Eine Gelegenheit, den Mund zu halten, sollte man nie vorübergehen lassen.
Curt Goetz, Schweizer Schriftsteller, Schauspieler, 1888–1960
Renzi geht
23 Mikrofone stehen an diesem Montagabend im Konferenzsaal im dritten Stock des sozialdemokratischen Hauptquartiers „Nazarena“ in Rom bereit. Um 18.23 betritt Matteo Renzi den Saal.
Er wirkt entspannt, lächelt und ist wie immer rhetorisch brillant. Doch die Erklärung, die er jetzt abgibt, gefällt nicht allen Genossen.
Die Sozialdemokraten, die vor vier Jahren noch ein historisches Spitzenergebnis erzielt hatten, fielen bei den Wahlen am Sonntag auf rund 18 Prozent zurück. Renzi zieht die Konsequenzen.
„Ich gebe die Führung des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) ab“, sagt er. „Wir müssen eine neue Seite aufschlagen“.
Keine Steigbügelgalter der Populisten
In Anspielung auf die populistischen Cinque Stelle und die rechtspopulistische Lega sagt er: „Wir gehen in die Opposition, wir werden nie Krücken und Steigbügelhalter von Extremisten sein. Wir übergeben die Schlüssel eines Hauses, das besser in Ordnung ist als vorher.“ Die Lega und die Cinque Stelle bezeichnet er als „anti-europäisch“ und „voller Hass“.
„Wir waren nicht fähig, gegen den extremistischen Wind, der jetzt weht, gegen diese Kultur des Hasses, vorzugehen. Man warf uns vor, Mafiosi zu sein, korrupt, wir hätten die Hände voller Blut.“
Dann fügt er bei: „Ich bleibe solange Parteichef, bis eine neue Regierung gebildet wird“. Das wird später nicht von allen akzeptiert.
„Speedy Gonzales“
Renzi, einst Bürgermeister von Florenz, war ein Senkrechtstarter. Er bezeichnete sich als „Verschrotter“ der alten Politik, des alten politischen Systems. Man nannte ihn „Speedy Gonzales“. Im Dezember 2013 wurde er zum Parteisekretär des Partito Democratico PD gewählt. Sein Ziel war klar: er wollte Regierungschef werden.
Noch bevor er das war, schüttelte er die nationale Politik durch und legte eine grundlegende Verfassungsreform vor. Damit sollte ein Grundübel der italienischen Politik beseitigt werden.
Palaverdemokratie
Die beiden Kammern des italienischen Parlaments haben die gleichen Rechte. Gesetzesentwürfe werden immer wieder jahrelang hin- und hergeschoben. Oft werden bei einer Vorlage bis zu hundert neue Abänderungsvorschläge eingebracht. Eine Einigungskonferenz wie in der Schweiz gibt es nicht.
Folge ist ein politischer Stillstand. Die Parlamentarier, die bestbezahlten Europas, verheddern sich in monate- oft jahrelange Detaildiskussionen. Dies ist einer der Gründe für die Schwerfälligkeit und die Misere im Land.
Mit seiner vorgeschlagenen Verfassungsreform wollte Renzi die legendäre italienische Palaverdemokratie in Schranken weisen und die politischen Prozesse straffen und beschleunigen. Dazu sollte die Kompetenz der zweiten Kammer, des Senats, stark reduziert werden. Die Vorlage hätte faktisch ein Ende des italienischen Zweikammersystems („Bicameralismo perfetto”) bedeutet.
Innerparteilicher Staatsstreich
Berlusconi war zunächst begeistert. „Renzi ist ein Macher wie ich“, schwärmte er und hoffte, aus der angestrebten Verfassungsreform Profit schlagen zu können. Im sogenannten „Patto del Nazareno“ (Pakt des Nazareners) kamen Berlusconi und Renzi im Januar 2014 überein, eine solche Reform durchzuführen. Der Pakt leitet seinen Namen vom „Largo Nazareno“ ab, einer Römer Strasse, in der sich der Sitz von Renzis sozialdemokratischem Partito Democratico befindet. Dort wurde das Abkommen geschlossen.
Berlusconi hoffte auch, den Aufsteiger aus Florenz an die Leine nehmen zu können. Doch dann im Januar 2014 servierte Renzi mit einem denkwürdigen parteiinternen Coup den damaligen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Enrico Letta ab. Jetzt war Renzi an der Macht.
Mit vollem Mund
Und jetzt merkte Berlusconi, dass nicht er Renzi über den Tisch ziehen konnte, sondern dass die Gefahr bestand, dass er selbst über den Tisch gezogen werden könnte. Berlusconi kündigte sogleich den Nazarener-Pakt und erklärte Renzi den Krieg. Von jetzt an kämpfte er gegen die Verfassungsreform, die er einst befürwortet hatte.
Renzi nahm den Mund immer etwas voll. Das gehörte zu seinem Markenzeichen. „Jeden Monat eine neue Reform“, versprach er. Dazu kam es nicht, doch der Florentiner aus dem Städtchen Rignano im Arno-Tal brachte in kurzer Zeit einiges zustande – viel mehr als Berlusconi in zwanzig Jahren.
Reformen, Reformen
Er reformierte das Strafrecht und das Zivilrecht. Er setzte eine Arbeitsmarktreform durch und lockerte den Kündigungsschutz. Das war dringend nötig. Renzi merkte schnell, dass der verkrustete Arbeitsmarkt ein Grundübel der italienischen Gesellschaft ist. Die Gewerkschaften hatten eine Macht wie in kaum einem anderen Land. Der Kündigungsschutz war derart radikal, dass ein Betrieb fast niemandem kündigen konnte, auch wenn keine Arbeit da ist. Also stellt man niemanden mehr fest an.
Renzi initiierte auch neben der Wahlrechtsreform ein Anti-Korruptionsgesetz, eine Bildungsreform, die Privatisierung einiger Staatsunternehmen, eine Reform des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Rai und die Einführung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, was ihm im katholischen Italien nicht nur Sympathien eintrug.
Bei den Europa-Wahlen im Mai 2014 erreichte Renzis PD mit 40,8 Prozent ein sensationelles Ergebnis. Erst jetzt merkte die bürgerliche Opposition, wie gefährlich der junge Shootingstar war.
