterlassen, auf das zukünftige Generationen zurückblicken können – dass wir an diesem Tag das Richtige taten.“ 

Lynchjustiz – ein Jahrmarktsvergnügen

Postkarte von einer Lynchjustiz in Duluth, Minnesota, 1920 (Bild Public Domain)
Postkarte von einer Lynchjustiz in Duluth, Minnesota, 1920 (Bild Public Domain)

„Zwischen 1877 und 1950 wurden 4075 Afroamerikaner in zwölf Südstaaten von aufgebrachten Menschenmengen gehängt“, zählte die „Equal Justice Initiative“, eine private Hiilfsorganisation für mittellose Angeklagte in Alabama. Andere Institutionen nennen 4745 Opfer von Lynchjustiz in den Jahren zwischen 1882 und 1964. Die Zeitung „The Nation“ berichtete von 4732 Lynchopfern zwischen 1882 und 1951, „wenngleich vor und nach dieser Zeit sicherlich noch zahlreiche undokumentierte (derartige Morde) verübt wurden“.

Das Tuskegee Institute in Alabama (eine von Schwarzen gegründete Universität) zählte 4743 Menschen, die zwischen 1882 und 1968 in den USA gelyncht wurden, darunter 1297 Weisse. Das Tuskegee Institute, das die vollständigsten  und umfassendsten Untersuchungen zu dem Thema durchgeführt hat, kategorisiert die Opfer nur in schwarz und weiss, wobei mit weiss meist Mexikaner, Chinesen und Indianer gemeint sind. Die Autoren der Studie „A Festival of Violence: An Analysis of  Southern Lynchings, 1982–1930“ kamen zum Schluss, dass „in diesen Jahren durchschnittlich in jeder Woche ein schwarzer Mann, eine schwarze Frau oder ein schwarzes Kind von einem weissen Mob gelyncht wurde“. Das neue Gesetz merkt an, dass „99 Prozent aller Täter von Strafe verschont blieben“.

Die Ordnungshüter taten nichts dagegen

Oftmals war der Gehängte zuvor auch gefoltert worden – im Beisein der Menge. Dabei ging es zu wie auf dem Jahrmarkt, Fotografen schossen Bilder von dem Spektakel, die später oft als Postkarten verkauft wurden, Schaulustige posierten lächelnd für Fotografen. Gelegentlich wurden den Toten anschliessend sogar Körperteile abgeschnitten und als Souvenirs verkauft. Kein Ordnungshüter, Polizist, Sheriff, Marshall oder Richter griff ein. Sie taten nichts, um die Opfer zu schützen oder einem korrekten Verfahren zuzuführen.

Im Gegenteil, beteiligten sie sich selbst an den Mordorgien. So etwa im Mai 1927, als  ein aufgebrachter weisser Mob in Little Rock, Arkansas, einen schwarzen Mann, namens John Carter an einem Telegraphenmast aufhängte, seinen Körper anschliessend durch die Hauptstrasse zog und im Zentrum des von Schwarzen bewohnten Stadtviertels mit Benzin übergoss und anzündete. Rund 5000 Weisse beteiligten sich an dem Treiben. Die Deputy-Sheriffs unternahmen nicht den geringsten Versuch, den Mob zurückzuhalten. Die Polizei leitete den Verkehr einfach um. Am nächsten Tag wurden in den Strassen von Little Rock Fotos vom Leichnam des Ermordeten für 15 Cent/Stück angeboten. Der Bericht des Gerichtsmediziners hielt fest, Carter sei „von Unbekannten in einem Mob“ getötet worden. Niemand musste sich jemals für den Mord vor Gericht verantworten. 

Rassenunterschiede vs. Klassenunterschiede

1910 stürmte ein Mob das Gerichtsgebäude in Dallas, legte einem schwarzen Mann, der beschuldigt wurde, sich an einem drei Jahre alten weissen Mädchen sexuell vergangen zu haben, ein Seil um den Hals und warf das andere Ende aus dem Fenster. Draussen zerrte ein Mob den Mann aus dem Saal und hängte ihn auf. 1922 wurde der 25 Jahre alte George Gay ebenfalls in Dallas an einem Baum aufgehängt und von Hunderten von Pistolenkugeln durchlöchert. Im selben Jahr beschuldigte ein anderer Mob in Dallas drei schwarze Männer, eine weisse Frau getötet zu haben. Unter den Blicken von Hunderten Limonade trinkender Zuschauer wurden sie kastriert, geschlagen, an einen Pflug gebunden, mit Benzin übergossen und angezündet.

