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So klingt Luzern

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„Mein Vater war Ingenieur, meine Mutter Pianistin. Ich wuchs also mit Technologie auf und mit Musik“. Irgendwie passt beides zu Tod Machover. Bald 62 Jahre ist er alt, geboren in New York und mittlerweile gilt er – laut „Los Angeles Times“ – als der „verkabeltste Komponist“. Und dies bezieht sich auf seinen Hang zur Elektronik.

Seit einem Jahr pendelt er aber zwischen Boston und Luzern hin und her. In Boston ist er am MIT Media Lab tätig. Das ist eine Fakultät des renommierten Massachusetts Institute of Technology. Dort entwickelt er auch elektronische Instrumente. Und in Luzern ist er dieses Jahr „composer-in-residence“ und hat vor allem eine „Sinfonie für Luzern“ komponiert, die am 5. September uraufgeführt wird.

Tod Machover ©: Priska Ketterer, LUCERNE FESTIVAL
Tod Machover ©: Priska Ketterer, LUCERNE FESTIVAL

In Luzern ist er also fast schon heimisch. Geradezu liebevoll schweift sein Blick vom dritten Stock des KKL über Schiffe, den See, die Reuss und die Altstadt. Er ist zwar schwarz gekleidet, sieht aber alles andere als trist aus: die Wuschelfrisur passt zum fröhlichen Gesichtsausdruck, er schliesst die Partitur, die vor ihm liegt und widmet sich ganz entspannt der Gesprächspartnerin. So, als hätte er jede Menge Zeit. Total sympathisch, dieser Tod Machover, denkt man gleich zu Beginn. Und er schwärmt von der Stadt: „Ich liebe Luzern!“ Damit ist er natürlich nicht der einzige. Aber er ist vielleicht der einzige, der jetzt mit seiner  Sinfonie sozusagen eine Hymne auf Luzern anstimmt. Ein Jahr lang hat Tod Machover genau hingehört, um sich ein akustisches Bild von Luzern zu machen. Und er hat Luzerns Bevölkerung aufgerufen, ihm Töne zu schicken, Töne von „ihrem Luzern“.

Und? Wie klingt denn nun Luzern in seinen Ohren?

„Ein Teil Luzerns klingt leise, wie Kammermusik. Da sehen wir die Altstadt, es gibt wenig Autos, die Gebäude stehen eng beieinander, man hört Schritte, jemand redet in der Ferne.  Das war mein erster Eindruck.“ Dann kam Machover regelmässig wieder nach Luzern und weitete seine Eindrücke aus. „Ich habe im Hotel Wilden Mann gewohnt und bin jeden Morgen die Reuss entlang gelaufen. Der Klang verändert sich ständig. Mal fliesst das Wasser ganz still, dann kommt man zum Wehr und es tost. Ueberall in der Stadt ist Wasser. Ueberall sind Brunnen. Dieses Geräusch in allen Varianten herrscht vor.“

Klangfetzen aller Art

Gleichzeitig sammelte Machover aber auch die Klangfetzen, die er während des Jahres zugeschickt bekommen hat. Manche waren nur ein paar Sekunden lang, aber Machover hörte sie sich alle an. „Da gab es natürlich viele Töne aus der Stadt. Aber manchmal waren es auch Töne aus dem Haushalt, der Küche, Leute, die sich miteinander unterhalten, singende Kinder, Trommelklänge. Jemand übt auf der Gitarre. Oder aus dem Arbeitsumfeld, also eine Werkstatt, eine Schmiede. Auch Undergroundmusik, das klang wie aus dem East Village in Manhattan! Aber nur ein einziges Auto-Geräusch habe ich bekommen.“

Machover hat auch mit Jazz-Studenten der Luzerner Musik-Hochschule an Workshops zusammengearbeitet. Herausgekommen ist eine Mischung aus klassischer Musik und experimenteller Improvisation. Jodler gehören ebenso dazu wie Guggenmusik. „Ich habe eine Guggenmusik von der ersten Probe bis zur Fasnacht begleitet und bin extra für die Fasnacht zwei Tage aus Boston nach Luzern gekommen. Da trifft so eine Art Underground-Energie auf Leidenschaft – und explodiert! Wenn man das nie erlebt hat, kann man es sich nicht vorstellen. Das ist ganz anders als der Mardi Gras in New Orleans oder der Carneval in Rio. In Luzern ist es individuell und nicht zentralgesteuert.“

Von Toronto über Edinburgh nach Luzern

Die Luzerner Sinfonie ist Tod Machovers vierte Städte-Sinfonie. Die erste hat er über Toronto geschrieben. „Toronto ist das pure Gegenteil von Luzern. Eine weitverzweigte Vier-Millionen-Stadt mit völlig anderem Sound. Nummer zwei war Edinburgh. Auch eine kleinere Touristen-Stadt, die ebenfalls ein Festival hat, wie Luzern. In Luzern liegen die Hügel ringsum, in Edinburgh ist der Hügel mittendrin. Dort haben die Leute die dunkle Seite der Stadt dokumentiert und auch darüber gesprochen. Am Fusse des Hügels haben früher die Armen und Kriminellen gelebt. R.L. Stevenson hat hier ‚Dr. Jekyll  und Mr. Hyde‘ geschrieben, Joanne K. Rowling  ‚Harry Potter‘  und Sigmund Freud sprach davon, dass es hinter den Türen von Edinburgh mehr Neurosen gibt als in Wien…  Für mich war es interessant, festzustellen, dass sich der erste positive Eindruck der Stadt immer mehr verdunkelte. In Luzern war es völlig anders. Je mehr ich mich mit der Stadt beschäftigt habe, desto schöner wurde sie.“

40 bis 45 Stunden Tonmaterial dürften in Luzern zusammengekommen sein, schätzt Machover. „Das ist mehr, als ich erwartet hatte. Im Mai haben meine Studenten das Tonmaterial katalogisiert. Die meisten Geräusche haben wir über Handy und Internet von Leuten bekommen, von denen wir keine Ahnung haben, wie sie aussehen und was sie machen.“

Liebe zur alten Musik

Dank seiner intensiven Beschäftigung mit dem soundtrack der Stadt hat Machover jetzt so eine Art akustischen Stadtplan im Kopf. Und den wird das „Lucerne Festival Academy Orchestra“ nun  ausbreiten. Vielleicht werden sich manche Luzerner wundern, wie ihre Stadt dann klingt, wenn man einmal mit offenen Ohren durch die Strassen läuft, statt sich über Kopfhörer mit Musik berieseln zu lassen, um möglichst sämtliche Alltagsgeräusche wegzufiltern.

Durch die Stadt würde Tod Machover nie mit Ohrenstöpseln spazieren. Mit einer Ausnahme. „Ganz früh morgens, wenn ich meine Übungen mache und auch laufe, dann höre ich Musik dazu.“ Elektronische, moderne? „Nein, ich höre ausschliesslich englische Vokal-Musik aus der Tudor- und Elisabethanischen Zeit. Ich liebe diese Musik! Und ich entdecke immer wieder Neues darin.“ Also Musik aus der Zeit vor 500 Jahren als Wachmacher für einen Musik- und Elektronik-Tüftler, den man als Daniel Düsentrieb der klassischen Musik bezeichnen könnte. Erstaunlich.

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Turboförderung

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Was auf einen ersten Blick besticht, liefert bei näherer Betrachtung Diskussionsstoff. Es geht um die dem Delsberger Künstler Niklaus Manuel Güdel gewidmete Monografie "The Memory of Silence". Sie erschien kürzlich im renommierten Hatje Cantz Verlag, ist dreisprachig - englisch, französisch, deutsch - und bietet eine Fülle erläuternder Expertentexte und farbiger Abbildungen. Hinter dem aufwändig edierten Werk steht u. a. "la République et le Canton du Jura". Für die Präsentation bat das "Musée Jurassien d'Art et d'Histoire" zu einer Medienkonferenz samt "séance de dédicaces". So weit, so gut.

Patio III, 2014-2015. Öl und Kohlestift auf Leinwand, 100 x 140 cm. © Courtesy Niklaus Manuel Güdel/Foto: Pierre Montavon
Patio III, 2014-2015. Öl und Kohlestift auf Leinwand, 100 x 140 cm. © Courtesy Niklaus Manuel Güdel/Foto: Pierre Montavon

Förderung mit Seltenheitswert

Eine üppige, von offizieller Seite geförderte und von einem Museum propagierte Monografie ist für jeden Künstler eine Seltenheit und steigert das Ansehen, die Bekanntheit und die Chance des leichteren Wegs zu Museen und Galerien.

Das alles wäre Anlass, von einem nachahmenswerten Beispiel fürs willensstark koordinierte Kunstengagement zu sprechen. Zumal Format und Gewicht der Publikation keinen Zweifel gestatten, dass es sich um eine kreative Persönlichkeit von Format und Gewicht handelt.

Beachtliche Karriere

Leider irritiert der Auftritt. Der Künstler, als schweizerisch-costa-ricanischer Doppelbürger in Delsberg geboren, studierte mit universitärem Abschluss Französische Literatur und Kunstgeschichte, stellte in der Romandie und im Bernbiet einige Mal aus, gewann in Spanien einen Preis und weiss sich in einigen öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten.

Das ist eine beachtliche, doch keine ungewöhnliche Künstler-Biografie. Auch deshalb, weil die Werke mit ihrer Gefälligkeit zwar in die Augen springen, aber das Steigerungspotenzial hin zur einzigartigen Qualität noch verbergen. Das ist bei einem erst 27jährigen Künstler keine schmälernde Bemerkung.

Höhe als Fallhöhe

Ob sich aber bei einem Frühwerk eine Publikation rechtfertigt, die einem herausragenden Spätwerk zur Ehre gereichen würde, ist eine berechtigte Frage. Die Problematik bringt die Kunsthistorikerin Diane Antille im Buch auf den Punkt: "Über ein in Entstehung begriffenes, sich subtil Freiheiten nehmendes Werk zu sprechen, das sich erst noch bewähren muss, ist kein einfaches Unterfangen. Die Gefahr der 'hagiografischen Klippe' - das naheliegende Risiko, eine Heiligenvita daraus zu machen - kann dazu führen, dass man das Werk steril interpretiert."

Das ist höflich gesagt. "The Memory of Silence" kracht in der Tat gegen die "'hagiografische Klippe* und gefährdet einen Künstler. Er beansprucht eine Höhe, die sich als Fallhöhe rächen könnte. Der forsche Sturm auf den Kunstmarkt nutzt dessen Schwäche, mehr dem Schein als dem Sein zu vertrauen.

Marketing-Kollektiv

Die hier erörterte Monografie zeigt anschaulich, wie sich Kunsthistoriker, Kunstkritiker und Museumsdirektoren als Marketing-Kollektiv ins Zeug legen, als wäre dies die vornehmste Schuldigkeit gegenüber einer kunstinteressierten Öffentlichkeit, die zwischen den Superlativen der Agenten und Galerien mühsam genug nach verlässlicher Orientierung sucht.

An der publizistisch opulenten Frühförderung beteiligten sich finanziell namhafte Institutionen wie die Loterie Romande, die Pro Helvetia und die Ernst-Göhner-Stiftung. Das dürfte bei anderen jungen Künstlerinnen und Künstlern den Anspruch auf Gleichbehandlung wecken. Wenn aber Prachtbände wie Studiendiplome zur Startausrüstung gehören, dann verlören sie ihren Anerkennung stiftenden Wert und rissen Löcher in die Unterstützungskassen.

Trend zu blendenden Events

Das berührt jene wenig, die sich als reife Wunderkinder mit enormen Steigerungsfähigkeiten auszuweisen verstehen, welche Selbstvermarktungs-Strategie an den Kunsthochschulen ja vermittelt wird.

Berühren müsste es indes die bedeutenden Förderinstitutionen und sie für die Frage sensibilisieren, ob sie den Trend des Kunstschaffens zu blendenden Events beschleunigen oder sich davon, wenn er nicht zu stoppen ist, fernhalten wollen.

Niklaus Manuel Güdel nutzte für sich die Gunst der Umstände. Unternehmerischer Mut zeichnet ihn aus. Das Risiko trägt er letztlich alleine. Mit der nachhaltigen Solidarität seiner Förderer kann er nicht rechnen.

"Niklaus Manuel Güdel - The Memory of Silence", mehrere Autoren, 178 Abbildungen, 244 Seiten, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2015, ISBN 978-3-7757-4012-8

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Mark Twain

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Lasst uns dankbar sein, dass es Narren gibt. Ohne sie könnten wir anderen keinen Erfolg haben.

Impulse für zukunftsgerichtete Politik

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Einerseits kritisieren bürgerliche Kreise die bundesrätliche Energiestrategie vehement, insbesondere die darin vorgesehenen Lenkungsabgaben. Andererseits mahnt der ETH-Professor und Unternehmer Anton Gunzinger, diese Strategie sei viel zu zahm. Für eine sachgerechte Beurteilung sollte auch die europa- und weltweite Diskussion um die Energiezukunft verfolgt werden.

Unergiebige Diskussion in der Schweiz

Wenn im September 2015 die Energiestrategie 2050 im Ständerat behandelt wird, ist abzusehen, dass es Kritik von allen Seiten hageln wird. Fördermassnahmen werden von der FDP und SVP kategorisch abgelehnt. SP und CVP kritisieren Details des Lenkungssystems.  

Dieses politische Hickhack verspricht nichts Gutes. Die unterschiedlichen Profilierungsversuche bleiben primär in der Gegenwart stecken. Was wissen diese Protagonisten darüber, welche drastischen Veränderungen in den nächsten Jahren die Energiewelt durchschütteln werden? Und realisieren sie, dass sie nicht wissen können, was sie nicht wissen?

Derweil weist der visionäre Elektroingenieur Gunzinger in seinem Buch „Kraftwerk Schweiz – Plädoyer für eine Energiewende mit Zukunft“ den Weg, wie unser Land ohne Atomkraft, dafür mit erneuerbarer Energie bereits 2035 das fossile Zeitalter hinter sich lassen kann.

Stromkonzerne in der Kritik

Unsere drei grossen Stromkonzerne Axpo, Alpiq und BKW haben die Entwicklung auf dem Strommarkt verschlafen. Jetzt fahren sie  jährlich grosse Verluste ein (Axpo 886 Mio. Franken im ersten Semester 2015), primär weil die happigen Abschreibungen auf früheren Investitionen (Atomkraft- und Pumpspeicherwerke) das Geschäft belasten. Solche Wertberichtigungen gehen zu Lasten der öffentlichen Hand, also der Steuerzahler.  

Pikante Details: Der ehemalige Konzernchef der Axpo, Heinz Karrer, ist inzwischen Präsident von Economiesuisse. Dieser Dachverband bekämpft jetzt bekanntlich die bundesrätlichen Vorschläge. Auch die ehemaligen Chefs von Alpiq (Hans Schweickardt) und den BKW (Kurt Rohrbach) haben ihre sinkenden Schiffe verlassen.

Als Befürworter der bundesrätlichen Energievorschläge präsentieren sich seit kurzem aber auch Wirtschaftsverbände und Firmen unter dem Namen „Schweizer Wirtschaft für die Energiestrategie 2050“. Die Gruppierung betont die grossen wirtschaftlichen Chancen dieses Vorhabens und hebt sich bewusst vom Wirtschaftsdachverband Economiesuisse ab.

Spannende Energiezukunft

An dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf die Welt ausserhalb der Schweiz. Der Economist widmet diesem Thema seit vielen Monaten grosse Aufmerksamkeit. Die nachfolgend geschilderten Analysen, Lösungsansätze, Erfindungen stammen – soweit sie sich auf das Ausland beziehen –  aus diesem Wirtschaftsmagazin, dem weltweit mit grossem Respekt begegnet wird.

Der Fokus ist klar: Dank besserer Technologie und verbesserter Effizienz wird Energie sauberer und reichlicher. Eine neue Generation von Stromspeichern löst das Problem der „Lagerung“ überschüssiger Energie aus Wind- und Solarproduktion. Letztere wird laufend billiger und besser. Erneuerbare Energie ist keine Marotte mehr, sondern Tatsache.  

Das Problem ist bekannt: Einerseits wird Solar- und Windenergie in sehr unregelmässiger und deshalb unzuverlässiger Frequenz produziert, andererseits schwankt die Nachfrage. Oft ist sie dann am grössten, wenn am wenigsten produziert wird. Überschüssigen Strom zu speichern, bis er gebraucht wird, ist schwierig. Doch das Problem wird gelöst: Riesigen Batterien, die Megawattstunden Strom aufnehmen können, gehört die Zukunft.

Das Schweizer Unternehmen Alevo startete 2014 in Concord, North Carolina. Es begrüsst Interessierte auf seiner Homepage mit „Welcome to the future of Energy“ und macht klar, was sein Know-how ist: Strom zu speichern, wenn es davon zu viel, zu liefern, wenn es zu wenig gibt. Ein Meilenstein, dieser Technologiesprung im Bereich der Energiespeicherung!

Neue Stromquellen

Das fünfstöckige Gebäude in Londons Notting Hill unterscheidet sich von aussen nicht von seinen Nachbarn. Doch der erste Eindruck täuscht: Es ist vollgestopft mit modernster Technik und produziert selbst mehr Energie als es verbraucht. Es symbolisiert quasi die Energiezukunft im Kleinen. Damit wird klar, dass eine drastische Wende in der Energiediskussion erreicht ist. Bedenken zur Versorgungssicherheit und Umweltbelastung brauchen diese Bewohner keine mehr zu haben.