Arrogantes Verhalten
Doch nicht nur die Rechtsparteien kämpften jetzt gegen ihn. Im eigenen Lager machte sich Renzi viele Feinde. Er wollte die Partei gegen die Mitte öffnen und zum Teil ent-ideologisieren. Das gefiel den linken Linken und den Apparatschiks in seiner Partei gar nicht – und von denen gibt es viele. Seine Gegner bezeichneten ihn als Tony Blair Italiens und als Verräter an der echten Sozialdemokratie. Man betonte immer wieder, dass er eigentlich ein Christdemokrat sei – und tatsächlich begann er seine Karriere bei den Christdemokraten.
Die Gewerkschaften zeigten absolut kein Verständnis für Renzis Bemühungen, den Arbeitsmarkt auch nur einen Deut zu liberalisieren. Für sie wurde er bald zum Staatsfeind Nummer eins.
Obwohl er der wohl erfolgreichste Ministerpräsident der letzten 20 Jahre war, wuchs die Zahl seiner Gegner immer mehr. Renzi selbst trug durch sein oft arrogantes, herablassendes Verhalten dazu bei. Ein Brückenbauer war er nicht. Wer gegen ihn war, wurde stante pede abgestraft.
Abspaltungen
In seiner eigenen Partei rumorte es immer mehr. Schon früh kam es zu kleineren Abspaltungen. Im vergangenen Dezember dann gründete der einstige Parlamentspräsident Pietro Grasso die Linkspartei „Liberi e Uguali“ (Leu). Ihre Mitglieder wollten „die echte Sozialdemokratie“ retten. Bei den Wahlen an diesem Sonntag legten die verkrusteten Alt-Sozis allerdings mit 3,4 Prozent ein jämmerliches Ergebnis hin.
Renzis grosser Fehler war, dass er eine Abstimmung über die Verfassungsreform mit seinem persönlichen Schicksal verknüpfte. Wird die Reform abgelehnt, sagte er, trete ich zurück. Die Reform wurde abgelehnt und er trat zurück. Er liess sich jedoch zum Parteisekretär wählen und hoffte auf ein Comeback. Dazu kommt es nun nicht.
Sture Gewerkschaften
Renzi hat recht, wenn er jetzt sagt, dass die jahrelangen parteiinternen Streitereien zum Absturz seiner Partei unter 20 Prozent geführt haben. Man wählt keine Partei, die tagtäglich vorführt, wie zerstritten sie ist.
Die Politik der absoluten Besitzstandwahrung der linken Linken und der Gewerkschaften ist einer der Hauptgründe für die Misere und den Stillstand Italiens. Jede Vision von einem modernen Land geht ihnen ab. Der Streit innerhalb der Linken hat dazu beigetragen, dass die populistischen Parteien in Italien im Aufwind sind.
„Wir versprechen nur, was wir halten können“
Und selbst am Tag seines Rücktritts schlägt der innerparteiliche Streit wieder durch. Renzi verlangte, dass in Primärwahlen ein neuer Parteichef gewählt wurde. Bis eine neue Regierung stehe, werde er Chef bleiben. Doch die linken Linken in seiner Partei wollen ihn sofort los haben. Der sozialdemokratische Senator Luigi Zanda forderte Renzi auf, nicht bis zur nächsten Regierung zu warten, sondern sofort zurückzutreten.
Berlusconi, die Cinque Stelle und Lega-Chef Salvini versprachen in diesem Wahlkampf den Wählern das Blaue vom Himmel. Nicht so Renzis PD. „Wir versprechen nur, was wir halten können“, sagte er einst. Das hat sich gerächt.
Die Wirtschaft trauert ihm nach
Das Groteske ist jetzt, dass es die Wirtschaft ist, die den Sozialdemokraten und Renzi nachtrauert. Sie betrachten im Moment die gemässigte Linke als einzige verlässliche Partei. Renzis stürmische Arroganz wurde zwar nicht überall geschätzt. Doch er hatte als erster die Grundübel Italiens an der Wurzel angepackt. Allerdings konnte er sie nur zu einem kleinen Teil ausmerzen.
Und was macht Renzi jetzt? „Ich mache das, was mir gefällt, ich bin Senator und vertrete Florenz. Ich werde meine Politik an der Basis vertreten und für meine Überzeugung kämpfen, von Haus zu Haus, von Strasse zu Strasse“.
Viele Bürgerliche, Liberale und viele Wirtschaftsvertreter könnten bald einmal dem jetzt gescheiterten Matteo Renzi nachtrauern.
Nach seinem 18-minütigen Auftritt vor den Medien am Montagabend wollte er keine Fragen beantworten. Er stand auf, dankte - und verschwand.

Dumm gelaufen
Der Erste Weltkrieg hatte mit seinem katastrophalen Verlauf und der vernichtenden Niederlage Deutschlands ein politisches Klima geschaffen, in dem für kurze Zeit die Möglichkeit einer ganz neuen politischen Ordnung aufleuchtete. Das war die Stunde der Schriftsteller. Sie sahen die Chance, ihre Ideale zu verwirklichen.
Hautnahe Beschreibung
Der Bestsellerautor Volker Weidermann schildert die damalige Stimmung hautnah. In München gärte es. Ende 1918 war der König von Bayern gestürzt worden, und es hatten sich revolutionäre Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. Aber es war völlig unklar, wie es weitergehen sollte.
In dieser Situation gelang es dem Journalisten Kurt Eisner, während einer Massenversammlung auf der Münchner Theresienwiese die Stimmung zu erfassen und zu artikulieren. Schlagartig wurde er als neuer revolutionärer Führer angesehen und im Bayerischen Landtag zum ersten Ministerpräsidenten der bayerischen Republik bestimmt.
Aber die Euphorie hielt nicht lange an. Schnell stellte sich heraus, dass Eisner mit seinen wunderbaren Reden zwar die Zuhörer geradezu berauschen konnte, aber er hatte weder politische Konzepte noch geeignete Mitarbeiter. Gegner allerdings gab es zuhauf. Sie reichten von den Kommunisten bis in das Bürgertum. Ende Februar 1919 wollte Eisner seinen Rücktritt erklären. Auf dem Weg in den Landtag wurde er von Anton Graf von Arco auf Valley erschossen.
Geldtheorie
Diese äusseren Umstände und Abläufe wären heute kaum noch von Interesse, wenn Volker Weidermann nicht einen vielstimmigen Chor, der aus den damaligen Poeten und Denkern bestand, zum Klingen bringen würde. Da gab es den Anarchisten Gustav Landauer, den Antimilitaristen Erich Mühsam, den Geldtheoretiker Silvio Gesell und die zahllosen Lebensreformer, die damals zum Teil am Monte Verità bei Ascona lebten und von sich Reden machten. Diesen stand wiederum Hermann Hesse nahe, aber auch Rainer Maria Rilke besuchte politische Versammlungen in den Theatern und den Bierkellern von München und war davon schwer beeindruckt.