„Die meisten Angehörigen der weissen Ober- und Mittelklasse in den Südstaaten und die meisten weissen Politiker billigten Lynchjustiz als eine Art, die Rassenhierarchie zu erhalten“, schrieb „The Nation“ kürzlich. Selbst wenn gleiche Interessen auf dem Spiel standen, fanden schwarz und weiss nicht zusammen.

Um die Jahrhundertwende, als Banken und Eisenbahnen Kleinbauern die kargen Felder abpressen wollten, versuchte eine Bauernvereinigung weisse und schwarze Arbeiter und Pächter in einer Koalition zu mobilisieren, um ein Gegengewicht zu den übermächtigen Gegnern zu schaffen. Doch rassistische Vorbehalte und Gewalt verhinderten eine Allianz zwischen Weiss und Schwarz. Die besitzlosen Weissen zogen politische Allianzen entlang der Rassenunterschiede jenen der Klassenunterschiede vor.

„Die Aristokratie des Südens gab dem weissen Mann Jim Crow“, erklärte Martin Luther King in seiner Rede am Ende seines legendären Marsches von Selma nach Montgomery im März 1965. „Und als sein geschrumpfter Magen nach Essen schrie, das seine leeren Taschen nicht liefern konnten, ass er Jim Crow (1), einen psychologischen Vogel, der ihm erzählte, dass er – wie schlecht es ihm auch ging – als weisser Mann immerhin besser als der schwarze Mann war. Und als sein unterernährtes Kind nach Dingen rief, die sein niederes Einkommen nicht liefern konnte, zeigte er ihm die Jim Crow-Zeichen an den Bussen und in den Geschäften, auf den Strassen und in den öffentlichen Gebäuden. Und seine Kinder lernten auch, sich von Jim Crow zu ernähren.“

Im Wahlkampf von öffentlicher Erhängung geschwärmt

Heute ist Lynchjustiz selten. Der letzte Fall wurde 1981 beobachtet, als in Mobile, Alabama, einige Mitglieder des Ku-Klux-Klans den jungen Afroamerikaner, Michael Donalds, prügelten, töteten und an einem Baum aufhängten. Und „der tragische Tod des 17-jährigen Trayvon Martin 2012 und des 18 Jahre alten Michael Brown 2014 riefen der Nation erneut das fortgesetzte Töten von unbewaffneten Schwarzen durch Bürger und Gesetzteshüter ins Gedächtnis“, schrieb die University of Cambridge, MA, im Februar 2016 auf ihrem Blog: „Es ist traurig, aber das Erschiessen unbewaffneter Schwarzer scheint trotz zahlreicher landesweiter Proteste, Rathaussitzungen und Versprechen von Politikern und Gesetzeshütern, sich dieses Problems anzunehmen, unvermindert weiterzugehen.“

Erst 2016 berichtete die „Los Angeles Times“, vier weisse High-School-Studenten in Missouri hätten einem schwarzen Kommilitonen eine Schlinge um den Hals gelegt und „zerrten daran“. Im selben Jahr reichte die Familie eines zwölfjährigen schwarzen Mädchens Klage gegen eine Privatschule in Texas ein, weil ihr drei weisse Klassenkameraden einen Strick um den Hals gelegt hatten und sie zu Boden zogen. Und letztes Jahr fand das Wachpersonal Einrichtungen des Smithsonian Instituts, von denen Schlingen herunterhingen.

Auch Senatorin Cindy Hyde-Smith, eine Republikanerin aus Mississippi, die den Vorsitz im Senat führte, als das Gesetz gegen Lynchjustiz debattiert wurde, wurde bei rassistischen Äusserungen von einer Fernsehkamera erwischt. Im Wahlkampf für ihre Wiederwahl im November lobte sie einen Unterstützer mit den Worten: „Wenn er mich zu einer öffentlichen Erhängung einladen würde, stünde ich in der ersten Reihe.“

[1] Jim Crow laws waren staatliche und lokale Gesetze, mit denen die Rassentrennung durchgesetzt wurde.

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