Auch in der Schweiz gibt es seit einigen Jahren überall solche Selbstversorger. Gebäude, erstellt nach modernsten Erkenntnissen, decken mehr als ihren eigenen Energiebedarf. Noch sind es Idealisten, die trotz zehn Prozent höheren Erstellungskosten ihre Vision verwirklichen. Doch bei tendenziell sinkenden Preisen steigen die Marktchancen.

Die dritte Generation Solartechnik existiert bereits. Durch Verwendung von Graphen, produziert auf 3D-Druckern, werden die bekannten Solarpanels auf Dächern ergänzt. Jede Oberfläche kann mittels Film- oder Farbapplikation zum Solarpanel werden.

Fiskalpolitik ändern!

Im anhaltenden Preiszerfall von Erdöl und Erdgas sehen Fachleute eine einmalige Chance für Staaten, Kosten zu sparen, um im Gegenzug nachhaltige Projekte zu fördern. Experten haben errechnet, dass 2014 Regierungen weltweit 550 Milliarden Dollar ausgaben, um Benzinpreise künstlich tief zu halten.

Auf die Schweiz bezogen hiesse das wohl, dass die Mineralölsteuer (Bundeseinnahmen: gute fünf Milliarden Franken im Jahr) jetzt erhöht werden könnte, ohne den Konsumenten weh zu tun. Bei sinkenden Gestehungskosten für Benzin würden ja die Preise an den Tankstellen trotzdem unverändert bleiben. Doch hier streiten sich unsere Politiker seit Jahren über die „korrekte“ Verwendung dieser Steuermittel. Die Autolobby ist natürlich vehement gegen solche Ideen.

Europäische Energiepolitik

Auf dem Weg zu einer europäischen Energiepolitik gibt es im Wesentlichen zwei „Gegner“. Der eine ist Russland (Gazprom) mit seinen Gaslieferungen. Der andere sind die nationalen Regierungen mit ihren Staatsbeteiligungen an den eigenen Energiekonzernen. Obschon klar scheint, dass zusätzliche Pipelines und Stromleitungen zwischen den einzelnen EU-Ländern die Versorgungsabhängigkeit mindern würden, kommt die geplante Energieunion nur zögerlich voran.

Bekanntlich sind die bilateralen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU bezüglich Stromabkommen zurzeit blockiert. Auch wenn eine Einigung auf diesem Sektor im beiderseitigen Interesse läge, verweigert die EU weitere Diskussionen. Den Grund haben wir uns selbst zuzuschreiben: Die Zukunft der bilateralen Abkommen ist nicht geklärt.

Einmal mehr legt der Economist den Finger auf die banale Tatsache, dass die grösste Energie-Innovation – der Nichtgebrauch ist („The biggest innovation in energy is to go without“). Gemeint ist damit die Energieverschwendung. Diese Einsicht bedarf weltweit keiner neuen Gesetze. Aber alle sind gefordert, Konsequenzen zu zehen.

Überforderte Politik

Die Schweizer Industrie sowie Forschungs- und Bildungsstätten sind am Technologietransfer beteiligt, der aus Ideen Lösungen macht. Portfolios der Energieforschung sind deshalb ein zentrales Element der Energiestrategie 2050 des Bundes. Studierenden öffnet sich ein grosses Fenster, um Schulbetrieb und Forschungsarbeit zu kombinieren.

Otfried Jarren, Professor an der Univerität Zürich, kritisierte 2014 anlässlich eines Vortrags unsere Politik. Sie verschiebe ihre selbstgestellten Probleme immer wieder, weil deren Lösung ihre Möglichkeiten überfordere. Als Beispiele nannte er auch den Energiewandel. Richten soll es dann die Wissenschaft. Doch wie soll das  funktionieren, wenn die Politik ihr Bild von Wissenschaft zu guten Teilen aufgrund der Medienberichterstattung macht, fragte Jarren gleichzeitig. Sind einige Printmedien beim Thema Energiestrategie nicht eher Propagandisten der ihnen nahestehenden politischen Parteien?

Auch Swissmem macht auf breiter Front gegen die neue Energiestrategie Stimmung  und wird dabei vom emeritierten Professor Silvio Borner sekundiert („Zukunftsexperimente können wir uns nicht leisten!“). Wenn Borner von „geistiger Umnachtung, wahltaktischem Opportunismus, energetischen Heilsbotschaften“ spricht und damit die Befürworter einer ihm nicht passenden Energiepolitik meint, dann muss man sich betroffen fragen, wer sich hier persönlichen Ideologien unterwirft (NZZ, 31.8.2015).

Ganz andere Töne – was die Zukunft angeht – sind aus dem IBM-Forschungszentrum Rüschlikon zu hören. Hier treiben Forscher im Verbund mit der Hochschule für Technik Rapperswil und anderen Partnern das ehrgeizige interdisziplinäre Projekt Thrive voran, das Abwärme zum Heizen und Kühlen verwendet. Zur Erinnerung: Ein Drittel des Strombedarfs wird heute in der Schweiz zum Heizen und Kühlen verwendet.

Alternativenergie zu fördern, ist ein Zukunftsexperiment, das wir uns leisten müssen. Diesbezüglich gilt die Devise: Schaue dorthin, wo das Neue entsteht, wo sich die Zukunft ankündigt.

Bereits ist abzusehen, dass das Volk dereinst an der Urne über unsere Energiezukunft entscheiden wird. Es lohnt sich deshalb, schon heute darüber nachzudenken.

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7000 Jahre Ephesus

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Besiedlungsspuren reichen bis in die Zeit um 5000 v. Chr. zurück. Gross wurde Ephesus als Hafenstadt – musste aber deswegen im Laufe seiner Geschichte immer wieder umziehen, um die Gefahr verlandender Hafenbuchten und versumpfender Ufer zu parieren. Die Einwanderung ionischer Griechen im letzten vorchristlichen Jahrtausend schob die Entwicklung von Ephesus zu einer der reputiertesten Städte an der Westküste Kleinasiens an. Die Stadt beherbergte das Artemision, ein Heiligtum der Göttin Artemis (Diana), das in der Antike zu den sieben Weltwundern zählte. Und als sie kurz nach dem Tod Alexanders des Grossen wieder einmal umziehen musste, war Ephesus schon eine Grossstadt mit 200’000 Einwohnern.

Seine Hochblüte erreichte Ephesus in der römischen Kaiserzeit als Sitz des Statthalters der römischen Provinz Asia. Die Stadt prunkte mit öffentlichen und privaten Bauten – unter ihnen eine kolossale Marktbasilika, ein Bibliotheksgebäude, Tempel und andere Sakralbauten, ein Versammlungshaus für den Stadtrat, prachtvolle Säulenarkaden und Portale, monumentale Brunnen- und Badeanlagen, luxuriöse Wohnhäuser für betuchte Epheser ebenso wie das Grosse Theater für 25 000 Zuschauer (unser Bild). Zum baulichen Erbe aus der Römerzeit gehören auch Aquädukte und Tunnels zur Fernversorgung mit Brauch- und Trinkwasser. Nach einem zerstörerischen Erdbeben 262 n. Chr. und einem ebenso zerstörerischen Plünderungszug der Goten rappelte sich die Stadt mit Mühe nochmals auf. Erst im Mittelalter büsste sie allmählich Bedeutung und Prosperität ein und verkam schliesslich zu einem blossen Ruinengelände im Osmanischen Reich.

In Ephesus gedieh eine der ersten christlichen Gemeinden. Der Apostel Paulus machte dort auf dem Rückweg von seiner zweiten Missionsreise erstmals Halt und verbrachte später Jahre in der Stadt, zum Teil im Gefängnis. In Ephesus verfassste er die Mehrzahl seiner Briefe, auch einen an die Epheser. In seinen Predigten las er offenbar unter anderem auch den Devotionalienhändlern, die Artemis-Souvenirs verkauften, die Leviten. Die Silberschmiede, die angesichts schwindender Verkäufe ihr Gewerbe bedroht sahen, demonstrierten im Grossen Theater mit dem Kriegsruf: „Gross ist die Diana der Epheser!“ Ephesus wurde trotzdem ein christlicher Wallfahrtsort. Gemäss der Legende lebte die Gottesmutter Maria vor ihrer Himmelfahrt an der Seite von Johannes in Ephesus. Johannes baute ihr ein Haus. Maria wurde später mit einer Kirche geehrt; über dem angeblichen Grab von Johannes entstand am Hügel von Selçuk die Basilika, die jetzt der Ruhm des christlichen Ephesus ist. In der Marienkirche tagte 431 das dritte Ökumenische Konzil.

Ein britischer Eisenbahningenieur begann 1863 im Auftrag des British Museum nach dem Artemision zu suchen. Selçuk war damals nichts als eine Ansammlung erbärmlicher Hütten.  J.T. Wood stocherte jahrelang auf dem Gelände herum. Als er schliesslich am Ende des Jahrzehnts Überreste des einstigen Weltwunders verortet hatte, waren das Interesse seiner Auftraggeber an weiteren Sondierungen erlahmt und die Geldquellen erschöpft. Der Wiener Ordinarius für Klassische Archäologie, Otto Benndorf, sprang 1893 in die Lücke und beantragte bei seinem Cultus-Ministerium die Grabung in Ephesus. Den Zeitaufwand für die Freilegung der Stadt schätzte er auf etwa fünf Jahre. Die „fünf Jahre“ dauerten (mit weltgeschichtlich begründeten Unterbrechungen) bis jetzt mehr als 120 Jahre. Und das Österreichische Archäologische Institut (ÖAI) wird aller Voraussicht nach weiter eine halbe Ewigkeit dranbleiben.

Als die Unesco Ephesus im Juli 2015 auf die Liste des Welterbes setzte, war die Genugtuung in Wien womöglich noch grösser als in Ankara. Und das mit Recht. Die Wissenschaftler des ÖAI haben aus Ephesus die eingänglichste, besucherfreundlichste Sehenswürdigkeit  Ioniens gemacht, auch dank vielen geglückten Wiederherstellungen nach den Grundsätzen der Anastylose. So wurde etwa die Fassade der Bibliothek des Celsus mit herumliegenden originalen Bauteilen wieder aufgebaut. 1,5 Millionen jährliche Besucher sind die Belohnung dieser bewundernswerten Anstrengung; allerdings ist es möglich, dass bei ihrer Arbeit gestörte Wissenschaftler so viele Besichtiger gelegentlich auch als Strafe verbuchen. Die Auszeichnung als Welterbe gilt einer in jeder Hinsicht beispielhaften Jahrhundertgrabung – vorbildlich bis zu der ausführlichen Berichterstattung darüber im Internet. – Jahr des Flugbilds: 2002. (Copyright Georg Gerster/Keystone)

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Brown is the new green

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Un succès pour l'instant: elle a diminué de 31,1% en juillet, au-delà des 25% exigés par le gouverneur de l'Etat, Jerry Brown. C'est tout un mode de vie, et un paysage, qui est en train de se transformer.

Peu à peu, insidieusement, le paysage a complètement changé. Les vertes pelouses qui depuis des décennies ornaient l'espace séparant les maisons de la rue ont disparu, ou presque. A la place, des jardins d'agaves et autres plantes grasses que l'on ne trouvait autrefois que dans le désert des Mohaves, bien plus à l'est, ou d'harmonieuses compositions de pierres et cailloux de toutes formes et de toutes couleurs. Ou plus rien: de l'herbe jaune, du sable, ou de la terre brune, couleur naturelle du sol mis à nu.

Un exemple des nouvelles pelouses
Un exemple des nouvelles pelouses

Nul besoin de tondre le gazon

Même les plus irréductibles – les Républicains pour la plupart, reconnaissables par l'ampleur des drapeaux américains qui flottent sur les toits de leurs maisons – ont commencé à céder. Très rares sont désormais les pelouses bien vertes. Celles qui n'ont pas été transformées en un jardin de cactus ou de pierres sont jaunies, flétries, râpées, pitoyables. Et personne ne s'en plaint. Il n'y a pas si longtemps pourtant, certaines municipalités huppées exigeaient que chaque maison soit entourée d'un gazon bien vert, et on aurait entendu des réflexions très désagréables sur les pelouses "mal entretenues" si elles n'étaient tondues à ras. Nul besoin de tondre le gazon désormais. Abandonné, "stressé" comme on dit ici des plantes et autres herbacées privées d'eau, il ne pousse plus. Il n'est plus arrosé. "Dire qu'autrefois on laissait marcher les systèmes d'arrosage tout le temps, même les jours de pluie", se souvient un ancien. Il faut dire qu'à l'époque, c'est-à-dire il y plus de cinq ans, il pleuvait de temps en temps. Aujourd'hui, lorsqu'il tombe quelques gouttes – une fois ou deux par mois en hiver, plus jamais en été – cela ne dure pas plus que plusieurs heures, ou quelques minutes.

Nous sommes en Californie du sud, dans un petit village le long de la côte menant de Los Angeles à Santa Barbara, où le manque d'eau se fait gravement sentir alors que l'on approche de la cinquième année de sécheresse – la pire période de pénurie depuis 120 ans. Des nombreuses rivières, il ne reste plus que le nom sur les ponts, comme pour se souvenir qu'elles ont bien existé, et un lit de cailloux. Quant aux lacs, ils ont baissé à des niveaux dits "historiques", et exposent comme autant de plaies ouvertes leurs vastes espaces asséchés, à peine boueux. Le lac Casitas par exemple, qui est censé fournir en eau plus de 70'000 personnes dans la région de Ventura, est à 43,6% de sa capacité, et le lac Cachuma, qui arrose Santa Barbara, à moins de 36%. Autre grave préoccupation, la quasi absence de neige l'hiver dernier dans les montagnes californiennes, effet direct du réchauffement climatique. Or, la masse neigeuse qui s'accumulait chaque année sur les sommets constituait la principale source d'approvisionnement en eau de tout l'Etat dès qu'elle commençait à fondre, se déversant dans les ruisseaux et les lacs.

(Jerry) Brown is the new green

Toutefois, l'espoir revient. Depuis la décision prise le 1er avril 2015 par le gouverneur démocrate de l'Etat, Jerry Brown, d'exiger, force sanctions et incitations diverses, une réduction de la consommation d'eau de 25% dans tout l'Etat, le changement est manifeste. En avril, la baisse de consommation d'eau n'avait été que de 13,5%, et en mai de 18%, mais ce taux est passé à 27% en juin, et 31,3% en juillet, dépassant toutes les espérances.

 

La décision du gouverneur a été l'élément déclencheur d'une prise de conscience à grande échelle, qui a été encouragée en parallèle par une vaste campagne d'information grand public sur l'usage domestique de l'eau, lancée par les services des eaux dans tout l'Etat: Brown is the new green. Une expression inspirée par la très populaire série télévisée Orange is the New Black. Un jeu de mots aussi pour évoquer le plus "vert" des gouverneurs de l'Etat, dont le nom de famille, Brown, ne pouvait être plus approprié…

Métamorphosées en espaces botanico-exotiques

Au début, le sujet faisait débat. Lorsque les habitants de chaque quartier se rencontraient au marché, ou dans les garage sales du samedi matin, on ne parlait que de ça. Renoncer à sa pelouse? Changer complètement son jardin? Qui oserait se lancer? Chacun y allait de ses idées, certains, plus motivés que d'autres, se disant prêts à montrer l'exemple. Puis, comme toujours en Amérique – et cela au moins n'a pas changé – on n'attend jamais très longtemps pour passer de l'idée à l'action. Entre mai et juillet, c'est une activité inhabituellement frénétique que l'on a pu observer de maison à maison: des pelouses arrachées à la bêche par leurs propriétaires ou par des groupes de jardiniers mexicains recrutés spécialement, et l'arrivée de pick-up chargés de sable, de cailloux, et de plantes grasses, dont les jardineries se sont approvisionnées en masse, à la hâte.

Ce propriétaire vient d'arracher sa pelouse
Ce propriétaire vient d'arracher sa pelouse

Tout naturellement, c'est une sorte de compétition qui s'est installée entre voisins sur la manière la plus élégante et la plus innovatrice de transformer le paisible gazon en nouvel espace aux tons d'ocre, de gold (en référence au Golden State) et de brun. Le résultat est stupéfiant lorsqu'on se promène dans les ruelles si vertes autrefois, métamorphosées en espaces botanico-exotiques, aussi bien dans les quartiers populaires que dans les sites résidentiels plus chics, et même à Beverley Hills. Les agents immobiliers, soucieux de plaire à une clientèle aux nouvelles exigences, ont aussi arraché pelouses et gazons devant les maisons neuves pour les remplacer par des rochers et bosquets de plantes vivaces. Aucune nouvelle maison à vendre, y compris dans les lotissements un peu plus huppés, ne s'imaginerait autrement, et les dépliants immobiliers regorgent de photos dont toute suggestion de gazon vert est absente.