Auch Thomas Mann hatte für diese Bewegung, zu der ja auch Oskar Maria Graf gehörte, am Anfang durchaus Sympathien, auch wenn er am 13. April 1919 – nach dem Scheitern der Räterepublik – in seinem Tagebuch zu dem Urteil kam: „Ich hasse die verantwortungslosen Verwirklicher, die den Geist kompromittieren, wie die Burschen, die für diesmal abgewirtschaftet haben. Ich hätte nichts dagegen, wenn man sie als Schädlinge erschösse, was man aber zu thun sich hüten wird.“
Scheitern an der Realität
Tatsächlich kam es bei der Niederwerfung der Münchner Räterepublik zu Massakern, die einige Hundert Opfer forderten. Wodurch aber hatten die „Verwirklicher“ den „Geist kompromitiert“? Während Thomas Mann diese Notiz niederschrieb, hatte er die Arbeit an seinem „Zauberberg“ wieder aufgenommen: eine einzige riesige Diskussion. Schon 1918 hatte er Gustav Landauers „Aufruf zum Sozialismus“ gelesen und war davon beeindruckt. Mit Hermann Hesse war er befreundet und Oskar Maria Graf begegnete er zumindest mit Wohlwollen und Sympathie.
Ohne sich auf Thomas Mann zu kaprizieren, arbeitet Volker Weidermann in sorgfältigen Beobachtungen heraus, warum der politische Traum der Dichter und Denker in der Realität zum Scheitern verurteilt war: Sie wollten Politik machen, ohne durch die lästigen Fragen nach der konkreten Umsetzung belästigt zu werden. Sie lehnten jede Unterstützung durch "Bürokratie" ab. Landauer wollte alle Schulen radikal umbauen, und zwar sofort, aber er hatte keine Idee, wie das in der Praxis funktionieren sollte.
Geld ohne Zinsen
Silvio Gesell wiederum wollte gleich ein ganz neues Geldsystem einführen, weil er erkannt zu haben glaubte, dass Zinsen die Wurzel des Kapitalismus seien und der Kapitalismus das Grundübel der Zeit darstelle. Er schrieb deswegen auch gleich an Lenin, aber sein Brief kam ungeöffnet zurück. Dafür schickte Lenin jede Menge Funktionäre nach München, die wiederum nichts mit den Idealisten und Anarchisten am Hut hatte.
Eine Pointe: Die Theorie von Silvio Gesell, die er 1916 im Selbstverlag unter dem Titel,„Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“, herausgebracht hatte, nimmt sich heute wie eine der vielen Spinnereien aus, die damals im Umlauf waren, etwa die Idee, die Menschheit durch Vegetarismus oder den Verzicht auf Kaffee und Alkohol zu retten. Aber die Idee der negativen Zinsen, die den Kern der Geldtheorie von Silvio Gesell ausmachte, wurde von John Maynard Keynes durchaus anerkannt. Und 2014, notiert Weidermann, hat das Direktoriumsmitglied der Eurpäischen Zentralbank, Benoît Coeuré, seinen Kollegen in einem Vortrag erklärt, dass die Ideen des damaligen „Volksbeauftragten für Finanzen der Münchner Räterepublik“ heute durchaus von Interesse seien.
Roman und Realität
Weidermann schildert aber auch, dass die politisierenden Intellektuellen nicht frei von Anmassung, autoritärem Gehabe waren und in Einzelfällen auch nicht vor Gewalt zurückschreckten. Wenn Landauer durch die Gänge eilte, schrie er: „Hier kommt Landauer“, und während der Niederwerfung der Räterepublik durch die sogenannten „Weissen Truppen“ kam es auch zu einem Massaker auf Seiten der Anhänger des Rätesystems.
Das unlösbare Rätsel aber, das Volker Weidermann mit seinem Buch aufgibt, besteht im jämmerlichen Scheitern der Dichter. Wie kommt es, dass Autoren von hellsichtigen Gesellschaftsromanen und Zeitkritiken nicht fähig sind, das simpelste Einmaleins der Politik anzuwenden? Weidermann schildert, dass ihre Naivität und politische Unfähigkeit direkt proportional zum guten Willen und zur Überzeugungskraft stehen, mit der diese Dichter zumindest zeitweilig ihre Zeitgenossen begeistern.
Was ist der Geist?
Was sind Romane und andere literarische Produkte wert, wenn ihre Urheber in der politischen Realität, so sie dort überhaupt je ankommen, nicht mehr sind als eine Krabbelgruppe im Kindergarten? Etwas anders gewendet hat der ehemalige Redenschreiber von Willy Brandt, Klaus Harpprecht, diese Frage schon in den 1980er Jahren in Bezug auf die Ausübung von Macht von Intellektuellen gestellt. Als Beispiel nahm er Georg Forster, einen der hoch geachteten Intellektuellen zur Goethezeit (1). Im Gefolge der französischen Revolution wollte Forster in Mainz eine Republik errichten. Diese gute Absicht endete im Terror und Despotismus, was Georg Forster die Verachtung seiner ehemaligen intellektuellen Bewunderer, darunter Goethe, eintrug.
Und Ernst Toller? Wie durch ein Wunder entging er 1919 seiner Verhaftung. Danach schrieb er Theaterstücke mit zeitkritischem Inhalt, die auf zahlreichen deutschen Bühnen aufgeführt wurden. Er wurde sogar zu Vortragsreisen in die USA eingeladen. 1939 hatte er einen Auftritt in New York. Danach erhängte er sich in seinem Hotelzimmer.
Was ist der Geist, der stets das Gute will, aber am besten gar nicht erst aus der Haustür kommt? Volker Weidermann gibt auf diese Frage keine Antwort; sie gibt es wohl auch nicht. Dafür hat er ein höchst lesenswertes Buch geschrieben, spannend und berührend.
Volker Weidermann, Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen. 288 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017
(1) Klaus Harpprecht,. Georg Forster oder die Liebe zur Welt, Rowohlt, Hamburg 1987
Lothar Schmidt, deutscher Politologe, 1922-2015
Das Los der Parteien wird von den Parteilosen bestimmt.