Les pierres à la place du gazon
Les pierres à la place du gazon

La transformation des jardins n'est qu'une mesure parmi d'autres auxquelles les Californiens ont accepté de se plier. La seule vraiment visible, avec la baisse de fréquence de lavage des voitures. A la maison, les choses changent aussi. Les bains deviennent moins fréquents que les douches et on récupère l'eau comme on peut: les légumes sont lavés plus rapidement, l'eau qui a servi à faire cuire des pâtes servira à arroser les tomates du potager, la vaisselle est moins minutieuse, on place des seaux pour récupérer l'eau dans les douches avant qu'elle devienne chaude lorsque la chaudière est située à l'autre bout du bâtiment, et beaucoup de piscines restent couvertes. Elles sont aussi moins tendance: les maisons avec piscine se vendent moins bien. Enfin dans les toilettes, loin des regards d'autres personnes que les membres les plus proches de sa famille, on commence, parmi les milieux les plus écolos certes, à ne tirer la chasse d'eau que lorsque c'est nécessaire... Ou bien on achète des systèmes de chasses d'eau à deux vitesses, comme on en trouve partout en Europe, qui étaient quasi inexistantes dans ce pays auparavant.

Menaces de sanctions

Il faut dire que tout est fait pour convaincre. D'abord des menaces de sanctions pour ceux qui refuseraient ostensiblement de se plier à la liste très précise de recommandations, pouvant atteindre jusqu'à 10'000 dollars par jour pour ceux qui gaspilleraient de l'eau à outrance: arroser les trottoirs par exemple, ou continuer d'inonder quotidiennement sa pelouse – pénalité qui n'a encore jamais été appliquée à cette échelle. Ensuite les campagnes de sensibilisation lancées par les compagnies des eaux publiant et distribuant dans toutes les boîtes aux lettres maints dépliants sur la gravité de la situation, et sur les mesures à prendre, et déployant des panneaux d'alerte dans les rues. Enfin, les aides financières que ces compagnies accordent à tous ceux qui prennent des dispositions concrètes pour économiser l'eau, dont des subventions non négligeables pour turf-removal – ou élimination du gazon – pouvant aller jusqu'à 1600 dollars pour un terrain de 150 m2.

Outre les aménagements paysagers, d'autres efforts sont encouragés, ou initiés. L'un des plus populaires actuellement est la récupération, pour l'irrigation des plantes et des arbres, de la grey water (eau usée résultant du lavage de la vaisselle ou des bains ou douches, ne contenant pas de polluants trop nocifs). Des explications sont données aux public et des ateliers de formation sont spontanément organisés par des bénévoles.

Grey Water Workshop
Grey Water Workshop

Relancer une usine de désalinisation de l'eau de l'océan

Au-delà des efforts entrepris par les particuliers pour réduire leur consommation domestique, divers types d'initiatives sont lancés au niveau des communes, et par de grosses structures, comme les parcs d'attraction. A Santa Barbara, on commence à relancer une usine de désalinisation de l'eau de l'océan abandonnée depuis plus de vingt ans, qui devrait fournir 30% des besoins d'eau de la ville d'ici à 2017, et certains campus d'université, aux immenses pelouses vertes, ont installé des systèmes d'irrigation par recyclage de l'eau. C'est aussi ce que Disneyland a mis en place pour de nombreux bassins, tout en modifiant ses espaces verts.

Les fermiers n'ont pas été directement concernés par les dernières restrictions imposées par le gouverneur Brown, alors qu'ils utilisent 80% de l'eau dans tous l'Etat, mais ils sont déjà depuis sous longtemps sous pression de règles fédérales très strictes pour réduire leur consommation. L'enjeu est énorme, la Grande Vallée centrale de Californie, grande région agricole de l'Etat, est le grenier de l'Amérique: elle couvre 25% des besoins alimentaires de tout le pays. Vers le nord de l'Etat, des fermiers de plusieurs communautés se sont regroupés pour entreprendre de réduire leur consommation d'un quart. D'autres l'ont réduite bien davantage, faute, bien souvent, d'avoir d'autre choix. Lorsqu'on circule dans certaines zones rurales, on peut voir des images assez pathétiques de bétail n'ayant plus que des herbes sèches et de la terre à brouter dans ce qui était autrefois de grandes prairies verdoyantes.

Les pluies tant espérées – grâce à El Niño

Pour survivre, les agriculteurs sont nombreux à creuser des puits pour tenter d'ouvrir de nouvelles brèches dans les nappes phréatiques déjà bien dépourvues. Par endroits, les puisatiers travaillent jusqu'à 24 heures sur 24 pour répondre aux demandes. Toutefois les réserves souterraines ne sont pas inépuisables, et des géologues lancent des signaux d'alarme: ces creusements de nouveaux puits pourraient accentuer les risques de tremblements de terre, déjà bien présents.

Aujourd'hui, tous les espoirs portent sur l'hiver prochain. En effet le phénomène El Niño pourrait, cette année, se montrer particulièrement puissant, et apporter enfin en Californie, si les prévisions se confirment, de très fortes pluies, comme cela avait été le cas en 1997. Ces pluies avaient toutefois provoqué des inondations dévastatrices. Si le même phénomène se reproduit, elles devraient être encore plus catastrophiques sur une terre desséchée, prédit Tammy Dunbar, spécialiste de la planification des situations d'urgences à Santa Clara, près de Los Angeles. Après avoir changé la physionomie de leurs jardins, que l'on n'appelle plus des espaces verts, les habitants vivant près des anciens canaux et autres cours d'eau ont déjà entrepris, à titre de précaution, un grand nettoyage pour éviter les inondations et permettre aux masses d'eau attendues de s'écouler sans faire trop de dégâts.

Et si les pluies tant espérées arrivent effectivement, grâce à El Niño, elles ne suffiront pas, dit-on déjà, à remplir les lacs, rivières et nappes phréatiques. "Il faudrait que la Californie retrouve une fois et demi le total de ses précipitations annuelles pour sortir de la sécheresse", affirme Mike Halpert, directeur adjoint du National Oceanic Atmospheric Administration's Climate Prediction Center.

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Santa Barbara, Californie
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Wohin flüchten?

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Zwei Worte können Perspektiven verändern. Der Titel des neuen „Kursbuchs“ lautet: „Wohin flüchten?“ Damit stellt es eine Frage, die sich aus der Perspektive der Flüchtenden stellt, nicht aus der Perspektive derjenigen, die sich mit ihnen konfrontiert sehen. Aber die Einheimischen können die Perspektive der Neuankömmlinge übernehmen, schliesslich ist sie nachvollziehbar. Dadurch erscheint die ganze Szenerie in einer anderen Beleuchtung.

Untaugliche Kategorien

Der Herausgeber Armin Nassehi schreibt in seinem Editorial, dass die derzeitigen „Kategorien der öffentlichen Diskussion untauglich geworden“ seien. Zum einen sei der Diskurs moralisch aufgeladen, zum anderen konzentriere er sich zu stark auf den Asyltatbestand.

Der moralische Diskurs trage zu wenig zur Lösung der akuten Probleme bei, die Fixierung auf den Asyltatbestand gehe an den Fluchtgründen vorbei. Die moralische Forderung nach Mitmenschlichkeit stösst an die harten Grenzen politischer und sozialer Akzeptanz, und die Unterscheidung zwischen „politisch Verfolgten“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ geht an der Tatsache vorbei, dass kollabierende Staaten oder durch Terror geprägte Umfelder eine scharfe Trennung zwischen politischer Verfolgung und wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit nicht mehr zulassen.

Nachvollziehbare Fluchtgründe

Deswegen fordert Nassehi „unaufgeregte Formen der Inklusion, arbeitsrechtliche und -praktische Arrangements, schulische Initiativen, Sprachförderung vor allem für Kinder.“ Voraussetzung dafür ist die Einsicht, dass diejenigen, die uns als Fluchtort wählen, Gründe haben, die wir durchaus teilen können. Auch wir würden in ähnlicher Situation ähnlich handeln.

Deswegen ist es ein fatales Vorurteil anzunehmen, es seien die Ärmsten der Armen, die nach Europa drängen. In seinem Beitrag, „Der Tod als Waffe“, berichtet der Journalist Alfred Hackensberger aus Tanger. Die Ärmsten könnten sich die teure Reise gar nicht leisten. Es sei auch nicht so, wie ebenfalls in Europa oder im Westen vermutet wird, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Armut und Migration gibt und dass die meisten Migranten aus den ärmsten Regionen stammen. Das Gegenteil ist der Fall. Je mehr sich ein armes Land entwickelt, desto mehr Menschen emigrieren – nicht umgekehrt.

Mittel und Kompetenzen

Die Migrationsexpertin Carmen González Enríquez vom Real Instituto Elcano in Madrid erklärt ihm: „Je entwickelter ein Staat, desto mehr ›Kapital‹ bekommen Menschen, das sie in einem anderen Land einsetzen können. Dazu gehören handwerkliche Fertigkeiten, Kenntnisse von Fremdsprachen oder ein Studium. Es gibt mehr Bildung, mehr Informationen, mehr Networking und vor allen Dingen auch mehr Geld, um die Reise zu bezahlen. Diejenigen, die nichts haben, können nicht reisen. So einfach ist das.“

Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass die Migranten der Königsweg zur Lösung der demografisch bedingten Arbeitsmarktprobleme in Europa seien. González Enríquez warnt: „Nur mit den Flüchtlingen und Migranten, die seit Monaten in Italien und anderswo ankommen, kann das nicht gelöst werden.“

Polemik gegen "Wirtschaftsflüchtlinge"

Überhaupt darf der Blick auf die nachvollziehbaren Motive der Flüchtlinge nicht den Blick darauf verstellen, dass in Europa breite Schichten anders als die gebildeten und weltoffenen Eliten sich selbst als unterprivilegiert und benachteiligt ansehen und meinen, dass die Migranten privilegiert werden. In seinem Essay, „»Die arbeiten nichts« Eine kleine Polemik gegen den »Wirtschaftsflüchtling«“, beschreibt Armin Nassehi, wie sich aus Ressentiments gegen „die da oben“ sogleich die Aversion gegen jene entsteht, denen auch unterstellt wird, ungerechtfertigt Leistungen zu beziehen, für die man selbst doch so erbärmlich schuften muss.

Der Staat versucht, derartige Ressentiments zu kanalisieren, indem er jene abschiebt, die vermeintlich zu Unrecht im Lande sind. In seinem Beitrag über Abschiebungen zeigt der Soziologe Albert Scherr, dass diese Massnahme aber aus einer Reihe von Gründen nicht funktioniert. Denn es gibt seitens starker und einflussreicher Gruppen heftigen Widerstand gegen Abschiebungen, so dass sie skandalisiert werden. Zudem können im Einzelfall Hindernisse geltend gemacht werden, so dass es nicht zur Abschiebung kommt. „Die Unberechenbarkeit der Chance, im Land bleiben zu dürfen oder deportiert zu werden, wird von Kritikern der herrschenden Flüchtlingspolitik thematisiert und zur Infragestellung ihrer Legitimität verwendet.“

Empowerment

Der Versuch, mittels der Deklaration einiger Länder als „sichere Herkunftsstaaten“ die Abschiebung zu erleichtern, entspannt die Problematik nicht. Denn ganz offensichtlich besteht die Gefahr, dass Minderheiten wie die Roma erst recht dadurch stigmatisiert werden, dass ihnen unterstellt wird, nicht einmal in sicheren Herkunftsstaaten zurecht zu kommen. Damit werde, so Albert Scherr, die „soziale Distanz noch einmal gesteigert".

Wie aber kann das Flüchtlingsproblem konkret vor Ort wenn nicht gelöst, dann wenigstens bearbeitet werden? Damit befasst sich ein anschaulicher Beitrag des Psychologen und Psychotherapeuten Friedrich Kiesinger über „Empowerment“. Er schildert darin unter anderem „Begegnungscafés, in denen zum Beispiel Sprachkurse gegeben werden oder sich die Menschen einfach kennenlernen und austauschen.“ Ohne diese beharrliche Arbeit, ohne den Mut zur Initiative und Inkaufnahme von persönlicher Unsicherheit und Unbequemlichkeit, wird die Flüchtlingsproblematik ganz sicher nicht gelöst werden. Und wir wissen, dass Perspektivenwechsel am ehesten in Begegnungen stattfinden, die wechselseitig zum „Empowerment“ führen.

Der historische Normalfall

Dabei kann ein Gedanke helfen, den der Historiker Jochen Oltmer entfaltet: Migrationsbewegungen sind keine Unfälle der Geschichte, sondern der Normalfall. Globalisierungsprozesse hat es schon früher gegeben und sie waren immer mit starken Wanderungsbewegungen verbunden. Man darf sich auch nicht wundern, dass die Europäer, die über Jahrhunderte in die sogenannte Dritte Welt gegangen sind, es nun mit Leuten zu tun haben, die in der Armut leben und nicht mehr darauf warten wollen, dass der Wohlstand zu ihnen kommt, sondern von sich aus dorthin gehen, wo er zu finden und auch zu schaffen ist.

Das neue Kursbuch wird seinem Namen gerecht: Es enthält Kursbestimmungen und so etwas wie Fahrpläne. Genau das wird in unserer Zeit der Migrationsproblematik gebraucht.

Armin Nassehi, Peter Felixberger (Hg), Kursbuch 183, Wohin flüchten?, 200 Seiten, Murmann Publishers, Hamburg, September 2015

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Le mauvais souvenir de 1987

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Nul ne sait si des investisseurs se jetteront d’une tour de Shanghai après avoir vu leurs économies englouties dans le krach boursier de 2015. Mais une chose est certaine: si cela devait hélas arriver, leur gouvernement, qui les a engagés sur cette voie, porterait une lourde responsabilité.

Les Chinois, on le sait, ont la passion du jeu. En 2014, les médias nationaux prirent le relais des autorités pour inciter les épargnants à boursicoter. Par grappes de dizaines de millions, les Chinois s’endettèrent pour acheter des titres. Personne ne voulait manquer sa part du gâteau.

L’éclatement de la bulle mit fin à cette spirale infernale. En quelques séances la capitalisation globale chinoise se réduisit de moitié. Une quantité considérable d’individus furent ruinés probablement dans cette course sauvage au capitalisme le plus outrancier. Un comble pour un pays qui n’a pas renoncé officiellement au dogme communiste.

La Chine sombrera-t-elle dans les désordres et le chaos? Pas forcément. Mais on ne peut s’empêcher de faire la comparaison avec le krach de 1987 dans le monde occidental. Pendant les semaines qui l’ont précédé, une folie spéculatrice s’était emparée des petits salariés, grenouilles qui aspirèrent au statut de bœuf en regardant sur des spots télévisés Catherine Deneuve les inviter à entrer dans la danse.

Après que 30% de leurs avoirs se furent évaporés en bourse, les dindons de Ponzi jurèrent qu’on ne les y reprendrait plus. Le capitalisme perdit de son aura, les masses populaires déléguèrent la prise de risque à une infime minorité de spécialistes surpayés. Et le fossé social porteur de violences s’accrut.

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La Méduse
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IS in Wartestellung

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Berichte, wonach IS-Kämpfer in den südlichen Vorstadtquartieren von Damaskus aufgetaucht seien, sind ernst zu nehmen. Doch sie bedeuten nicht, dass «das Kalifat» im Begriff sei, seine Macht bis nach Damaskus hin auszudehnen. Es handelt sich offenbar um Schläferzellen von IS, deren Präsenz in den südlichen Vorstädten der syrischen Hauptstadt seit einigen Monaten bekannt ist. Diese verborgenen Kräfte von IS versuchen periodisch sich auf den Strassen zu zeigen, wohl in der Hoffnung, entweder Popagandagewinne zu machen oder – wenn die Zeit sich als reif erweist – den Durchbruch zu erreichen, der es ihnen erlaubt, Gebiete permanent unter ihre Herrschaft zu bringen.

Waffenstillstände mit der Regierung

Dabei ist die besondere Lage zu berücksichtigen, die in diesen Vorstädten herrscht. Weil die syrische Armee und Polizei nicht flächendeckend in der Fünfmillionenstadt präsent sein kann und weil die Vorstädte oftmals von bewaffneten Gruppen beherrscht werden, die zu den Feinden des Regimes zählen, hat Damaskus eine Taktik der Waffenstillstände entwickelt. Solche werden meist geschlossen nach zähen und erschöpfenden Kämpfen und nach Isolierung, Belagerung und Bombardierung der betroffenen Quartiere und Randsiedlungen. Oft kommen sie unter dem Druck einer Belagerung zustande, die darauf ausgeht, allen Bewohnern dieser Quartiere die Lebensmittel, das Wasser, den Strom abzuschneiden.

Waffenstillstände sind meist an die Bedingungen geknüpft, dass die Rebellenkräfte ihre schweren Waffen abgeben müssen, jedoch die leichten Waffen behalten können und dass die Regierungstruppen nicht in die bisher belagerten Ortschaften oder Quartiere eindringen. In den Waffenstillstands-Gebieten herrschen dann meistens lokale Räte, die eng mit den bewaffneten Gruppen zusammenarbeiten, welche weiterhin die betroffenen Ortschaften oder Vorstadtquartiere kontrollieren. Die Kämpfer, die sich dort aufhalten, können diese Orte nicht verlassen, ohne Gefahr zu laufen, von den Sicherheitsleuten der Regierung gestellt und gefangen genommen zu werden. Derartigen Gefangenen droht ein qualvoller, langsamer Tod in den Regierungsgefängnissen.

Es kommt vor, dass die Waffenstillstände gebrochen werden. Dann kommt es zu neuen Kämpfen, in denen jedoch die Rebellen nicht mehr über die schwereren Waffen verfügen, die sie hatten abgeben müssen. Unter Zivilisten gibt es eine gewisse Osmose zwischen den Waffenstillstands-Quartieren und jenen, die von der Regierung beherrscht werden. Dies schon deshalb, weil die nötigsten Lebensmittel in die Waffenstillstands-Quartiere gebracht werden müssen.