Statistische Nachlese zum «No Billag»-Votum
Letztes Wochenende betrug die Beteiligung 55 Prozent bei der «No-Billag»-Initiative und 54 Prozent bei der «neuen Finanzordnung 2021–2035». Im Vergleich zu den 159 eidgenössischen Vorlagen, die seit dem Jahr 2000 zur Abstimmung gelangten, gehört diese relativ hohe Beteiligung (55 Prozent) ins erste Fünftel. Nur gerade bei 18 Vorlagen war sie gleich oder höher. Im Durchschnitt betrug die Stimmbeteiligung seit 2000 45 Prozent.
Nicht überraschend war die Beteiligung bei der «No-Billag»-Initiative mit 55 Prozent etwas höher als bei der «neuen Finanzordnung», und zwar in jedem Kanton. Die «No-Billag»-Initiative war – wie auch klar in der Medienberichterstattung – der Motor der beiden Abstimmungsvorlagen.
«Neue Finanzordnung» – Ja-Mehrheit mit Seltenheitswert
Eine Zustimmung von 84 Prozent hat Seltenheitswert. Nur bei fünf Abstimmungsvorlagen war sie seit dem Jahr 2000 noch höher. Es waren dies alles – wie die «neue Finanzordnung» – unbestrittene, obligatorische Referenden. In regionaler Hinsicht gab es im Zustimmungsverhalten zur «neuen Finanzordnung» nur minime Unterschiede: Die Differenz zwischen den Sprachregionen lag bei maximal einem Prozentpunkt und zwischen «Stadt – Land» betrug die Differenz vier Prozentpunkte.
Im Vergleich zur letzten Volksabstimmung über die Finanzordnung (2004) ist die Zustimmung um zehn Punkte angestiegen. Dies dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass bei der letzten Finanzordnung gleichzeitig auch über den teilweise umstrittenen Finanzausgleich abgestimmt wurde, was namentlich etwa in Kantonen wie Zug und Schwyz, die dem Finanzausgleich kritisch gegenüberstanden, die Stimmenden gleich auch noch zur Finanzordnung «Nein» sagen liess.
«No-Billag» – die Bürger wurden klüger
Auch wenn Meinungsumfragen der «No-Billag»-Initiative am Anfang der Kampagne gewisse Chancen attestierten, ging der Meinungsbildungsprozess den Weg, den er bei den meisten Volksinitiativen geht: Mit Intensivierung der Diskussionen wurden die Nachteile der Vorlage sichtbar und die Zustimmung schmolz. Dass schlussendlich nur gerade ein Ja-Stimmenanteil von 28 Prozent resultierte, war denn doch eine Überraschung.
Dazu beigetragen hat – neben der klaren Thematisierung des Service Public und der Medienvielfalt seitens der Gegner – auch die etwas diffuse und widersprüchliche Strategie der «No-Billag»-Initianten. Schlechter als die «No-Billag»-Initiative schnitten seit 2000 nur gerade 25 Vorlagen (von 159) ab, darunter waren 23 Volksinitiativen und zwei fakultative Referenden. Nehmen wir nur die 82 Volksinitiativen seit 2000, so erzielten 69 eine höhere Zustimmung als die «No-Billag»-Initiative; zehn Volksinitiativen wurden gar angenommen.
Romandie mit stärkstem Nein-Anteil
Auch bei der «No-Billag»-Initiative waren die regionalen Unterschiede im Zustimmungsverhalten wenig ausgeprägt. Alle Kantone und Bezirke lehnten die Volksinitiative ab. «Stadt–Land» differierte nur gerade um vier Prozentpunkte. Etwas grösser waren die Unterschiede zwischen den Sprachregionen: Den höchsten Nein-Stimmenanteil verzeichnete die Romandie mit 76 Prozent, den niedrigsten die italienischsprachige Schweiz (mit 66 Prozent) – wobei Umfragen für das Tessin noch ein mögliches Ja in Aussicht gestellt hatten. Die Deutschschweiz positionierte sich mit 71 Prozent Neinstimmen zwischen den beiden lateinischen Sprachregionen.
Auch SVP-Anhänger stimmten Nein
Diese relativ homogene und deutliche Verwerfung der «No-Billag»-Initiative kann nicht vor dem Hintergrund eines «Links-rechts»-Gegensatzes interpretiert werden. Zwar war die SVP die einzige grosse Partei, welche die Initiative unterstützte; die niedrigen Zustimmungswerte in der französischsprachigen Schweiz und die etwas höheren in der italienischsprachigen Schweiz zeigen eine gewisse statistische Korrelation mit den Parteistärken der SVP bzw. der Lega. Es gibt jedoch einige Kantone, in denen die Parteistärke der SVP grösser ist als der Ja-Stimmenanteil zur «No-Billag»-Initiative.
Vergleich mit SRG-Abstimmung von 2015
Ein Vergleich der «No-Billag»-Ergebnisse mit jenen der Volksabstimmung über das Radio- und Fernsehgesetz (RTVG) von 2015 zeigt ein ähnliches Muster, auch wenn die Zustimmung zum RTVG deutlich knapper war: Es wurde nur hauchdünn mit 50,1 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Am SRG-freundlichsten zeigte sich auch damals die französischsprachige Schweiz mit 59 Prozent Ja-Stimmen, die deutsch- und die italienischsprachige Schweiz verzeichneten je einen Zustimmungswert von 48 Prozent. Wie bei der «No-Billag»-Abstimmung zeigten sich in der Deutschschweiz der Kanton Graubünden ausgesprochen SRG-freundlich, während Schwyz den SRG-kritischen Pol markierte.
Mehr als eine Propaganda-Show
Auf den Strassen und Plätzen von Moskau ist wenig zu sehen, dass in Russland am 18. März Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. Von einem wirklichen Wahlkampf kann keine Rede sein. Denn schon heute steht fest. Der neue Präsident wird der alte sein: Wladimir Putin.

Im überfüllten Saal des riesigen, aus der Sowjetzeit stammenden Moskauer Hotels Cosmos herrscht eine erwartungsvolle Stimmung. Hier hält der russische Präsidentschaftskandidat Grigory Jawlinky eine Wählerversammlung ab. Jawlinsky, ein im demokratischen Lager verankerter Wirtschaftsexperte, hat für seine Anhänger eine klare Botschaft: „Russlands Wirtschaft befindet sich in einem schlechten Zustand. Wenn wir nichts ändern, wird die Armut in unserem Land stark zunehmen. Es wird Aufstände geben.“
Jawlinsky wendet sich an die jungen Wähler
Viele seiner älteren Anhänger erinnern sich, wie Jawlinsky in den 90er Jahren als Gegner der sogenannten „Schocktherapie“ auftrat. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstand in Russland ein von den USA unterstützter Wild-West-Kapitalismus, der die russische Gesellschaft spaltete. In Russland entstand eine kleine, extrem reiche Minderheit. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung stürzte als Folge der „Schocktherapie“ in bittere Armut.