Die Entwicklung in Yarmuk

Yarmuk, das Palästinenserlager, das heute ein Stadtquartier im südlichen Teil von Damaskus geworden ist, war eines der von der Regierung belagerten Rebellenquartiere, weil sich die dortigen Palästinenser in den ersten Jahren des Aufstandes gegen die Regierung und für die Rebellenbewegung entschieden. Da in Yarmuk die UNRWA (die Organisation der Uno für Palästinaflüchtlinge) und andere internationale Körperschaften involviert sind, sowie auch am Rande die PLO, war stets relativ viel über Yarmuk zu erfahren. Es gab über Yarmuk, Berichte und sogar Bildmaterial von Zerstörung und Hunger.

Im vergangenen April versuchten IS-Kämpfer das von der Regierung belagerte und oftmals auch bombardierte Lager unter ihre Gewalt zu bringen. Von seinen einst 220’000 Bewohnern waren die meisten geflohen und nur etwa 18’000 verblieben zusammen mit den bewaffneten Gruppen, welche in diesem Fall palästinensische Kämpfer sind. (Andere ebenfalls bewaffnete Palästinenser stehen auf Seiten der syrischen Regierung).

Die IS-Kämpfer waren von Hajar al-Aswad, einem benachbarten Stadtviertel, nach Yarmuk eingedrungen. Sie sollen vorübergehend fast 90 Prozent des Lagers beherrscht haben, wurden jedoch von zwei palästinensischen Kampfgruppen zurückgedrängt und sollen zur Zeit nur noch einen Teil des einstigen Lagers, das heute aus zerschossenen Ruinen besteht, beherrschen. Die den Rebellen nahestehenden Quellen sagen, dies sei nur noch ein kleiner Teil des «Lagers». Die Sprecher von IS behaupten: der grössere Teil.

Hajar al-Aswad hat seit einem Jahr einen Waffenstillstand mit der Regierung. Yarmuk gilt nach der UNRWA seit dem vergangenen Juli als «nicht mehr von der Regierung belagert».

Ein neuer Versuch in Qadam

Die jüngsten Auftritte von IS wurden Ende August aus dem ebenfalls südlichen Stadtteil Qadam gemeldet. Qadam war bisher ruhig, ebenfalls unter einem Waffenstillstand mit der Regierung. Auch dort behaupten die IS nahestehenden Quellen, «das Kalifat» habe fast den ganzen Stadtteil eingenommen, der ungefähr sechs Kilometer vom Zentrum von Damaskus entfernt liegt. Doch die den Rebellen zuneigenden Quellen sagen, die IS-Leute seien auf Widerstand gestossen und aus den grössten Teilen von Qadam vertrieben worden. Sie beherrschten nur noch «zwei Strassen». Widerstand gegen sie leisteten zwei der syrischen Rebellengruppen, Dschaisch ul-Islam und Dschund ul-Islam, sowie zwei weitere kleinere Gruppierungen.

Ein Offizier der syrischen Armee erklärte anonym der Agentur AFP: «Wir sind froh, dass die Rebellen gegeneinander kämpfen. Doch falls sie versuchen sollten, auf das Gebiet überzugreifen, das von der Armee abgesichert wird, werden wir uns energisch zur Wehr setzen.»

Offenbar besitzt IS Schläferzellen in Hajar al-Aswad, die dort im Schutze des Waffenstillstands eingerichtet wurden. IS-Kämpfer und -Sympathisanten versuchen periodisch umliegende Quartiere abzutasten, um entweder einen blossen Propagandaerfolg zu erreichen, oder aber, wenn dies möglich wird, sich als die beherrschende Macht einzurichten.

IS kann nicht mehr überraschen

Doch es ist heute für IS nicht mehr so leicht wie es in den Jahren 2012 und 2013 war, sich ein Machtmonopol zu erschleichen. Damals, als IS sich in Raqqa festsetzte, indem es die Kollegen und Rivalen vertrieb, die gemeinsam mit IS-Kräften Raqqa erobert hatten, waren die von IS angewandten Methoden neu und unbekannt. Heute kennen die Rivalen und Kollegen «des Kalifates» sein Vorgehen und lassen sich nicht mehr überrumpeln. Alle wissen, «das Kalifat» geht auf Alleinherrschaft aus. Wo immer es versucht, sich einzupflanzen, zögert es nicht, bisherige Verbündete und Helfer aus dem Wege zu räumen, wenn nötig durch Meuchelmorde an den Führungspersonen. Die anderen Gruppen des Aufstands gegen Asad setzen sich deshalb zur Wehr gegen erste Schritte von IS, sobald solche erkennbar werden.

IS zieht offenbar seine Kämpfer wieder zurück in die Schläferzellen, wenn deutlich wird, dass das angestrebte Machtmonopol – noch – nicht erreicht werden kann. Da die Rebellen ja auch im Kampf gegen Damaskus stehen und von der Regierung belagert und bombardiert werden, solange kein Waffenstillstand besteht, kann IS stets damit rechnen, dass seine Rivalen und Gegner allmählich im Kampf mit Damaskus geschwächt werden, während IS seine Kämpfer, versteckt in den Schläferzellen, unversehrt für den nächsten Versuch, ein Machtmonopol zu erschleichen, bereit hält.

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Vorbild Deutschland?

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Die Bilder vom randalierenden rechten Pöbel und seinen Mitläufern im sächsischen Heidenau sind schon fast vergessen. An ihre Stelle sind die Berichte vom Münchener Hauptbahnhof gerückt. Sie zeigen freundliches Willkommen für die zu Tausenden ankommenden Flüchtlinge und eindrückliche spontane Hilfe aus der Bevölkerung. Die Zivilgesellschaft funktioniert. Menschen reagieren aktiv, rasch und mit praktischem Sinn auf die massenhafte Not der Gestrandeten.

Die beschämenden Ausschreitungen gegen Flüchtlingsunterkünfte waren nicht Auslöser, sondern Verstärker der Solidarität. Gefördert wurde die Woge der Empathie auch von den Medien, die in breiter Phalanx gegen Hetzer auftraten und wild kursierende Falschinformationen richtigstellten; sogar die Bild-Zeitung machte mit und unterschied sich vorteilhaft etwa von der englischen Boulevardpresse, die auch bei diesem Thema nur das Prinzip des maximalen Krawalls kennt.

Deutschland ist in Europa das bevorzugte Zielland der Fliehenden und es übernimmt den Löwenanteil der gewaltigen Zunahme des ersten Halbjahrs 2015. In Hochrechnungen wird geschätzt, dass es in Deutschland in diesem Jahr bis zu 800'000, eventuell bis zu einer Million neu zugewanderte Asylsuchende werden könnte.  - Im Vorjahr waren es 170’000. Eine Herkulesaufgabe auch für ein so reiches und wohlorganisiertes Land! Die Kanzlerin macht Mut: «Wir schaffen das.» Richtigerweise zieht sie aber auch Grenzen, indem sie erklärt, nur wer in Not sei, werde bleiben können.

Ob die positive Einstellung zu den Zuzügern den Stress der wachsenden Zahlen und der unvermeidlichen Reibungen auf Dauer überstehen wird? Schweden, das in Europa relativ zur Bevölkerung das weitaus grösste Flüchtlingskontingent beherbergt, leidet unter wachsenden Problemen mit der Akzeptanz. Die rechtsnationalen Schwedendemokraten schlagen kräftig politischen Profit aus dem Asylthema und verändern das gesellschaftliche Klima des traditionell offenen Landes.

Deutschland steht vor einer Gratwanderung. Gelingt sie, so wird es möglicherweise zum Vorreiter eines menschenwürdigen und realistischen Umgangs mit dem heraufziehenden Jahrhundertproblem dieses Kontinents.

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„Dräck“ und schöne Töne

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„Meh Dräck“ würde Chris von Rohr wohl fordern. Aber wir sind nicht in einer Castingshow, sondern in der Baroque Academy im Rahmen des Menuhin Festivals in Gstaad. Und Maurice Steger drückt sich etwas distinguierter aus. Aber eigentlich meint er das gleiche: diesen besonderen Kick, der nicht in den Noten steht, dieses winzige Quantum Frechheit beim Spielen, dieses Quere, das letztlich die Persönlichkeit ausmacht. „Seid etwas exzentrischer“, fordert er seine Studenten auf.

Das Hörerlebnis, so Steger, ist zuallererst emotional. „Erst kommt die Emotion, dann die technischen Details.“ Weg vom Schönklang ist seine Devise, und er zitiert dabei auch einen Dirigenten, der mit einer jungen hübschen Sängerin mit ebenso junger hübscher Stimme gearbeitet hat. Nichts zu bemäkeln gebe es da, aber „too nice“, allzu nett sei sie halt gewesen. „Meh Dräck“ hätte wohl auch dieser Dirigent gesagt, wenn er Bärndütsch reden würde. Dann wäre die junge Dame noch besser gewesen. Maurice Steger sieht es bei seinen Studenten genauso.

Maurice Steger beim Unterricht. © Raphaël Faux
Maurice Steger beim Unterricht. © Raphaël Faux

Seit drei Jahren leitet der Flötist Maurice Steger die Baroque Academy, in der hochqualifizierte junge Musiker verschiedenster Nationalität den letzten Schliff bekommen. Dass sie tadellos, fehlerfrei und makellos Flöte spielen können und in einer Musikhochschule eingeschrieben sind, ist eine selbstverständliche Voraussetzung, um hier mitzumachen. Um später auch im Konzert Erfolg zu haben, braucht es aber mehr. Eine Ahnung davon bekommen die 35 jungen Leute hier. Und viele von ihnen sind nicht das erste Mal in der Baroque Academy.

„Es ist schon ziemlich anspruchsvoll“, sagte eine junge Musikerin. „Hier lernt man auch, sich der Konkurrenz zu stellen.“ Denn die anderen sind mindestens so gut wie man selbst, und damit muss man erst mal klarkommen. Und Zuschauer kommen auch. Manch einer der jungen Flötisten dürfte einiges Lampenfieber haben beim Spielen.

Maurice Steger gehört zu den besten Flötisten der Welt und wird am 18. Oktober in Berlin den Echo-Preis als „Instrumentalist des Jahres“ entgegen nehmen können. Für die jungen Leute also eine einmalige Chance, von einem der ganz Grossen ihres Faches lernen zu können.

Nicht zu viel an Verzierungen sollten sie ihrem Spiel beifügen, mahnt er während des Unterrichts und macht einen simplen Vergleich. „Das ist wie in der Küche. Ein italienischer Koch nimmt Tomaten, Salz und Basilikum und macht die beste Tomatensauce daraus. Da braucht es nicht noch zwölf weitere Zutaten“. Das leuchtet ein. Und eine junge Flötistin strahlt über das ganze Gesicht, nachdem sie sich an dieses “Kochrezept“ gehalten hat und nun ihr Stück ganz ohne Schnörkel vorträgt. „Wunderbar!“ lobt Maurice Steger.

„Die Flöte ist vielleicht das ehrlichste und uncharmanteste Instrument“, sagt er. Da kann man nicht mogeln. „Sie ist ein direkter Spiegel des Spielenden“. Den schlechten Ruf, den die Flöte mitunter hat, führt Steger darauf zurück, dass sie für die meisten Menschen das erste – und vielleicht einzige – Instrument ist, auf dem sie je gespielt haben. Mit Vorliebe so um die Weihnachtszeit herum. Und nicht immer mit viel Begeisterung und Können. „Bei der jungen Generation besteht das Vorurteil heute nicht mehr“, sagt Steger, „aber bei den Eltern.“ Der virtuose Gebrauch des Instruments durch ihre Kinder und der wunderbare Klang, der daraus entsteht, hat sicher viele Eltern inzwischen eines Besseren belehrt. Eine Woche dauert die Barocque Academy und am letzten Tag gibt es ein Abschlusskonzert in der Kapelle Gstaad. Diesmal ist es am 5. September.

„Meh Dräck“ musste niemand rufen, als Erwin Schrott sich auf der Bühne des grossen Festzeltes als „Don Giovanni“ austobte. Erwin Schrott gilt derzeit als Inbegriff des Mozart’schen Verführers. Er bringt eine grossartige Stimme und genügend „Dräck“ und Testosteron mit, wenn er auf die Bühne tritt. „Don Giovanni“ – das ist Erwin Schrott.

Erwin Schrott in der Rolle des Don Giovanni. © Raphaël Faux
Erwin Schrott in der Rolle des Don Giovanni. © Raphaël Faux

Es passt, dass es heiss ist an diesem Sommerabend. Schrott ist zum ersten Mal in Gstaad, das Zelt fast vollständig besetzt. Es ist eine halb-szenische Aufführung, vieles ist nur angedeutet, Bühnenbild und Requisten gibt es nicht. Der rumänische Tenor Stefan Pop singt mit und auch die junge Schweizer Nachwuchssängerin Regula Mühlemann. Es spielt das Orchester „La Scintilla“, also die Barockformation des Zürcher Opernhauses, Dirigent ist der Spanier Pablo Heras-Casado, ein Shooting Star der jüngeren Generation.

Nach dreieinhalb Stunden ist das Publikum am Schluss hell begeistert. Die Standing Ovation scheint schier endlos zu sein. Aber auch auf der anderen Seite, also auf der Bühne, herrscht Begeisterung. „Es war auch für uns ein total positives Erlebnis“, sagt Ada Pesch, Konzertmeisterin des Orchesters “La Scintilla“. „Im Zelt statt im Theater zu spielen war weniger schlimm als zunächst befürchtet. Schlimm war allerdings die Hitze für uns, für die Darm-Saiten und für den Lack.“ Musikalisch geprobt hatte man zuvor in Zürich, das Szenische wurde dann noch kurz im Zelt eingeübt. „Erwin Schrott war da sehr aktiv und hat viele Ideen eingebracht“, erzählt Ada Pesch und lacht: „Erwin war tatsächlich Don Giovanni persönlich!“ Und die Arbeit mit Pablo Heras-Casado, die sei sowieso ein Hit gewesen, schwärmt sie.

Es sind solche Produktionen, die Gstaad auch immer wieder zu einem Anziehungspunkt machen. Noch eine Woche zuvor war es Jonas Kaufmann, der Superstar unter den Tenören, der das grosse Zelt zum Brodeln brachte. Eingebettet in die malerische Landschaft des Berner Oberlandes und kombiniert mit Klassik, gespielt von internationalen Spitzenstars, behauptet sich das Menuhin Festival unter der Leitung von Christoph Müller trotz der grossen Konkurrenz von Sommer-Festspielen. Neben dem grossen Zelt liegt der besondere Charme natürlich auch in den Konzerten im intimen Rahmen der Kirchen rings um Gstaad, wo Musiker wie Andras Schiff, Sol Gabetta, Jordi Savall oder Cecilia Bartoli auftreten. Oder eben Maurice Steger, der in der Kirche Zweisimmen Vivaldi gespielt hat. Das Programm, für das er nun den Echo-Preis bekommt. In Gstaad konnte man es live hören.

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Eduardo Galeano, uruguayischer Schriftsteller, geboren heute vor 75 Jahren, gestorben am 15. April 2015

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Wenn Pele einen Freistoss ausführte, wollten sich die Spieler, die die Mauer bildeten, am liebsten umdrehen, um sich das Tor nicht entgehen zu lassen.

„Integration am Ende?"

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Am Anfang des Buchs steht ein Artikel von Jörg Thalmann, den er im Februar 2014 im Journal21.ch geschrieben hat. Der inzwischen verstorbene Autor hält fest:

„Ich bin europhil, ein Anhänger der Einigung Europas und Verteidiger der EU. Ich bin auch Schweizer Patriot, stolz auf den einzigen Staat der Welt, der den Letztentscheid über seine Politik seinen Bürgern anvertraut. Wie reagiert ein europäischer Schweizer Patriot auf das Ja vom Sonntag (den 9. Februar 2014)?“

„Ein Lesebuch“ nennen Max Schweizer und Dominique Ursprung das eben erschienene Buch *). Die beiden haben 70 Artikel zur europäischen Integration und ihrer Auswirkungen auf die Schweiz gesammelt.

Diplomaten, Historiker, Politiker und Journalisten schicken uns auf eine Zeitreise durch die europäischen Einigungsbemühungen. Stationen sind unter anderem die Gründung der Efta, der Versuch der Schweiz, sich mit der EWG zu assoziieren (1962), bilaterale Freihandelsabkommen mit der EWG (1972), das „EWR-Trauma“ von 1992, die Bilateralen I und II – und dann eben der 9. Februar 2014.

Max Schweizer (Foto: Kilian J. Kessler, ZHAW)
Max Schweizer (Foto: Kilian J. Kessler, ZHAW)

Journal21: Max Schweizer, Sie waren viele Jahre als Diplomat für das EDA tätig, unter anderem als Stellvertretender Chef der ständigen Mission der Schweiz bei der Welthandelsorganisation WTO und der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA in Genf. Anschliessend dozierten Sie an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW). Wenn Sie von einem Studenten gefragt werden: „Wie geht es nun weiter mit der Schweizer Integration?“ Was sagen sie ihm?

Max Schweizer: Ich sage ihm zuerst einmal, dass er bei der damaligen Abstimmung mitentschied, indem er nicht zur Urne ging. Mit meiner Unterstellung liege ich meist nicht ganz falsch...

Darauf verweise ich auf das Prozesshafte der anstehenden Herausforderung und mahne, dass man nicht in Hysterie verfallen soll. Der Ball liegt jetzt bei der Landesregierung, das Weitere wird sich zeigen.