Unter Jawlinskys Zuhörern befinden sich auch zahlreiche junge Wähler, die zum ersten Mal an Wahlen teilnehmen. Jawlinsky wendet sich in seinem Parteiprogramm „Weg in die Zukunft“ ausdrücklich an diese jungen Wähler, für welche die Ereignisse in den 90er Jahren bereits Geschichte sind. Er verspricht, die soziale Spaltung der Bevölkerung zu überwinden, die bei Umfragen regelmässig an erster Stelle steht.
Warum nimmt der Demokrat Grigory Jawlinsky überhaupt an den Präsidentschaftswahlen teil, die von etlichen Kremlkritikern als reine Propaganda-Show Putins empfunden wird?
Zum vierten Mal Präsidentschaftskandidat
Jawlinsky hat insgesamt dreimal an russischen Präsidentschaftswahlen teilgenommen. 1996 präsentierte er sich als eine Alternative zu Jelzins Politik, der für die „Schocktherapie“ verantwortlich war. 2000 trat Jawlinsky als einziger demokratischer Kandidat gegen Putin an und rangierte mit 5,8 Prozent der Stimmen an dritter Stelle hinter Putin sowie dem kommunistischen Kandidaten Gennady Sjuganow. 2012 weigerte sich die Wahlkommission, Jawlinskys Kandidatur zu akzeptieren. 20 Prozent der für die Wahlbeteiligung notwendigen Unterschriften wurden als ungültig erklärt. Jaswlinsky kritisierte den Urnengang von 2012 mehrmals als „Wahlfälschung“.
Auch am 18. März dürfte Jawlinsky wiederum nur wenige Prozent der Stimmen erhalten. Demokratisch gesinnte Wahlexperten sind aber überzeugt, dass Jawlinskys Teilnahme an den Wahlen ein wichtiges politisches Zeichen setzt. Die bekannte russische Journalistin Nadia Azhgikhina unterstützt Jawlinsky im Wahlkampf. „Auch wenn an den Wahlen vieles zu kritisieren ist“, erklärt sie im Gespräch, „Jawlinsky bestätigt damit die Wichtigkeit von Wahlen als Institution und lehnt die rein populistische Forderung ab, die Wahlen zu boykottieren.“
Nawalny – ein „autoritärer Populist, aber mutig“
Zum Boykott der Wahlen aufgerufen hat der im Westen bekannte Oppositionspolitiker Alexei Nawalny. Er hatte seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen im Dezember 2016 angekündigt. Die zentrale Wahlkommission Russlands hatte aber Nawalnys Kandidatur für nicht zulässig erklärt und begründete dies mit der Verurteilung Nawalnys zu einer Bewährungsstrafe. Im Oktober 2017 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Nawalnys Verurteilung als „rechtswidrig“ erklärt.
„Wenn es in Russland freie und faire Wahlen gäbe, könnte Nawalny bis zu 40 Prozent der Stimmen erhalten und damit Putins Wahl gefährden“, meint Tatjana Woroscheikina, eine Politologin, die den Demokraten nahe steht. Andere Quellen sprechen von rund 30 Prozent. Bei der Bürgermeisterwahl in Moskau im September 2013, so erinnert Woroscheikina, erzielte Nawalny 27 Prozent der Stimmen. Seither gilt er als unbestrittener Anführer der Anti-Putin-Opposition.
„Ja, Nawalny ist ein autoritärer Populist. Aber er ist mutig und riskiert sein Leben“, glaubt Woroscheikina. Für die an einer Moskauer Hochschule lehrende Politologin sind die Präsidentschaftswahlen eine Falle: „Wenn wir wählen gehen, erhöhen wir damit die für den Kreml wichtige Wahlbeteiligung. Wenn wir nicht wählen gehen, helfen wir wiederum Putin. Der Kremlchef ist in jedem Fall der Sieger.“
Grudinin – das neue Gesicht der Kommunisten
Ein neues Gesicht ins Rennen um die Macht im Kreml schickt die grösste Oppositionspartei des Landes, die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF). Anstatt den altgedienten Gennady Sjuganow, der seit 1996 für die Kommunisten viermal angetreten war und immer den zweiten Platz erreichte, hat die KPRF überraschend den bisher unbekannten Landwirtschaftsexperten Pawel Grudinin zu ihrem Kandidaten ernannt.
Grudinin ist Direktor der Erdbeer-Farm Lenin, die den Titel einer Sowchose trägt aber nach streng kapitalistischen Regeln bewirtschaftet wird. Bis 2010 war Grudinin Mitglied der Regierungspartei „Einiges Russland“. Er war nie Mitglied der KPRF. Bei einer Meinungsumfrage Mitte Januar war Grudinin etwa doppelt so beliebt wie Sjuganow und erreichte landesweit eine Zustimmungsrate von rund acht Prozent. Bei den Präsidentschaftswahlen dürfte Grudinins Wähleranteil höher ausfallen. Die Stammwählerschaft der Kommunisten umfasst rund 15 Prozent.
Grudinin kritisiert den „Oligarchen-Kapitalismus“ und scheut sich auch nicht, Putin direkt anzugreifen. Auch Grudinin selber musste sich Kritik gefallen lassen. Zu reden gaben seine Bankkonten im Westen, darunter auch in der Schweiz. Präsidentschaftskandidaten ist der Besitz von Vermögen im Ausland untersagt.
Grudinin rechtfertigte sich, die Konten seien eingerichtet worden, um Familienmitgliedern Spitalaufenthalte im Ausland zu finanzieren. Der schlechte Zustand des russischen Gesundheitswesens habe das erfordert. Aber das werde sich ändern, wenn er Präsident sei. Mit den neuen Tönen versucht Grudinin, auch die jüngere Generation anzusprechen, die in den vergangenen Jahren ihre Bereitschaft zu Protesten gezeigt hat.
Xenia Sobtschak – Herausforderin oder Alibi-Figur?
Ein neues Gesicht unter den Präsidentschaftskandidaten ist auch Xenia Sobtschak, die Tochter von Putins ehemaligem Chef im St. Petersburger Rathaus. Sobtschak wurde berühmt als Fernsehmoderatorin. Im Wahlkampf kritisiert sie die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim. Das sind unerhörte Töne für eine russische Präsidentschaftskandidatin, die im Gegensatz zu Nawalny an den Wahlen teilnehmen darf.
Die umstrittene Kandidatur Sobtschak, so glauben mehrere Quellen, sei vom Kreml zugelassen worden, um eine höhere Wahlbeteiligung zu erreichen. Im Volk jedoch wird Sobtschak als mondäne Dame gehasst. Es zirkulieren viele Videos, in denen Sobtschak angeblich ihr wahres Gesicht zeige.
Ist Putin nicht zu ersetzen?
Auf einem der wenigen Wahlplakate, die in Moskau zu sehen sind, ist zu lesen: „Unser Land. Unser Präsident. Unsere Wahl.“ Das ist die Botschaft des Kremls: Es gibt keinen Kandidaten, der Putin ersetzen kann. Damit sollen sich auch Putins Gegner abfinden. Putins grösstes Problem ist aber er selbst. Die Wirtschaft stagniert, die Reallöhne sinken seit Jahren. Alles, was Putin den Wählern verspricht, hat er schon oft versprochen – angemessene Löhne und Renten, bessere Gesundheitsversorgung und die Lösung aus der Abhängigkeit von Öl und Gas. Aber wenn ihm in 18 Jahren an der Macht nicht gelungen ist, diese Versprechen umzusetzen, wie sollte das jetzt mit einem Mal gelingen ?
Für den auch im Westen bekannten Soziologen Boris Kagarlitzky ist die zentrale Frage die Wahlbeteiligung. Er selber werde an den Wahlen nicht teilnehmen. Kagarlitzky ist überzeugt, nicht die Wahlresultate würden gefälscht sondern die Wahlbeteiligung. Der Soziologe kritisiert Alexei Nawalny, der das Protestthema besetze, aber auf konkrete Fragen keine Antworten habe. Zum Beispiel: „Nawalny hat aufgerufen, die Oligarchen zu bestrafen er vermeidet aber, über die Enteignung ihres Eigentums zu sprechen. Nawalny provoziert nur Diskussionen, hat aber keine politische Strategie.“ Laut seriösen amerikanischen Quellen werden die Wahlkampfkassen von Nawalny und anderen Putin-Gegnern auch von Washington finanziert.
Wichtig ist für Kagarlitzky, was nach den Wahlen passiert. „Die wirtschaftliche Situation dürfte sich verschlechtern. Der Lebensstandard sinkt, aber er ist immer noch besser als in den 90er Jahren. Offiziell hat Putin weiterhin eine Popularitätsrate von rund 80 Prozent, die er der patriotischen Stimmung nach der Annexion der Krim zu verdanken hat. Der Krim-Effekt ist heute aber verpufft.“ In Wirklichkeit sei Putins Popularität unter 50 Prozent gefallen. Diese Angaben stammen gemäss Angaben Kagarlitzkys aus einer undichten Stelle des Kremls.
Die Fabel von der Krähe
Gespräche mit Politologen, Wahlexperten und Politikern zeigen immer nur eine Seite. Was aber denkt der sogenannte russische Durchschnittsbürger? Zum Beispiel Nikolai, ein Fachmann, der auf dem Gebiet der Umweltschutzkontrolle arbeitet. 60 Prozent der Kunden seines Unternehmens, so berichtet Nikolai, seien vom Staat finanziert. 2016 seien während Monaten die Löhne verzögert ausbezahlt worden. Seither habe sich die Situation jedoch wieder verbessert.
Der Umweltschutzexperte beendet das Gespräch mit einer in der russischen Bevölkerung beliebten Fabel: „Eine Krähe sitzt auf einem Baum und hält ein Stück Käse im Schnabel. Ein Fuchs kommt und fragt den Vogel: ‚Gehst Du zu den Wahlen?‘ ‚Nein‘, antwortet die Krähe. Das Stück Käse fällt zu Boden und der Fuchs macht sich mit der Beute zufrieden aus dem Staub. Die Krähe sitzt zerknirscht da und überlegt: ‚Was wäre geschehen, wenn ich Ja gesagt hätte?‘“
Hohe Zeit für Pharisäer
Man ist sich zwar bewusst, nicht perfekt zu sein und hie und da (vielleicht bei der Steuerehrlichkeit?) auch schon mal nicht ganz den geraden Weg gegangen zu sein. Aber im Grossen und Ganzen ist man doch mit sich und der Welt im Reinen.
Dann ist da jedoch auch noch das andere, dieses unheimlich gute Gewissen. Dieses lässt selbst die kleinsten Selbstzweifel an der absoluten Richtigkeit und Moralität des eigenen Denkens und Handelns gar nicht erst aufkommen.
Entsprechend leiten die Träger (und – politisch korrekt – natürlich auch Trägerinnen) dieses Banners der Vollkommenheit für sich das Recht ab, ihre Umwelt ständig und allumfassend darüber zu belehren, was allein richtig oder falsch, moralisch oder nicht, gerecht oder ungerecht, erlaubt oder verboten, benennbar oder unsagbar sei. Kurz: Sie sie erheben den Anspruch, dass ausschliesslich ihre Sicht der Dinge als Richtschnur des allgemeinen Verhaltens zu gelten habe.
Das nennt man „Meinungsdiktatur“
In einfachen Worten nennt man so etwas Meinungsdiktatur. Und eine solche geht in aller Regel Hand in Hand mit einem ziemlich unerträglichen Pharisäertum. Das ist, weiss Gott, kein neues Phänomen. Selbstgerechtigkeit und Besserwisserei sind wahrscheinlich so alt wie die Fähigkeit des Menschen zum Denken. Aber sie spielten sich früher halt eher im Kleinen, auf jeden Fall in überschaubaren Räumen ab. Das hat sich mit den neuen, digitalen Medien radikal verändert. Ob Facebook, Twitter, WhatsApp oder wie auch immer sie heissen mögen – hier kann jeder alles in die Welt hinaustrompeten. Und tut das auch. Egal ob überlegt, geprüft, richtig und vernünftig oder ganz einfach absurd, nicht selten sogar von vornherein als falsch erkennbar, bewusst beleidigend, mehr oder weniger unsinnig und einem blossen Hörensagen folgend.