Sie publizieren einen Artikel des Basler Historikers Georg Kreis. Er sagt, dass „falsche Volksentscheide“ schon in der Vergangenheit korrigiert worden seien. Was halten Sie von der Volksinitiative RASA („Raus aus der Sackgasse?“).

Eine Demokratie mit Initiative und Referendum ist keine einfache Regierungsform. Volksentscheide sind ernst zu nehmen, sie sagen in jedem Fall etwas aus. Wenn neue Fakten vorliegen wie etwa der effektive Preis einer Weichenstellung, so kann man das neu beurteilen. Die seinerzeitige Annahme der Mehrwertsteuervorlage gelang, sofern ich mich richtig erinnere, erst beim dritten Mal. Die RASA-Volksinitiative schwächt m. E. die Verhandlungsposition des Bundesrats, für mich kommt sie zu früh.

Und wenn die RASA-Initiative, die jetzt zustande gekommen ist, dann abgelehnt würde, wäre der Scherbenhaufen komplett.

Ich teile diese Meinung nur bedingt. Der „Scherbenhaufen“ würde möglicherweise glaubwürdig bestätigen, dass die Mehrheit in diesem Lande eine andere Entwicklung will. Ich erinnere daran, dass die EU in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei die Personenfreizügigkeit selbst ausgeschlossen hat. Natürlich nützt uns dies jetzt nichts; der Hinweis relativiert aber den quasi sakrosankten Charakter den die EU der Freizügigkeit gerne zuordnet. Das seinerzeit bessere Verhandlungsresultat Liechtensteins (Ausnahmeregelungen punkto Freizügigkeit im Rahmen des EWR) ist ein Fingerzeig dafür, dass vielleicht auch die Schweiz eine griffigere Schutzklausel hätte erreichen können. Diesbezüglich sind die Ausführungen von Jakob Kellenberger in seinem Buch „Wo liegt die Schweiz?“ lesenswert: er benennt den grossen innenpolitischen Druck, der auf ihm lastete, die sogenannten „Bilateralen I“ endlich zum Abschluss zu bringen.

Sie schreiben, für Brüssel sei die europapolitische Debatte, die in der Schweiz geführt wird, „von geringer Relevanz“. Heisst das: Was die Schweiz denkt, ist unwichtig, Brüssel wird sich ohnehin durchsetzen?

Es ist in der Tat so, dass die Schweiz verhandlungstaktisch in einer wenig erfreulichen Situation ist. Sie hat ein Prinzip – unter falschen Prämissen - allzu leichtfertig übernommen. In anderen Worten: sie hat das Ausmass der Zuwanderung damals völlig unterschätzt, und die Regierung sieht sich jetzt gezwungen, zu versuchen dies in Brüssel zu korrigieren. Juristisch gesehen, ist der Fall klar;   politisch leicht weniger. Der „innenpolitische Diskurs“ zeigt den aussenstehenden Beobachtern die Dynamik der Debatte auf. Meist haben diese aber ein so anders geartetes Beurteilungssystem, dass sie die Geschehnisse gar nicht richtig einordnen können. So reduziert sich dann der Dialog darauf, dass uns im Wesentlichen der Preis für den von uns gewünschten Marktzugang in die Europäische Zollunion  genannt wird.

Seit einigen Jahren kann man in der Schweiz Einigelungstendenzen feststellen. Wo sehen Sie die Gründe dafür?

Ich weiss nicht, von welchen „Einigelungstendenzen“ Sie sprechen, was sind die Fakten? – Mehr Zuwanderung, mehr Grenzgänger, mehr Einkäufe über die Grenze, mehr Exporte an Gütern und Dienstleistungen, mehr gegenseitige  Investitionen, mehr Reisen der Bundesräte nach Brüssel, mehr parlamentarische Kontakte, anhaltende Übernahme von EU-Recht, die vielen Erasmus-Austauschsemester, …

Dass die heutige Schweiz mit dem lange zelebrierten Schweiz-Bild nicht mehr in Einklang steht, schmerzt nicht Wenige. Sie haben den 1.August-Rednern vielleicht allzu blauäugig zugehört und das Lied der „souveränen Schweiz“ zu stark verinnerlicht!

Bayern, Baden-Württemberg, Vorarlberg und Südtirol gehören zur EU – und es geht ihnen wirtschaftlich gut. Sie übernehmen einen Artikel von Othmar von Matt, der deshalb einen EU-Beitritt empfiehlt. Kann man Bayern mit der Schweiz vergleichen?

Selbstverständlich kann man Bayern nicht so direkt mit der Schweiz vergleichen, die jeweilige Geschichte ist zu verschieden. Hinzu kommt, dass Bayern flächenmässig um einiges grösser ist und fast 13 Millionen Einwohner hat. In einem Punkt unterscheiden wir uns besonders: Der Freistaat Bayern ist ein Bundesland Deutschlands, die Schweiz ist ein eigener Staat. In der Familie der Nationen hat nur die Schweiz noch eine Stimme; Bayern hat schon lange keine mehr...dies können auch die rund 30 Mitarbeiter der eigenen bayerischen Vertretung bei der EU in Brüssel nicht ändern!

Wenn wir von einem Staat oder einer Nation sprechen, so kommen viele Faktoren jenseits der Wirtschaft hinzu. Diese kann man nicht einfach ignorieren, auch wenn der Begriff der „Souveränität“ nicht überstrapaziert werden soll. Ob die starke wirtschaftliche Verflechtung mit den uns angrenzenden Regionen hilft, dass sich die Nachbarländer für eine sinnvolle Lösung in und mit der EU bei der Personenfreizügigkeit einsetzen, muss sich zeigen.

Die EU, eigentlich ein grossartiges Projekt, war schon einmal beliebter, sowohl in der EU selbst als auch in der Schweiz. Woher rührt dieser Popularitätsverlust?

Natürlich ist die EU ein grossartiges Vorhaben, und wir gratulieren unseren Mitbewohnern in Europa ja auch herzlich dazu. Doch wie soll man die Finalitäten der EU, ein «immer engeren Zusammenschlusses der europäischen Völker», mit den eigenen, schweizerischen Vorstellungen eines direktdemokratischen Staates vereinbaren, wenn die Endziele nie abschliessend definiert wurden? Bereits vor 15 Jahren hat Herbert Lüthy auf diese Problematik hingewiesen und sogar von einer „geographischen und inhaltlichen Dehnbarkeit dieser Finalitäten“ gesprochen. Das ist ja zwischenzeitlich auch eingetreten...

Hinzu kommt der französische Zentralismus, der in einem Übermass in das Projekt eingeflossen ist. So gesehen kollidieren die Schweiz und die EU gleich zwei Mal.

Die Herausforderungen, mit denen sich die EU und ihre Mitgliedstaaten heute konfrontiert sehen, waren in ihren idealistischen Konzepten nicht vorgesehen. Also müssen im „Krisenmodus“ laufend neue Antworten und Lösungen gefunden werden. Die EU, die ihre Ratschläge ungefragt weltweit, z. T.  erstaunlich breitspurig, verteilte, hat einen Prestigeverlust erlitten: als Krisenmanager hat sie Mühe ihre Steuerzahler weiter gut gelaunt hinter sich zu scharen.

Kann man von einer Krise der EU sprechen?

Ein Vorhaben, wie das der „Europäischen Einigung“, kann gar nichts anderes sein, als eine Reihe von Krisen. Dabei gibt es grössere und kleinere, sofort sichtbare und verstecktere, sofort wirksame und solche mit späterer Wirkung etc. Es gibt fortwährend nicht eine Krise, sondern deren viele: die Wirklichkeit holt die grossen Würfe immer wieder ein.

Kann sich die Schweiz überhaupt, wenn sie gut überleben will, langfristig einer europäischen Integration entziehen?

Die Schweiz ist weitgehend integriert – in die Weltwirtschaft und besonders in die Europäische Union. Historisch betrachtet ist das was jetzt ansteht eigentlich eine Banalität: Es ist eine Verlangsamung des europäischen Migrations-Prozesses (Freizügigkeit), der so überraschend dynamisch verlief.

Weshalb die unverhoffte Zuwanderungs-Dynamik?

Weil die Wirtschaftskonzepte in Deutschland, Frankreich, Italien, Griechenland, Portugal, Spanien nicht so erfolgreich waren, wie man damals annahm: Besonnenheit, Beharrlichkeit und Weitblick sind nun auf beiden Seiten des Verhandlungstisches gefragt!

*) Max Schweizer, Dominique Ursprung: Integration am Ende, Die Schweiz im Diskurs über ihre Europapolitik. Ein Lesebuch, Chronos Verlag Zürich, 2015, ISBN 078-3-0340-1313

Max Schweizer ist seit Sommer 2015 Präsident des Vereins SwissDiplomats – ZurichNetwork.

Dominique Ursprung ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ZHAW School of Management and Law. Er ist Präsident der Alumni-Vereinigung und Vorstandsmitglied der Swiss-Japanese Chamber of Commerce (SJCC).

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"... man kann es nie vergessen"

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Drei gute Gründe, seine Heimat zu verlassen und sich auf eine völlig ungewisse Zukunft einzulassen. Und was die Flüchtlinge erwartet, ist ebenfalls ein Dreiklang: Entwurzelung. Entwertung. Entwürdigung.

Wenn man 1939 in Berlin geboren ist, ist Flucht zu irgendeinem Zeitpunkt der Kindheit programmiert. Mein Flüchtlingsdasein begann im Frühsommer 1943, als die Fliegerangriffe zunahmen und die Sicherheit der Stadtbevölkerung nicht mehr gewährleistet werden konnte: Es wurde beschlossen, Frauen und Kinder aus der Stadt zu entfernen und in andere, „sichere“ deutsche Gebiete zu verfrachten. Wir, meine Mutter und ich, waren für die Evakuierung nach Ostpreussen vorgesehen, und so sehr sich meine Mutter dagegen wehrte, so wenig nützte der Widerstand, nicht zuletzt, weil das Haus, in dem wir wohnten, bereits zweimal bombardiert worden war. Also durften wir zusammenpacken, was wir tragen konnten, in einen Zug steigen und in ein Kaff in der Nähe von Königsberg fahren. Damit endete mehr oder weniger meine Kindheit, zumindest der Teil, den ich mit meiner Mutter zusammen in einer bürgerlich-komfortablen Wohnung in einem angenehmen Berliner Stadtteil erlebt hatte.

Ostpreussen war Entwicklungsgebiet. Es war eine der Kornkammern des Landes, und das bedeutete: ländliche Bevölkerung, der Lesen und Schreiben wesentlich ferner lagen als Kühemelken und Heueinfahren. Selbstverständlich hatte die dortige Bevölkerung eine Riesenfreude, diese Fremden bei sich aufzunehmen, beziehungsweise sie bei sich einquartieren lassen zu müssen. Das hatten sie sich doch schon lange gewünscht: eine elegante Berlinerin mit einer Vierjährigen, die mit Messer und Gabel essen und sich ausdrücken konnte! Wir bekamen eine Kammer unter dem Dach des einzigen Wirtshauses, in deren ca. 12 Quadratmetern wir von nun an hausten, kochten, schliefen, assen, schwitzten oder froren. Immerhin gab es noch Platz für einen Kleiderschrank, einen Waschtisch und einen Gaskocher, und da Mütter in solchen Fällen gewöhnlich über sich hinauswachsen, versuchte meine Mutter, uns daraus ein „Heim“ zu machen.

Ich bot ihr jedoch eine neue Herausforderung, indem ich die Dachkammer zu einer fast permanenten Krankenstube machte: In kurzer Zeit wurde ich mit Gelbsucht ins Bett gesteckt (meine Mutter sollte für mich Diät kochen!), dann bekam ich, dreimal nacheinander die so genannte „polnische Krankheit“, offiziell als Krätze bekannt, von den Kindern, mit denen ich spielte und denen Hygiene ein unbekannter Begriff war, und schliesslich gelang es mir, auf dem Rücksitz eines Fahrrads einen Fuss in die Speichen des Rades zu stecken und mir eine zünftige Fussverletzung zuzuziehen. Ich weiss nicht, wie meine Mutter im folgenden ostpreussischen Winter auch noch damit zurechtgekommen ist, dass ich an Scharlach erkrankte. Vielleicht war sie froh, dass sich diese Krankheit nicht in der Mansarde abspielte, sondern in einem Spital, das wohl in Königsberg gestanden haben muss, aber der Anblick ihrer heulenden Fünfjährigen, die Weihnachten auf der  Quarantänestation mit drei alten Frauen und vielen jungen Mäusen im selben Zimmer verbringen musste, wird ihr ebenfalls zugesetzt haben.

Die Dorfbewohner hassten uns und versäumten keine Gelegenheit, uns das spüren zu lassen. Egal, was wir taten oder liessen, wir riefen ihre Kritik, ihren Argwohn, ihre Ablehnung hervor. Noch hatten sie genug zu essen, aber sie liessen uns wissen, dass die Vorräte für die Landbevölkerung, nicht für die Einquartierten gedacht war. Zwar gab es keine Fliegerangriffe, dafür aber eine näherrückende sowjetische Armee, und als die zu nahe kam, gab es dann die zweite Evakuierung: diesmal nach Thüringen, in ein 2000-Seelen-Dorf in der Nähe von Eisleben. War es möglich, dass die Kluft zwischen den Einheimischen und den Aufgezwungenen noch grösser sein konnte als in Ostpreussen? Es war, und da sich 1944/1945 die Situation auch für die Zivilbevölkerung drastisch verschärfte, waren Angst, Ablehnung und Widerstand auch gewachsen. Als Flüchtlinge hatten wir keine Wahl, denn inzwischen war bei einem erneuten Direktangriff auf die Innenstadt Berlin unser Wohnhaus in Berlin in einen Trümmerhaufen verwandelt worden. Das heisst im Klartext: Alles, was vor der Evakuierung noch von unserer Wohnung und der Einrichtung vor Ostpreussen existiert hatte, war weg. Sogar die Adresse gab es nur noch bei der Auflistung dessen, was unter den Trümmern lag, wofür es natürlich in deutscher Beamtenmanier eine Quittung gab. Wir waren total ausgebombt und existierten nur noch auf dem Papier. Um so wichtiger wurden diese Papiere: Quittungen, Listen, Personalscheine, Lebensmittelkartenbezugsberechtigungen, Geburtsurkunden (von meiner Mutter überall mit hingenommen und wie ihren Augapfel gehütet), Bestätigungen und Genehmigungen. Das vorherige Leben war weg; was noch daran erinnerte, gab es auf ein paar Fetzen Papier.

Für Nostalgie war allerdings weder Raum noch Zeit. Meine Mutter war traumatisiert, denn um ein Haar wäre ihre schlimmsrte Befürchtung wahr geworden: Bei der Evakuierung nach Thüringen in einem völlig überfüllten Zug wurden wir beim Einsteigen getrennt! Die Welt war voll von Geschichten über getrennte Familienmitglieder, die sich nie mehr wiedergefunden hatten, und für sie war die Trennung von ihrer Tochter der Albtraum par excellence. Plätzlich wurde dieser Albtraum Wirklichkeit: Dutzende von Menschen drängten sich an der Tür des Waggons, und auf einmal hatte sie mich verloren. So schnell sie konnte, drängte sie sich zu einem Fenster, und zu ihrer Erleichterung sah sie mich auf den Armen eines Mannes, der die sich anbahnende Tragödie offenbar mitbekommen hatte. „Dieses Kind muss noch mit!“ schrie er, und über die Köpfe von mindestens drei Reihen Menschen, die sich noch ausserhalb des Wagens befanden, gelang es ihm, mich durch das Fenster zu reichen und Mutter mit Kind zu vereinen.

Meine Mutter sollte Mühe haben, dieses Erlebnis zu verarbeiten, aber bald schon musste sie sich um andere Dinge kümmern. Nahrung zu besorgen, wurde ein Vollzeitjob, das Tauschgeschäft blühte: Zwei- bis dreimal pro Woche ging sie „über Land“, wie es hiess, nämlich von Gehöft zu Gehöft, um in langwierigen Verhandlungen, durchgeführt mit Geduld, Charme sowie Bitten und Flehen, zwei Eier, 500 Gramm Kartoffeln  oder etwas Mehl zu bekommen. Die Bauern liessen sich anflehen und schacherten mit dem Recht der Besitzenden:  Nägel, Werkzeuge, Porzellan und natürlich Schmuckstücke aller Arten wurden zu begehrten Zahlungsmitteln, und ja, es hat sie wirklich gegeben, die Bauern, die mehrere Perserteppiche aufeinandergetürmt hatten, manchmal sogar in Kuhställen. Aber der Mai 1945 rückte immer näher, und zu den ganz praktischen Problemen kamen jetzt noch ideologische hinzu. Meine Mutter hatte nie den Mund gehalten und im Berliner Luftschutzkeller bereits besorgte wie auch giftige Blicke auf sich gezogen, wenn sie Hitler-Witze erzählt und aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht hatte. Je näher das Kriegsende kam, desto mehr legte sie sich mit Gesinnungstreuen an, die noch an Geheimwaffen, Überraschungsangriffe und den Endsieg glaubten. Ich bin sicher, wir waren auf manch einer schwarzen bzw. braunen Liste verewigt.