Gerade aktuell herrscht in deutschen Landen – wieder einmal – Hochkonjunktur für Pharisäer, Weltverbesserer und Heuchler. Nehmen wir als Beispiel das aufgeregte Geschrei um die höchst nachvollziehbare Massnahme der Essener „Tafel“, für eine gewisse überschaubare Zeit nur noch bedürftige Deutsche mit Lebensmitteln zu versorgen. Allgemeiner Tenor: Empörung! Diskriminierung von Ausländern! Rassismus! Dass dieser Beschluss der freiwilligen (!) Helfer bereits im Dezember – und zwar aus guten Gründen – getroffen worden war, fiel bis vor kurzem niemandem auf. Der Entrüstung speiende Vulkan der bis dahin uninteressierten Verbal-Wohltäter brach erst unlängst, nach einem Zeitungsbericht, aus. Dabei ging völlig unter (und fand lange auch keine Erwähnung in den meisten der darauf folgenden TV- und Rundfunk-Nachrichten sowie Printartikeln), dass die Essener Verteiler ganz einfach verzweifelt die Reissleine ziehen mussten, weil dort offensichtlich ein gnadenloser Verdrängungs-Wettbewerb Platz gegriffen hatte, bei dem vor allem jugendliche Flüchtlinge und Asylbewerber die eigentlich Berechtigten so brachial beiseite drängten, dass diese gar nicht mehr zu kommen wagten: Alte Menschen, Sozialhilfeempfänger, Alleinerziehende …
Skandal im Skandal
War allein das schon ein Skandal, so gebar dieser gleich auch noch einen zweiten, sozusagen aus sich heraus. Nämlich den der Medien. Damit sind hier – ausnahmsweise – nicht die so genannten „sozialen“ gemeint, sondern die traditionellen. Zeitungen mithin und (auch) die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Denn in deren Redaktionsstuben (so hatte man es jedenfalls einstmals gelernt) sollte doch noch jenes journalistische Ethos vorhanden sein, wonach der Veröffentlichung eine gründliche Recherche voranzugehen hat. Nun muss man ja nicht gleich wieder nach dem berühmten Objektivitäts-Dogma des einstigen Star-Fernsehmodertors Hans-Joachim Friedrichs greifen, wonach man einen guten Journalisten daran erkenne, „dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache – auch nicht mit einer guten“. Selbstverständlich dürfen sich Journalisten für eine Sache einsetzen. Aber sie müssen in der Berichterstattung alle Facetten mit in Betracht ziehen. Und das heisst: auch (und gerade) solche, die nicht in ein vielleicht schon vorgefasstes Bild passen wollen.
Dass im hier behandelten Fall wieder einmal gegen Grundprinzipien des Journalismus verstossen wurde, ist ausserordentlich ärgerlich. Geradezu empörend jedoch ist, was an Reaktionen auf die Essener Vorgänge aus der Politik kam. Das sei „nicht gut“, zensierte im fernen Berlin die Bundeskanzlerin von der CDU; man solle „nicht solche Kategorisierungen vornehmen“. Noch vorwurfsvoller der Kommentar der kommissarischen Familien- und Sozialministerin Katharina Barley (SPD): „Eine Gruppe pauschal auszuschliessen, passt nicht zu den Grundwerten einer solidarischen Gemeinschaft.“ Nordrhein-Westfalens CDU-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann schliesslich weckte mit seinem Bannstrahl in Richtung Essener „Tafel“ Erinnerungen an jene einstige Truppe bei den Christdemokraten, die man einst ironisch „Herz-Jesu-Sozialisten“ nannte: „Nächstenliebe und Barmherzigkeit kennen keine Staatsangehörigkeiten.“
Das raubt einem den Atem
Das ist unverfroren und raubt einem schier den Atem. Welch ein Pharisäertum! Welche Heuchelei! Was für eine Selbstgerechtigkeit spricht aus diesen Worten! Da erkühnen sich – ohne auch nur einmal nach den Ursachen gefragt zu haben – Politiker, moralisch über freiwillige Helfer zu richten, die mit äusserstem Engagement wenigstens ein wenig die Folgen zu lindern versuchen, welche – zum Beispiel und nicht zuletzt – die regierungsamtliche Flüchtlingspolitik mit der viel zu lang unkontrollierten Grenzöffnung ausgelöst hat. Mit ihrer Kritik tun sie zudem gerade so, als ob sie die Schöpfer und Wohltäter der „Tafeln“ wären.
Nein, das sind sie nicht! Vielmehr handelt es sich um Vereine und um Freiwillige, die sich mit Eigeninitiative und bewundernswertem Einsatz um jene Menschen sorgen, die von unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt wurden. Und manchmal auch darüber hinaus. Hätten doch die Pharisäer in Berlin und Düsseldorf und wo auch immer zumindest den Mund gehalten.
Stattdessen müssen ausgerechnet jene, die anpacken, um existentielle Not zu lindern, erlebeben, wie ihre Stände und Autos mit Beschimpfungen wie „Nazis“ beschmiert werden. Wo bleibt denn hier der Aufschrei aus dem politischen Bereich und dem Chor der blossen Solidaritäts-Prediger aus Grünen, Linken, Pro Asyl und den diversen Sozialverbänden? Offensichtlich passt so etwas nicht in das Heileweltwunschbild all jener, in deren persönlichem Lebenskreis es solche Probleme halt nicht gibt.
„Nazi“ als normales Schimpfwort
Dazu: Wie kommt es eigentlich, dass der Begriff „Nazi“ in diesem Land mittlerweile offensichtlich schon die Qualität eines „normalen“ Schimpfworts wie etwa „Idiot“ angenommen hat? Er also anscheinend gar nicht mehr in gedankliche Verbindung gebracht wird mit den verbrecherischen Ungeheuerlichkeiten, die sich mit ihm verbinden? Die Leute von der Essener „Tafel“ haben das jedenfalls nicht verdient. Ebenso wenig wie den Vorwurf „Rassisten“ zu sein.
Es ist beunruhigend, wohin sich unsere Sprache entwickelt hat. Auch – und gerade – unter dem Einfluss der Kreuzritter einer „politischen Korrektheit“, die zwar als „rassistisch“ verbieten möchte, dass in polizeilichen Fahndungsaufrufen die Hautfarbe mutmasslicher Täter erwähnt wird, aber nichts davon hören wollen, wenn auf Schulhöfen Kinder von Zuwanderern mit diesem Begriff ziemlich aggressiv sogar gegen Lehrer zur Sache gehen.