Als die Amerikaner im Mai 1945 einmarschierten, stand meine Mutter, zusammen mit mir und anderen Dorfbewohnerinnen, in der Warteschlaufe vor einem Laden, der gerade irgendein Lebensmittel zum Verkauf anbot. Der Offizier auf dem ersten Wagen sprang ab und ging mit vorgehaltenem Maschinengewehr auf die Gruppe zu. „Na, wo ist er denn jetzt, Euer Führer?“ schrie er in gebrochenem Deutsch und blieb vor meiner Mutter stehen. Plötzlich waren die Frauen froh um die verhandlungsgewohnte Städterin, der es immerhin gelang, dem Amerikaner klar zu machen, dass es hier nur unbewaffnete Frauen gab (von denen eine sogar noch eine Regimegegnerin war), die keine Gefahr bedeuteten, und dass sowohl sein Sarkasmus als auch die Angst, die sich auf den Gesichtern der jungen Soldaten zeigte, unnötig waren. Niemand kam zu Schaden, und meine Mutter hatte plötzlich Heldinnenstatus erlangt.

Terror

Vielleicht hatte dieser Status auch etwas damit zu tun, dass sie, obwohl erst im vierten Monat, bereits ziemlich sichtbar schwanger war... Das hatte gerade noch gefehlt! Es ist jedoch anzunehmen, dass ihr Zustand sie vor Vergewaltigungen bewahrt hat, denn leider blieb es nicht bei der Befreiung durch die Amerikaner: Als Deutschland endgültig in vier Besatzungszonen aufgeteilt worden war, gehörte Thüringen zum Osten, und so übernahmen die Russen das Kommando. Im Vergleich mit ihnen war der maschinengewehrbewaffnete amerikanische Offizier geradezu liebenswürdig.

Als Sechsjährige wusste ich natürlich nicht, was eine Vergewaltigung war, aber die Schreie, die nachts durchs Dorf hallten, und die verstörten Frauen, die tagsüber mit einer Mischung aus Scham(!), Angst und Schmerzen in den Hauseingängen verschwanden, flössten mir grosse Angst ein. Dazu kamen Hunger, eine gesundheitlich angeschlagene Mutter, die eigentlich für zwei essen sollte, aber noch nicht einmal genug Nahrung für eine Person hatte, ein Zuzüger in Gestalt meines Vaters, der aus britischer Gefangenschaft entlassen worden war und sich jetzt vor den Russen in Acht nehmen musste, sowie die Angst, dass die sich für den nächsten Tag eine neue Schikane einfallen lassen könnten, nachdem sie bereits alle Häuser geplündert hatten. Ich wurde im Herbst, ein halbes Jahr zu spät, eingeschult und konnte mich mit dem Erlernen von Schreiben und Lesen ein wenig ablenken; meine Schwester liess sich Zeit, kam vierzehn Tage zu spät zur Welt, und meine Mutter wurde immer dünner.

Was für eine Freude, als die Besatzungsmächte eine Flurbereinigung vornahmen und als Sofortmassnahme dekretierten, dass innerhalb von ein paar Wochen alle Evakuierten in ihre Heimatorte zurückkehren konnten – mit einer Ausnahme: Berlin. Die Freude meiner Mutter über ein mögliches Ende unseres Flüchtlingsdaseins schlug in Trauer und Wut um, denn das hiess nun, dass wir nach Duisburg, dem Geburtsort meines Vaters, verfrachtet werden sollten. Immerhin: Dort wohnte eine seiner Schwestern mit Mann und drei Söhnen in einer sehr komfortablen 5-Zimmer-Wohnung, die nie mit Bomben in Berührung gekommen war. Eine Rückkehr zur Zivilsation zeichnete sich ab...

Am 9. Januar 1946 machten wir uns auf zu einem bestimmten Checkpoint an einem der offiziellen Übergänge zwischen der russischen und der britischen Besatzungszone. Vater, Mutter und die Sechsjährige, die ein paar Wochen später sieben Jahre alt sein würde, hatten in jeder Hand ein Bündel mit unseren noch verbleibenden Besitztümern, wobei meine Mutter mit ihrem nicht mehr vorhandenen Bauch noch den Kinderwagen, den sie irgendwo gebraucht ergattert hatte, schob. Der Trek setzte sich bei klirrender Kälte auf dem Schotterpflaster in Bewegung, und danach war jede(r) sich selbst der Nächste. Meine zwei Monate alte Schwester trug zum allgemeinen Wohlbefinden bei, indem sie ununterbrochen wimmerte oder schrie. Obwohl meine Mutter sie regelmässig stillte, hörte das Weinen nicht auf, und die Nerven lagen blank.

Ich weiss nicht mehr, wie viele Kilometer wir in dieser Formation zurückgelegt haben, ich weiss nur noch, dass wir um 16.15 Uhr am Bahnhof ankamen. Warum ich das jetzt so genau weiss? Nun, das Bahnhofsbüro hatte um 16.00 Uhr Dienstschluss, und in treu-nazideutscher Manier dachten die Bahnbeamten nicht im Traum daran, uns noch abzufertigen – sie schickten uns einfach zurück mit der Ermahnung, am nächsten Tag pünktlicher zu sein. Wo und wie wir die Nacht verbracht haben, weiss ich auch nicht mehr, aber ich sehe uns noch am nächsten Morgen in der Dunkelheit, beladen wie am Vortage, den Weg wieder unter die Füsse nehmen. Eine grosse Änderung jedoch gab es: Meine Schwester weinte nicht mehr. Wo immer wir untergekommen waren, hatte sich meine Mutter zuerst mal um das Baby gekümmert, und siehe da, das kluge kleine Mädchen hatte sich nur gewehrt: Der Kinderwagen war unter ihr vollbepackt mit Textilien gewesen; auf dem Schotter war der Wagen auf- und abgehopst, wodurch ihre Stirn immer wieder mit einem Metallstift des Verdecks in Berührung gekommen und eine Wunde verursacht hatte. Wer hätte da nicht gewimmert! Diesmal schafften wir es zur Zeit, die Formalitäten dauerten zwar lange, aber wir waren im buchstäblich letzten Zug, der die russische Besatzungszone offiziell verlassen durfte!

Elend

Helmstedt war unser offizielles Auffanglager,wo Hunderte von Menschen herumwuselten: Flüchtlinge, Helfer, Rotkreuzschwestern, Ärzte und DDT-Experten. Letztere waren voll beschäftigt mit unserer Entlausung – egal, ob wir Läuse hatten oder nicht. Als ich nach dieser Prozedur aus dem Zelt kam, meinte ich, meine Mutter neben dem Kinderwagen zu sehen, aber beim zweiten Hingucken war sie nicht mehr da. Ein dritter Blick zeigte mir, wo sie war: auf der Erde, zusammengesunken neben dem Kinderwagen. Im Spitalzelt kam man schnell zu einer Diagnose für die Wöchnerin, die noch 47 Kilogramm wog: „Hungerödem!“ rief der Arzt den Krankenschwestern zu. Meine Mutter bekam eine extra Ration Lebensmittel und wurde in den Zug nach Duisburg gebracht. Dort hatten die Forderungen des Alltags mit einem Säugling Vorrang: Irgendwie hatte sie einen Eimer mit Wasser organisiert, kaltem Wasser natürlich, und sah endlich eine Gelegenheit, die Windeln zu waschen, die sie auf einer längs durch den Waggon gespannten Leine aufhängte. In nur wenigen Minuten stank der ganze Wagen nach Salmiak, die Windeln waren natürlich nicht sauber, nur weniger schmutzig, aber die Tatsache, dass der Zug keine Fensterscheiben mehr aufwies, sondern nur mit dünner Pappe verkleidete Löcher, half uns und den anderen Schicksalsgenossen, mit dem Gestank fertigzuwerden. Zudem überwog das Glücksgefühl, freie Luft atmen zu können, keine russischen Soldaten mehr sehen und hören zu müssen und einer „sicheren“ Zukunft entgegenzusehen.

Machen wir’s kurz, obwohl es viele Jahre gedauert hat und eine Erfahrung gewesen ist, die man nie vergisst: Auch in Duisburg waren wir nur Geduldete.

Wir wurden in einem alten Luftschutzbunker einquartiert, wieder mal entlaust, mit einem alten Kopfkissen und einer Militärdecke ausgerüstet und zu einer doppelstöckigen Pritsche geführt. 70 Jahre später kann ich mir noch die einmalige Geruchsmischung aus Desinfektionsmitteln, Kernseife und den Gerüchen von Erwachsenen, die lange nicht mit Wasser in Berührung gekommen sind, in Erinnerung rufen. Die Familie meines Vaters wohnte in einer Überbauung gegenüber dem Bunker; sie übereilte nichts und liess sich einige Tage Zeit, bevor wir ihre Wohnung betreten durften. Dort bekamen wir ein Stück Kuchen, die Eltern einen dünnen Kaffee dazu und viele Ermahnungen, was wir zu tun oder zu lassen hätten, wobei unendliche Dankbarkeit den Verwandten gegenüber ganz oben auf der Liste stand. Das Baby schrie mal wieder, die Tante bekam Kopfschmerzen, und die ganze Familie bemühte sich, uns so schnell wie möglich wieder in den Bunker zu spedieren. Und damit war das für uns bestimmte Hilfekontingent auch bereits erschöpft.

Nach ca. zehn Tagen wurde uns eine Dienstbotenkammer in einem der Häuser der Überbauung zugewiesen; wenig später durften wir eine kleine, abgeschrägte Mansarde dazunehmen, und Jahre später kam noch eine dritte hinzu. Jahre später? Ja, wir haben aufgrund der Tatsache, dass mein Vater keine Arbeit fand (hauptsächlich, weil er keine suchte), bis 1955 in den drei Mansarden gelebt, ohne fliessendes Wasser, ohne Kochherd, ohne abschliessbare Wohnungstüre.

In den ersten Jahren ist meine Mutter vor Heimweh fast krank geworden. Das ging so weit, dass sie sich entschloss, zweimal über die so genannte „grüne Grenze“ zu gehen, wobei sie die Dienste von Schleppern in Anspruch nehmen musste. Aus was-immer-auch für Gründen bestand sie darauf, mich beim ersten Mal mitzunehmen, und ich werde nie den Anblick vergessen, wie sie auf dem grossen Trümmerhaufen, der einmal vier oder fünf Jahre zuvor unser mehrstöckiges Wohnhaus gewesen war, mit blossen Händen nach Gegenständen grub, die einmal uns gehört hatten, bis sie die Suche mit einem Tränenausbruch erfolglos abbrach. Ich heulte aus Solidarität kräftig mit, obwohl ich den grossen Verlust gar nicht ermessen konnte. Auf dem nächtlichen Grenzübertritt brachte ich übrigens die ganze Gesellschaft, ca. ein Dutzend Frauen und Männer, in Lebensgefahr, als ich im Dunkeln auf einen Frosch trat, der vor mir hochsprang, was ich mit einem kleinen Schrei quittierte. Der Schrei bewirkte Hundegebell und Rufe der Grenzwächter, die zum Glück wohl keine Lust hatten, nach illegalen Grenzgängern zu suchen...

1955 fand die Diskriminierung von Berlinern ein Ende: Wer wollte, konnte sich „rückevakuieren“ lassen, wie der schöne Ausdruck hiess. Meine Mutter wollte, ich auch, besonders da mein Vater nicht wollte und sich so eine längst überfällige Scheidung fast von alleine ergab. Nicht dass die Rückkehr nach Berlin eitel Wonne gewesen wäre – Sozialwohnungen sind es selten, aber nach zwölf Jahren entschädigte der Anblick einer Küche und eines Badezimmers für viele Entbehrungen. Doch selbst in Berlin gab es Leute, die mit uns nichts anfangen konnten – wir hatten ja schliesslich nicht das Kriegsende und die ersten Nachkriegsjahre, den grauenhaften Winter 1946/47 oder die ständige Bedrohung durch irgendeine Schikane der Russen dort erlebt, und hatten uns auch nicht diese miefig-trotzige Inselmentalität angeeignet. Irgendwie gehörten wir in den Augen der gebliebenen Berliner nicht richtig dazu...

Krieg. Terror. Elend. Man kann es sich kaum vorstellen, wenn man es nicht erlebt hat, aber ebensowenig kann man es je vergessen. Mit der Entwurzelung lässt sich leben; man kann woanders neue Wurzeln entstehen lassen. Die Entwertung des früheren Lebens in den Augen der Gastnationen jedoch hinterlässt Narben und die Entwürdigung in einem Moment, wo man auf Hilfe und Zuwendung angewiesen ist, bleibt auf ewig im Gedächtnis. Es ist schön zu sehen, wie viele Europäer heute die Flüchtlingsproblematik anders sehen und wertvolle Erste Hilfe leisten.

Ich habe meinem Flüchtlingsdasein ein drastisches Ende gesetzt: 1962 bin ich alleine nach New York ausgewandert. Als ich am 5. September 1962 den Schiffssteg hinunterging, habe ich mich zum ersten Mal in meinem Leben frei und willkommen gefühlt.

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Verkorkste Reform

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Vor zehn Jahren trat die überarbeitete Rechtschreibreform der deutschen Sprache in Kraft. Die Jubiläums-Bilanz ist ernüchternd. Denn das Ziel, mit vereinfachten Sprachregeln deren Erlernung zu erleichtern und deren Beherrschung zu erhöhen, wurde weit verfehlt. Die Kritiker der Neuordnung wiesen auf die Unzulänglichkeiten und Widersinnigkeiten hin und sagten das Debakel voraus.

Es führte zu einer babylonischen Verwirrung. Schulen und Behörden folgen der verunglückten Reform, Buchverlage, Zeitungen, Zeitschriften und Presseagenturen ihren plausiblen Hausregeln und Private ihrem Bauchgefühl. In Schulaufsätzen, Geschäftstexten, Zeitungsartikeln, Büchern und E-Mails zeigt sich ein Chaos, das Lesbarkeit und Verstehbarkeit erschwert.

Deutsch ist nicht leicht zu haben. Es bleibt der Irrtum der Reform, die Regeln jenen anpassen zu wollen, denen der schriftliche Ausdruck Mühe bereitet. Eine versimpelte Sprache vermag eine Welt, die bis in den Alltag hinein komplexer wird, immer weniger zu beschreiben.

Die Hoffnung auf eine vernünftige Revision der von Glaubenskriegern durchgestierten Reform ist vergeblich. Das ausgerechnet auch von unseren Erziehungsdirektionen zur Pflicht erhobene Stümpern und Wursteln geht weiter. 

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Auf Feindfahrt nach Fernost

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„Im vorbestimmten Kleinquadrat aufgetaucht. Zeit: 28.9.1944, Abenddämmerung. Der Osten wird immer dunkler, im Westen noch gute Sicht. Plötzlich der Ruf: Flieger steuerbord voraus! An Bord schrillen die Alarmglocken. Im nächsten Moment erwacht das Boot zu hektischem Leben. Alle Männer rennen auf ihre Gefechtsstationen. Da die Maschine in nördlicher Richtung in circa 60 bis 80 Metern Höhe fliegt, sieht uns der Pilot zu spät. So zieht er einen Kreis ausserhalb der Reichweite unseres 2-cm-Flakvierlings und des 3,7-cm-Flakgeschützes und nähert sich erneut, diesmal von steuerbord, so dass er uns im helleren Westen hat.

Unsere Zwillinge und die 3,7-Halbautomatik hämmern los und treffen ihn, während er seine Bombe ausklinkt. Sie schlägt knapp backbord voraus ein, so dass die Wasserfontäne über uns zusammenbricht. K. gibt kurze Kommandos an den Rudergänger, während wir zuschauen, wie der Flieger mit einer Feuer- und Rauchfahne auf Backbordseite im Westen in den Bach fällt, Abstand etwa 2000 bis 3000 Meter.“

So schilderte der Obersteuermann des Unterseebotes U 219, Franz Klump, in einem 43-seitigen hektographierten Manuskript, eine Art Logbuch, unter dem Titel „Es war einmal… Bericht über das Schicksal von U-219 und seiner Besatzung von 1944 bis 1946“ in seinem Eintrag vom 28. September 1944 den Abschuss eines amerikanischen Flugzeugs.

Seit Jahren kursiert dieses Manuskript, in dem Klump die Fahrt, den Aufenthalt in Java, Kapitulation, Gefangenschaft und Heimkehr beschreibt, in Jakarta. Seit Jahren erzählt man sich in Indonesien abenteuerliche Geschichten von gesunkenen U-Booten, mit Gold und anderen Schätzen beladen. Doch als vor ein paar Jahren Fischer in der Javasee tatsächlich ein gesunkenes deutsches U-Boot entdeckt hatten, fanden die Archäologen, die das Wrack untersuchten, nur Nazi-Insignien, Essensgeschirr und die Überreste von 17 Seeleuten.

U-Boote als Frachter

Seit Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion im Sommer 1941 war der Landweg, auf dem notwendige Rohmaterialien aus Asien nach Deutschland transportiert werden konnten, verschlossen. Zudem kontrollierten inzwischen nicht mehr Hermann Görings Piloten, sondern die Luftwaffen Grossbritanniens und der USA den Himmel und bedrohten die deutsche Seeschifffahrt. Noch in der Mündung der Gironde, beim Auslaufhafen in Bordeaux, ging U-219 auf Tauchstation. „Nachmittags können wir durch das Sehrohr zusehen, wie zwei deutsche Schiffe, zufällig aus der Biskaya kommend, von ca. 40 MOSQUITOS angegriffen werden.“

Doch Deutschland brauchte dringend die kriegswichtigen Rohstoffe Asiens: Zinn, Wolfram, Molybdän, Kautschuk. So verfiel die deutsche Marineleitung auf die Idee, U-Boote als Frachtschiffe einzusetzen. 18 Monate zuvor, am 18. Januar 1942, hatten die Achsenmächte ein dreiseitiges „Abkommen zur militärischen Zusammenarbeit“ geschlossen. Und nun stellte Japan, das ganz Südostasien besetzt hielt, den Deutschen geeignete Häfen zur Verfügung. Aus einer ehemaligen britischen Wasserflugzeug-Station auf Penang vor der Westküste der malaiischen Halbinsel wurde ein deutscher U-Boot-Stützpunkt, Surabaya diente als Versorgungsbasis, während Werften in Batavia (heute Jakarta) und Singapur vorrangig als Reparaturstützpunkte dienten. Ein fünfter Stützpunkt für deutsche U-Boote wurde im japanischen Kobe eingerichtet.

Anfang Juli 1943 lief die erste „Monsun-Gruppe“, wie sie genannt wurde, aus. Zuvor erging der Befehl, dass „ab sofort auch für die Kriegsmarine der DEUTSCHE GRUSS eingeführt wird. Der Befehl kam von Göring“, notierte Klump. Es half nichts. Von den elf Booten dieser ersten Monsun-Gruppe erreichten nur fünf ihr Einsatzgebiet. Also erteilte die Marineleitung fünf weiteren U-Booten den Marschbefehl in den Indischen Ozean. Von diesem zweiten „Wolfsrudel“ kam nur ein einziges Schiff in Batavia an, U-219, ein U-Boot vom Typ X (Minenleger) unter Korvettenkapitän Walter Burghagen mit 63 Mann Besatzung.

„Die Lage ist nicht rosig“

Die Ladung bestand im wesentlichen aus „Funkausrüstung für Kobe, Ersatzteilen für Dieselmotoren und die Torpedowerkstatt, Sanitätsausrüstung, Operationsgerät für Funkstelle Shonen (die japanische Bezeichnung für Singapur), Ersatzteilen für Seefliegerhorst Tanjoeng Priok (der Hafen von Batavia), Medikamente, DURALLUMIN-Barren“ (Eine Aluminiumlegierung aus Kupfer, Magnesium, Mangan, Eisen und Silicium, die in der Waffentechnik als Ersatz für Stahl dienen kann.), schrieb Obersteuermann Klump in seinem Tagebuch. „Im Bootskiel waren untergebracht als Ladung Rohglasbarren für optische Geräte für die Japaner sowie Quecksilber in Stahlflaschen.“ Das Material war „grösstenteils in druckfesten Stahltuben verstaut, die in die grossen Minenschächte des Bootes (anstatt der Kugelminen) eingehängt“ und in Torpedorohren verstaut waren.

In Batavia warteten „120 Tonnen Zinn, 15 Tonnen Molybdän, 80 Tonnen Kautschuk, Wolfram sowie eine Tonne tropenfest verpacktes Chinin und 0,2 Tonnen Rohopium“, die für die Heimfahrt in den Minenschächten und Torpedorohren gebunkert werden sollten. „Denn heimkehrende Monsun-Boote sollen nicht mehr den Gegner schlagen, sie sollen nur noch heimkommen. Das ist ihr Einsatzbefehl“, schrieb ein Offizier von U-178, das in ähnlicher Mission unterwegs gewesen war, in den fünfziger Jahren. „Die Fracht dieser Boote ist noch wichtiger als versenkter feindlicher Schiffsraum.“

Am 23. August war U-219 in Bordeaux ausgelaufen. Es wurde eine lange und gefährliche Fahrt, meist Tauchfahrt: 17 Stunden am Tag kroch das U-Boot, angetrieben von den Elektromaschinen, mit einer Geschwindigkeit von 2,5 Knoten durch den Atlantik und später den Indischen Ozean. Nachts, mit den Krupp-Dieselmotoren auf Schnorchelfahrt, machte es sechs, über Wasser 17 Knoten. Stürme und Kälte, später Hitze und Maschinendefekte setzten der Besatzung zu. Und häufig hörte die Besatzung „Schraubengeräusche von Zerstörern, teilweise bedrohlich nahe, dazu immer wieder WABO-Serien“ (Wasserbomben), wie Klumps Tagebuch vermerkt.

„Unsere Lage ist nicht gerade rosig, hatten wir doch schon seit fast fünf Tagen keine Möglichkeit, unsere Batterien (für die Elektromaschinen) aufzuladen“, lautet der Eintrag am 2. Oktober. Die E-Maschinen konnten nur bei Überwasserfahrt, wenn die beiden Dieselmotoren liefen, aufgeladen werden. Zudem wurde „der CO2-Gehalt in der Atemluft immer geringer. Unser Sauerstoffvorrat sowie die Kalipatronen sind längst aufgebraucht.“ Das Kaliumhyperoxid in den Kalipatronen bindet das Kohlendioxid und setzt gleichzeitig Sauerstoff frei. „Mit grösster Ungeduld erwarten wir den Einbruch der Dunkelheit, denn einige unserer Leute waren der Ohnmacht nahe.“

Als auch noch der Schnorchel ausfiel, „zeigt der Käpt’n Nerven und ruft die Offiziere in die Messe und stellt bedrückt fest, dass die U-Boote und besonders das unsrige in ihrer Schwerfälligkeit für den heutigen U-Bootkrieg nicht mehr geeignet seien.“ Anfang November erlebte der Autor des Logbuchs die „schlimmsten Seetage in meiner zehnjährigen Marinezeit“. Aber nicht Zerstörer, Minen oder Wasserbomben lehren den Offizier das Fürchten. Südlich des Kaps der Guten Hoffnung „jagt ein Orkantief das nächste. Alle paar Minuten wird das Boot (bei Überwasserfahrt) von riesigen Brechern von achtern überlaufen. Die Brückenwache ist angegurtet. Wie eine grüne Wand laufen die Wogen 15 bis 18 Meter hoch auf. Wir brauchen zwei Wochen, bis wir diese unwirtliche Zone passiert haben.“

Das süsse Leben

Am 12. Dezember, nach 112 Tagen und 12´000 Seemeilen, machte U-219 endlich in Batavia fest. Zwar wurde das Boot schon am zweiten Tag nach der Ankunft entladen und sogleich auch wieder beladen „mit hohlen Zinnbarren, die gefüllt waren mit Wolfram und Molybdän, mit Kautschuk und grossen Mengen Rohopium und Chinin.“ Doch Mannschaft und Schiff sollten den Rest des Krieges auf Java verbringen. „Heute noch ist die Frage zu stellen, warum denn U-219 in viereinhalb Monaten Aufenthalts in Batavia nie den Befehl zum Auslaufen für die Heimreise bekam“, wunderte sich Obersteuermann Klump.

Doch die Männer gestalteten ihren Aufenthalt offenbar recht vergnüglich. Sie waren in „grösseren Bungalows im Stadtteil Teluk Betung“ (hinter dem heutigen Kempinski-Hotel Indonesia) untergebracht, die „zuvor als japanisches Militärbordell gedient haben. Diese Einrichtungen waren für die Japaner reichlich vorhanden, wurden doch die japanischen Landser immer korporalschaftsweise von einem Unteroffizier dorthin geführt“, beobachtete Klump, freilich ohne zu erwähnen, dass die deutschen Matrosen die Dienste dieser „Trostfrauen“ ebenfalls gerne in Anspruch nahmen. In allen von ihnen besetzten Gebieten hatten die Japaner Militärbordelle eingerichtet, in denen Tausende Indonesierinnen, Chinesinnen, Koreanerinnen, Burmesinnen, Holländerinnen oder Vietnamesinnen zur Zwangsprostitution eingesperrt waren.

Kapitänleutnant Jürgen Oesten, der mit seinem Schiff U-861 einen Monat im deutschen Stützpunkt in Penang lag, wurde in seinen Erinnerungen deutlicher: „Ich ging zu dem japanischen Admiral und sagte, ich bräuchte ‘ein Hotel‘ für meine Jungs, und wir erhielten das Shanghai-Hotel. Also eröffneten wir das Hotel und heuerten hübsche Mädchen an, die von unseren eigenen Ärzten untersucht wurden.“

Doch irgendwann musste das süsse Leben auf Java ein Ende haben. Am „6. Mai 1945“, so Klump (Es müsste der 8. Mai gewesen sein.), „fuhr gegen neun Uhr ein Lkw mit japanischen Soldaten vor. Unserem Kapitän wurde eröffnet, dass Deutschland kapituliert hat, und die japanische Marine das Boot übernehme. Also wurde von unseren Leuten die deutsche Kriegsflagge in aller Form eingeholt, und der Japaner setzte die seine.“ Die deutsche Besatzung war eine Woche lang in Jakarta interniert, ehe sie auf einer Teeplantage im Preangerland zwischen Bogor und Bandung einquartiert wurde.

Unter britischem Kommando

Erst nach der japanischen Kapitulation wurde auch der deutsche Stützpunkt in Surabaya aufgelöst, dessen Personal dann ebenfalls zu den Besatzungsmitgliedern von U-219 stiess. „Eines Tages, es war wohl schon Mitte Oktober 1945, erschien plötzlich ein Trupp alliierter Soldaten, angeführt von einem britischen Major“, schilderte Klump den Beginn der Kriegsgefangenschaft. Zwar schwiegen nun die Waffen des Zweiten Weltkriegs, doch nun kämpften die Indonesier gegen die neuen Besatzer. Schon am 17. August hatte Sukarno, der spätere Präsident Indonesiens, die Unabhängigkeit ausgerufen.

Ohne ausreichende Kräfte sahen sich die britischen Besatzungsbehörden ausserstande, die zumeist holländischen Frauen, Kinder und Greise, die aus den japanischen Internierungslagern entlassen und in Auffanglagern untergebracht worden waren, vor den Angriffen der Freiheitskämpfer zu schützen. Darum „bot uns der englische Lagerkommandant an, die Evakuierten mit ihm militärisch zu schützen“, staunte Klump über die britische „Flexibilität“. „Wir wurden mit Schnellfeuergewehren, leichten und schweren MGs, Granatwerfern und Handgranaten bewaffnet… Ausserdem erhielt jeder von uns die gleichen Rationen wie jeder britische Soldat… Manche Nacht gab es da ein ganz schönes Geballer.“

Die holländischen Lagerbewohner wiederum beschwerten sich, von Deutschen bewacht oder beschützt zu werden. Anfang 1946 – „wir waren noch immer nicht entlassene deutsche Marinesoldaten der Stützpunkte Jakarta und Surabaya und kämpften immer noch für die britische Sache“ – wurden sie in ein Barackenlager auf einer Insel in der Javasee gebracht. Dort „erfuhren wir, dass wir keine Kriegsgefangenen, auch keine Zivilinternierten, sondern als lästige Ausländer der holländischen Justiz unterstellt waren… Hier waren wir von der Welt vollkommen abgeschnitten.“ Weil sie keine Kriegsgefangenen waren, so klagte Klump, sei „die Genfer Konvention nicht zur Anwendung gekommen.“

Lagerhaft und Heimkehr

Amöbenruhr, Malarie, Magen- und Leberkrankheiten kursierten. Ein herbeigerufener Arzt „schaute durch den Maschendrahtzaun“ und sagte, „von mir aus können alle Deutschen verrecken, in Dachau und Buchenwald mussten andere auch verrecken. Wir wussten damals noch nicht, was unter Dachau und Buchenwald zu verstehen war. Jedenfalls galt das für mich“, beschrieb sich auch Klump als einer der vielen Deutschen, die nichts gewusst hatten. Ende Juli traf „ein Schweizer Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes ein, der sich unsere Beschwerden anhörte, die für Kriegsgefangenenpost geschaffenen Rotkreuzbriefe von 25 Worten maximaler Länge weiterleitete und Massnahmen zur Repatriierung einzuleiten versprach.“

„Manchmal fragten wir uns auch, was wohl aus unserem Boot geworden sein mag“, wies Unteroffizier Klump in seinem „Es war einmal…“ auf ein weiteres Wrack in Indonesiens Schiffsfriedhof hin. „Gegen Ende unserer Gefangenschaft erfuhren wir, dass die Alliierten unser U-219 als Kriegsbeute in der Javasee versenkt haben.“

Ende Oktober 1946 kam die Order „klarmachen für den Heimtransport. Erlaubt ist, was am Körper getragen werden kann plus zwanzig Kilo Handgepäck.“ Am 29. Oktober liefen die Gefangenen auf dem als Transporter für Evakuierte eingerichteten 10´000-Tonnen-Frachter „Sloterdyk“ von Jakarta aus nach Bombay, wo weitere 1´200 Deutsche aus Indonesien, die den Krieg in britischen Internierungslagern verbracht hatten, an Bord kamen. „Am 1. oder 2. Dezember erreichten wir Hamburg… Mit einer Tagesration damaliger Verpflegung und vierzig Reichsmark Entlassungsgeld wurden wir per Lkw nach Hamburg-Hauptbahnhof gebracht.“

„So standen wir an diesem denkwürdigen 8.12.1946 auf dem von Trümmern freigeräumten Vorplatz des Hamburger Hauptbahnhofs und waren frei.“

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Benjamin Franklin

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Die ganz Schlauen sehen um fünf Ecken und sind geradeaus blind.

Also sprach Zuckerberg: Wollt ihr die totale Immersion?

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Als neues Big Thing wird schon seit längerem immersive Technologie gehandelt: Augmented-Reality-Brillen, mit denen wir nicht in eine virtuelle Welt, sondern in die „verbesserte“ reale Welt eintauchen können. Zum Beispiel „Oculus Rift“, ein Headset, entwickelt von einem kalifornischen Spieldesigner. Die Oculus-Brille wird nächstes Jahr zu kaufen sein. Die Firma Oculus wurde im Frühjahr 2014 von Facebook übernommen, und Stephen Zuckerberg kriegte sich schon damals nicht mehr ein vor Begeisterung über die bevorstehende Zukunft der total „immersierten“ Menschheit mit Hör-und-Sehgarnitur auf dem Neurokranium.

Die ganze Welt ein Game

Hören wir ihm einen Augenblick zu: „Unsere Mission ist, die Welt offener und vernetzter zu gestalten. In den letzten paar Jahren bedeutete dies, mobile Apps zu bauen, die einem ein gemeinsames Leben mit Mensch ermöglichten (..) Jetzt befinden wir uns an einem Punkt, (..) wo wir bereit sind, uns auf Plattformen zu fokussieren, die künftig noch nützlichere, unterhaltendere und persönlichere Erfahrungen zu machen erlauben.“ - so Zuckerberg auf Facebook.

Vorhang auf, Tusch, und es betritt Oculus die Bühne: „Oculus baut Virtual-Reality-Technologie, wie zum Beispiel das Oculus-Rift-Headset. Setzt man die Garnitur auf, taucht man ein in eine immersive computergenerierte Umwelt, wie in einem Game oder Film (..) Das Unglaubliche an dieser Technologie ist, dass man sich wirklich an einen andern Ort mit andern Menschen versetzt fühlt.“ Das Gamen aber wird erst der Anfang sein. Unser ganzes Leben wird zu einem einzigen Game: „Stell dir vor, du schaust dir ein Basketballspiel direkt vom Rand des Feldes; du besuchst eine Vorlesung in irgend einer Universität der Welt; du hast eine Sprechstunde beim Arzt – indem du dir einfach zuhause das Headset aufsetzest. Das wird eine wirklich neue Kommunikationsplattform sein. Indem du dich wahrhaft anwesend fühlst, kannst du unbegrenzt Räume und Erfahrungen mit andern Menschen teilen. Und zwar nicht nur für ein paar Augenblicke, sondern für die Dauer eines ganzen Abenteuers (..) Eines Tages, so glauben wir, wird diese Art von immersiver, augmentierter Realität Bestandteil des Lebens von Milliarden von Menschen sein.“

Der Altmeister übergeschnappter Visionen: Mc Luhan

Eine Welt, in der „Milliarden von Menschen“ mit aufgesetztem Headset umherstolpern – eine Weiterentwicklung jener schon heute beobachtbaren Mutanten, die ihr Nervensystem direkt dem Smartphone angeschlossen haben: jeder auf der Suche nach „seinen“ unbegrenzten Erfahrungen und Abenteuern? Die Mission von Oculus-Facebook ist das Design unserer Erfahrungen, möglichst total und möglichst nach Muster und Massgabe der Firma. Ist das nun eine Verheissung oder eine Drohung?

Eher ein Neuaufguss, wie das Meiste aus der kollektiven Infantilität von Silicon Valley. Der Altmeister übergeschnappter Technovisionen, Marshall McLuhan, sprach bereits 1969 in einem „Playboy“-Interview von einer Totalimmersion. Hier ein Ausschnitt:

MCLUHAN: Automatisierung und Kybernetik können eine wesentliche Rolle darin spielen, den Übergang in eine neue Gesellschaft zu ebnen.

PLAYBOY: Wie?

MCLUHAN: Der Computer könnte ein globales Netzwerk von Thermostaten kontrollieren, um das Leben in Richtung einer Optimierung des menschlichen Bewusstseins zu gestalten. Schon jetzt ist es technisch möglich, den Computer zum Programmieren von Gesellschaften in nützlicher Absicht zu verwenden.

PLAYBOY: Wie programmiert man eine ganze Gesellschaft – in nützlicher oder anderer Absicht?

MCLUHAN: Es ist überhaupt nicht schwierig, Computer in Positionen einzusetzen, wo sie fähig sein werden, das sensorische Leben einer ganzen Bevölkerung durch sorgfältig orchestriertes Programmieren zu leiten. Ich weiss, das klingt sehr nach Science Fiction, aber wenn man etwas von Kybernetik versteht, leuchtet einem ein, dass das heute möglich wäre. Der Computer könnte die Medien so programmieren, dass diese ihre Nachrichten nach den Bedürfnissen der Leser gestalten, und dadurch eine totale Medienerfahrung schaffen, die alle unsere Sinne absorbiert und prägt. Wir könnten fünf Stunden weniger Fernsehen in Italien programmieren, um die Leute dazu anzuhalten, während den Wahlen Zeitungen zu lesen; oder wir könnten in Venezuela 25 Stunden Fernsehen hinzufügen, um die Temperatur in den Volksgruppen abzukühlen, die im vorigen Monat durch Radiosendungen gestiegen ist. Durch ein solches orchestriertes Zusammenspiel aller Medien liessen sich jetzt ganze Kulturen dazu programmieren, ihr emotionales Klima zu stabilisieren und zu verbessern, genaus so, wie wir lernen, ein Gleichgewicht zwischen den konkurrierenden Weltwirtschaften einzurichten (sic).“ii

„Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das Gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus,“ spricht Nietzsches Zarathustra.

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Lucerne Festival Academy unter neuer Leitung

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Michael Haefliger gab den Namen des neuen Künstlerischen Gesamtleiters der Lucerne Festival Academy bekannt.

Immer präsent

Wolfgang Rihm, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten wird nun weiterführen, was Pierre Boulez vor elf Jahren ins Leben gerufen hat. Der Dirigent und Komponist Matthias Pintscher wird Rihm als „Principle Conductor“ zur Seite stehen. Pierre Boulez selbst, dessen 90. Geburtstag das Lucerne Festival noch vor wenigen Tagen mit einem Konzert-Marathon von mittags bis in den Abend gefeiert hat, wird der Academy auch weiterhin und trotz gesundheitlicher Probleme als Ehrenpräsident erhalten bleiben. „Er ist auch da, wenn er nicht da ist“, so Michael Haefliger.

Damit ist es Haefliger gelungen, auch für die Academy ein hochkarätiges Leitungsteam zu engagieren, nachdem er kurz zuvor Riccardo Chailly als neuen Chefdirigenten des Lucerne Festival Orchestras präsentiert hatte.

Dialogische Leitung

Rihm und Pintscher freuen sich ganz offensichtlich auf ihre neue Aufgabe, die 2016 beginnt und vorläufig auf fünf Jahre begrenzt ist. Beide sind seit Jahren mit dem Lucerne Festival und der Academy vertraut und haben die Planung gleich an die Hand genommen. 2017 wird die Academy die Handschrift der beiden tragen.

„Eine Akademie kann heute nur der Ort des Un-Akademischen sein“, erklärt Wolfgang Rihm. „Vor dem Hintergrund fragloser technischer Bewältigung ist es nicht das Ziel, die ‚auswendigen‘ Fertigkeiten der jungen Künstler zuzuschleifen, wohl aber ihre ‚inwendigen‘ Fähigkeiten zu vertiefen.“ Zu wissen, dass man etwas tatsächlich realisieren kann, sei die beste Voraussetzung, um die Fantasie in Gang zu setzen.

 Wolfgang Rihm mit Matthias Pintscher
©: Peter Fischli, LUCERNE FESTIVAL
Wolfgang Rihm mit Matthias Pintscher ©: Peter Fischli, LUCERNE FESTIVAL

Und wie werden sich Rihm und Pintscher die Leitung aufteilen? „Matthias dirigiert, ich nicht“, scherzt Rihm und meint dann: „Wir werden das sehr dialogisch machen. Das entspricht auch meinem Wesen. Wir werden im Team entscheiden, natürlich auch gemeinsam mit Michael Haefliger, der das Ganze ermöglicht hat. Wir wollen in der Academy den Blick in die Zukunft richten und zwar auf der Basis und mit der Erkenntnis der Gegenwart.“

Akademie ist Dialog

Ganz wichtig ist für Rihm die „Tradition der Moderne“. „Die Moderne hat eine Tradition, in der sie wurzelt. So verstehe ich auch die Academy“. Und dies will er seinen Studenten vermitteln. „Es begegnen sich kulturelle Sphären der Kenntnis und des Könnens und sie formen und steigern einander in ihrem Verstehens- und Realisationspotential. Akademie ist Dialog“, so Wolfgang Rihm.

Noch in den Siebziger-Jahren hätten Musiker in den grossen Orchestern gesessen, die mit neuerer Musik gar nichts anfangen konnten. „Für diese Musiker war Richard Strauss schon dubios und dann kamen wir neue Komponisten und die Musiker fanden das ganz schrecklich und so klang es dann auch, wenn sie spielten. Sie waren unsere natürlichen Gegner! In der heutigen Musikergeneration ist das ganz anders.“

Arbeit mit Komponisten

Das bestätigt auch Matthias Pintscher. „Junge Musiker kommen in die Academy, weil sie einen Dialog suchen, weil sie neue Musik überprüfen wollen. Sie haben eine kritische Haltung, die mich sehr begeistert.“ Pintscher will auch die Zusammenarbeit des Academy Orchesters mit dem hervorragenden Ensemble Intercontemporain verstärken, dessen Leiter er seit zwei Jahren ist.

Rund 130 junge Musikerinnen und Musiker kommen im Sommer in die Festival Academy. Viele von ihnen komponieren auch. „Ich werde ganz stark gerade auch mit den Komponisten arbeiten“, sagt Rihm. Diese Gleichzeitigkeit von Interpretieren und Komponieren in der Academy, sei sehr wertvoll. „Für junge Interpreten kann es ungemein erhellend sein, mit Komponisten ihrer eigenen Zeit zu arbeiten. Oft verstellen eingeübte Fehlsichten den Zugang zur Realität eines Notentextes. Im Gegenzug ist für junge Komponisten die Begegnung mit der Praxis wichtig.“

Volles Engagement

Wolfgang Rihms Beziehung zum Lucerne Festival geht weit zurück. „Schon vor dem Bau des KKL hat Paul Sacher vor dem Löwendenkmal meine Stücke aufgeführt“, erzählt er. „Dann war ich ‚composer in residence‘ im damaligen Provisorium in der von Roll-Halle.“ Schwierig sei es damals gewesen und oft auch eng. Aber fulminante Aufführungen zeitgenössischer Musik hätte es damals schon gegeben.

Und dann kam das KKL und die Academy. „Pierre Boulez hat sich unheimlich stark eingebracht“, sagt Michael Haefliger. Boulez sei den ganzen Tag dort gewesen, am Mittag war er nur mal kurz weg und auf einen Chauffeur habe er auch verzichtet.

„Ich notiere“, sagt Rihm, lacht und zückt sein Notizbüchlein. „40 Minuten Salat am Mittag, Verweigerung des Chauffeurdienstes… aber ich fahre ja auch jetzt schon immer mit dem Bus…“ Als Nachfolger von Pierre Boulez scheint Wolfgang Rihm also auch aus diesem Aspekt genau der Richtige zu sein.

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Tsipras Chance

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Die dritte Darlehensvereinbarung Griechenlands mit den Geldgebern ist besser als ihr Ruf. Sie gibt der Regierung bedeutenden Spielraum um wirkliche Reformen durchzuführen – wenn sie denn will.  

Der griechische Finanzminister Euklid Tsakalotos stand im Parlament auf, versuchte zu antworten, stockte, setzte neu an. Man hört: er fühlt sich sichtlich unwohl in der griechischen Sprache. Der Minister ist in Holland geboren, besuchte die Schulen in England und war dort auch Universitätsprofessor – und ist mit einer Schottin verheiratet. Gut kommt aber sein geschliffenes Englisch bei den Verhandlungspartnern an.

Ganz anders Parlamentspräsidentin Zoe Kontantopoulou. Die Juristin mit den Haaren auf den Zähnen und jüngste Parlamentspräsidentin Griechenlands ist eine strikte Gegnerin einer Verständigung mit den Gläubigern. Durch verfahrenstechnische Tricks versuchte sie in der Nacht auf vorgestern den Entscheid des Parlaments so lange zu verzögern, bis die Eurogruppe am Freitagnachmittag die Vereinbarung nicht mehr absegnen konnte. Der Versuch misslang und sie sagte auch nicht, welche Alternative gegenüber dem eingeschlagenen Kurs sie vorschlage. In ihrer bisherigen Karriere ist sie durch scharfzüngige Rededuelle mit politischen Gegnern aufgefallen. Bei ihrer Wahl im Januar liess sie sofort die Barrikaden vor dem Parlament entfernen. In ihren politischen Ansichten gilt sie aber als orthodox und kompromisslos.

Realos und Fundis

Damit sind die beiden Lager in der Regierungspartei klar abgegrenzt: Hier die „Realos“, da die „Fundis“, wie man in Deutschland sagen würde. Aber wie ist die Darlehensvereinbarung wirklich zu werten? Hier der Versuch einer Würdigung.

Vorab: Die Vereinbarung – Das dritte, EUR 86 Mrd. schwere Memorandum – ist besser als ihr Ruf. Die griechische Regierung hat zwar damit reihenweise Wahlversprechen gebrochen, es ist ihr aber in einem erstaunlichen Ausmass gelungen, eigene Akzente zu setzen. Dabei ist es auch bemerkenswert, dass ihr die Geldgeber gegenüber der provisorischen Vereinbarung nochmals entgegengekommen sind.

Bemerkenswert ist vor allem, dass die Ziele bei der finanziellen Konsolidierung drastisch gesenkt wurden: Griechenland darf im Jahr 2015 ein Primärdefizit (Budgetdefizit vor Zinszahlungen und Amortisationen) von 0,5% aufweisen gegenüber einem Primärüberschuss von 3% in der früheren Vereinbarung. Für 2016 wurde ein Primärüberschuss von 0,5% vereinbart und für 2017 1,75%. Das ist ein riesiger Unterschied gegenüber den 4%, die in der früheren Vereinbarung vorgesehen waren und den 3% im Juli dieses Jahres. Diese Zahl ist vielleicht die wichtigste der ganzen Vereinbarung. Daraus leitet sich ab, wie viele Sparmassnahmen Griechenland ergreifen muss – oder eben nicht. In der Vergangenheit haben überzogenes Sparen und fehlende Strukturreformen das Land immer stärker in die Rezession getrieben und den Schuldenberg im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung immer stärker anwachsen lassen. Implizit gestehen die Institutionen heute ein, dass dies falsch war. Dass ein Land allein durch hohe Primärüberschüsse finanziell saniert werden kann, diese Meinung wurde bereits wissenschaftlich widerlegt – ich habe in diesem Blog an anderer Stelle darauf hingewiesen. Da es nicht in der Macht Griechenlands liegt, die Bedingungen für einen wirksamen Schuldenabbau zu schaffen („deleveraging“) – hohe Inflation, hohes Wachstum und hohe Primärüberschüsse – wird durch diese Vereinbarung der Schuldenabbau auf den St. Nimmerleinstag hinausgeschoben.

Schuldenerlass?

Was passiert dann mit den Schulden? Griechenland wurden Laufzeitenverlängerungen und Erleichterungen bei den Zinszahlungen in Aussicht gestellt. Das bedeutet konkret, dass der Schuldenberg nominal noch da ist, aber weniger drückt. Es ist wie bei einem Rucksack, den man ablegt. Man fühlt das Gewicht nicht mehr, aber er ist immer noch gleich schwer. Der Internationale Währungsfonds (IWF), nebst der Europäischen Zentralbank (EZB), der Europäischen Kommission und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus eine der nunmehr vier Institutionen, weist seit einiger Zeit auf diese Zusammenhänge hin und verlangt einen Schuldenerlass. Es ist deshalb noch unklar, ob er bei der neuen Vereinbarung mitmachen wird oder ob Europa das Paket allein schultern muss. Die europäischen Politiker, insbesondere diejenigen in Deutschland, sind noch nicht bereit, der Bevölkerung die Wahrheit zu sagen: Dass die griechischen Schulden untragbar sind.

Das Programm legt seinen Akzent auf strukturelle Reformen, was sinnvoll ist. Enthalten ist ein EUR 50 Mrd. starkes Privatisierungsprogramm, Liberalisierungen, vor allem im Energiemarkt, eine Rentenreform und eine Lösung für notleidende Bankdarlehen. Grösstenteils handelt es sich um Vorhaben, zu denen sich schon mehrere Vorgängerregierungen verpflichtet haben, die aber bisher nie umgesetzt wurden. Sie könnten aber der griechischen Wirtschaft helfen. Privatisiert werden – oder besser: für 99 Jahre verpachtet – sollen vor allem Infrastrukturanlagen wie Provinzflughäfen, Häfen und die Bahn. Alle diese Anlagen sind marode und es besteht keine Aussicht dass der Staat je Geld hat, sie zu erneuern.

Die Habenden schützen

Vor zehn Jahren flog ich von der Insel Lesbos nach Zürich. Der Flughafen des Inselhauptortes Mytilini war schon damals marode. In diesem Jahr fiel in der touristischen Saison das Radar aus und es konnten während Wochen keine Tagesrandflüge mehr abgefertigt werden. Im völlig überlasteten Flughafen von Heraklion sieht es nicht besser aus. Nur der bereits seit längerem privat betriebene Athener Flughafen genügt modernen Gesichtspunkten.

Die Liberalisierungen des Energiemarktes und der geschlossenen Berufe könnten endlich Wettbewerb und neue Jobs schaffen. Für viele Berufe sind die Eintrittsbarrieren grotesk hoch und durch nichts zu rechtfertigen. Sie schützen diejenigen, die einen Job haben, aber lassen diejenigen aussen vor, die eine Arbeit suchen. In Griechenland dürfen zum Beispiel nur Apotheker eine Apotheke eröffnen. Keine Ketten und keine Privatpersonen, die nicht im Besitze eines Apothekerdiploms sind. Wer Kapital hat, eine Apotheke zu eröffnen und zur fachlichen Führung des Ladens einen Apotheker anstellen würde, darf das zum Beispiel nicht tun. Der oder die Apotheker sind aber nicht verpflichtet, in der Apotheke auch präsent zu sein. Sie dürfen billige Hilfskräfte arbeiten lassen und die Gewinne mitnehmen. Das Gleiche gilt für den Energiemarkt, wo der Stromriese DEI die Habenden schützt und die Förderung alternativer Energiequellen verhindert.

Grassierende Frühpensionierungen

Es gibt auch einige Steuererhöhungen, die kontraproduktiv sind. Allerdings lässt die Darlehensvereinbarung ein Hintertürchen offen. Es steht immer: „or equivalent measures“. Gelänge es Griechenland, bei der Bekämpfung der Steuerhinterziehung wirklich Ernst zu machen, dann dürfe das Land die Steuern wieder senken. Es ist aber verständlich, dass die Institutionen Hellas’ Zusicherungen nicht für bare Münze genommen haben.

Auch die Rentenreform ist nötig. Langfristig kann nicht mehr Geld an die Rentner ausgeschüttet werden, als eingenommen wird. Das haben die Griechen viele Jahre lang verdrängt. Grassierenden Frühpensionierungen einen Riegel schieben: Dazu haben sich schon mehrere Regierungen verpflichtet, aber niemand hat es konsequent getan. Das Beste, was dem griechischen Rentensystem aber passieren könnte es Wachstum. Dann würde es von selber wieder tragbarer. Keinesfalls möglich sind Beitragserhöhungen. Diese sind schon heute prohibitiv hoch. Viele Selbständigerwerbenden schliessen ihre Geschäfte und arbeiten schwarz weiter, weil sie die Rentenbeiträge nicht mehr bezahlen können. Ich kenne einige solche Fälle. Diese Zeitbombe muss entschärft werden.

Als Grossmaul angetreten

Kürzlich hat nun die Eurogruppe die Vereinbarung abgesegnet. Wer sie genau liest versteht, dass die Geldgeber Griechenland ein grosses Stück entgegengekommen sind. Es ist traurig, dass es für diese Einsicht einen Beinahe-Austritt Griechenlands aus der Eurozone bedurfte. Deutschland, das sich bis am Schluss gegen einiges gesträubt hatte, war isoliert. Die grosse Unsicherheit liegt in der Innenpolitik Griechenlands. Bricht der linke Flügel der Regierungspartei Syriza weg (die Fundis), dann verliert Ministerpräsident Tsipras – der neue Realo – seine Mehrheit. Sucht er sich einen zusätzlichen Koalitionspartner? Gibt es Wahlen? Eigentlich kann sich das Land keine Wahlen leisten, denn es gibt viel zu tun. Und die Art, wie in Hellas im Moment politisiert wird, gefällt mir recht gut: Die Regierung muss sich die Mehrheit durch Überzeugungsarbeit im Parlament erkämpfen und das Stimmverhalten geht quer durch die Parteien. Die Griechen finden diesen Zustand untragbar. Als Schweizer finde ich ihn normal.

Wie dem auch sei: Alexis Tsipras, der junge Ministerpräsident, der als Grossmaul angetreten ist und diesen Sommer unsanft in der Realität angekommen ist, hat die Chance, als grosser Reformer in die griechische Geschichte einzugehen. Zugegeben: Eine kleine Chance, aber sie besteht. Hoffen wir, dass er sie ergreift!

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