Der für Alles sorgende Staat
Die Gesellschaft im Land zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz ist ziemlich schnell zur Hand mit moralischen Verdikten. Zumindest Teile von ihr sind es. Ganz oben steht dabei das Thema Gerechtigkeit. Es gehe nicht gerecht zu, heisst es gleichlautend. Im Allgemeinen. Wer wollte das auch bestreiten? Man braucht ja nur einmal die Liste derer durchzugehen, die sich alle ungerecht behandelt fühlen – Rentner, Raucher, Fahrrad- und Autofahrer, Patienten, Versicherte, Pendler usw, usw.
Keine Frage, sie haben sämtlich Gründe für ihre Unzufriedenheit. Und, in der Tat, hungern und frieren zu müssen und auf Einrichtungen wie die „Tafeln“ angewiesen zu sein, das ist eine schreiende Ungerechtigkeit, die es – so gut wie möglich – zu beseitigen gilt. Aber eben: So gut wie möglich. Natürlich kann man jede Forderung danach „beim Staat“ abladen. Ebenso wie das Verlangen nach innerer und äusserer Sicherheit, nach überall reibungslos funktionierender Infrastruktur, nach höheren Renten, schlaglochfreien Strassen, einer Rundumversicherung, kostenfreien Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder und Alte, erstklassigen Schulen und Unis, einen möglichst kostenlosen Öffentlichen Personen-Nahverkehr … Schliesslich schallt es ja allenthalben: Wir sind doch ein reiches Land. Es ist eine Schande, dass man überhaupt darüber reden muss. Und schliesslich zahlen wir ja auch Steuern!
Daran ist manches richtig. Aber trotzdem muss man einmal wieder an die alte Binsenweisheit erinnern, dass der Staat nicht alles regeln kann. Und schon gar nicht mit Massnahmen, die von allen gleichermassen als „gerecht“ empfunden werden. Der irische Dichter Oscar Wilde hat einmal treffend geschrieben, es gebe zwei Klassen von Menschen – die Gerechten und die Ungerechten. Und die Einteilung werde von den Gerechten vorgenommen. Dazu passt der satirische Spruch: „Die Menschen sind schlecht, sie denken an sich. Nur ich bin gerecht – ich denke an mich.“
Eine ganz tiefe Weisheit erkannte, in diesem Zusammenhang, Gustav Stresemann, der Aussenminister der Weimarer Republik: „Es gibt ein unfehlbares Rezept, eine Sache gerecht unter zwei Menschen aufzuteilen. Einer darf die Grösse der Portionen bestimmen, der andere hat die Wahl.“ Was das alles heissen soll? Ganz einfach – es wird nie gelingen, in einer so vielschichtigen Gesellschaft eine allseits zufrieden stellende Gerechtigkeit herzustellen. Dazu sind die Menschen, ihre Wünsche, Lebensvorstellungen und die entsprechenden Bedürfnisse viel zu verschieden.
Wer daher vorgibt, seine Vorstellungen seien allein gültig und gerecht, ist nicht nur ein Pharisäer, sondern ein Scharlatan. Dies müsste – nach der Erfahrung mit zwei Diktaturen – eigentlich gerade bei den Deutschen zum unauslöschbaren Allgemeinwissen gehören: Wer den Himmel auf Erden verspricht, wird am Ende die Hölle schaffen.
Unverzichtbar: Bürgerliches Engagement
Womit wir wieder beim Ausgangspunkt angelangt wären, den „Tafeln“. Und zwar diese als ein überzeugendes Beispiel für bürgerlichen Einsatz zugunsten der Allgemeinheit. Man mag, zu Recht, beklagen, dass solche Einrichtungen überhaupt nötig sind. Aber die Gesellschaft wird dennoch immer auf diese oder ähnliche tatkräftigen Bekundungen von Solidarität angewiesen sein. Und gerade jetzt, wo so viele verbal-vergiftete Pfeile auf die Helfer von Essen abgeschossen werden, wäre es für gewiss nicht Wenige besonders angebracht, sich einmal vor Augen zu führen, welche Mengen an Lebensmittel nicht zuletzt von ihnen tagtäglich weggeworfen werden in diesem ehrenwerten Haus namens Deutschland.
Der Hidjab und die Ayatollahs
Während eine Minderheit den so genannten Hidjab mit allen Mitteln verteidigen will, erklären viele Grossayatollahs, im Koran gebe es keinen entsprechenden Zwang. Der Iran stehe vor einem sozialen Erdbeben, glauben sogar die Regierenden. In einer solchen Situation ist das Kopftuch mehr als nur ein Stück Stoff.
Was ist Verderben? Die Antwort könnte lauten: verfaulen, vergammeln, verpfuschen. Richtig, aber nicht ganz: Verderben kann auch ein Straftatbestand sein - jedenfalls nach dem Strafgesetzbuch der Islamischen Republik Iran. Wer Verderben verbreitet, begeht demnach ein Verbrechen, für das er zu mehrjähriger Gefängnisstrafe oder sogar zum Tode verurteilt werden kann. Die Wege, die zum Verderben führen, sind zahlreich: Alkoholkonsum und -verkauf, Prostitution, Zersetzung des Glaubens, Schwarzmalerei, Verbreitung falscher Mystik und vieles mehr - alles, was zur Schwächung der Gottesordnung, also der Islamischen Republik, führen kann.
Neues Verderbnis – Kopftuch als Fahne
Am Dienstag der vergangenen Woche kam ein weiterer Tatbestand hinzu: Missachtung des Hidjab, also der islamischen Kleidervorschriften. An diesem Tag lieferte der Teheraner Polizeichef General Hossein Rahimi eine neue Definition des Verderbens: Frauen, die in der Öffentlichkeit ihr Kopftuch abnähmen und es als Fahne hissten, verbreiteten Verderben. Sie würden dafür von der Justiz künftig „entsprechend verurteilt“, so der oberste Polizist der Hauptstadt.
Der General ist ein Mann des Schlachtfeldes. Bevor er vor einem Jahr nach Teheran kam, war Rahimi Sicherheitschef der Provinz Belutschistan, einer schwierigen, manche sagen unregierbaren Grenzregion zu Pakistan und Afghanistan. Die Belutschen sind mehrheitlich Sunniten, ihre Provinz ist eine Hauptroute für Drogenschmuggel. Der Landesteil gilt als das Armenhaus des Iran.
Die Härte des Generals
Der General bringt also zweifelsohne viel Erfahrung mit. Nun ist er Polizeichef einer Mega-Metropole, deren genaue Einwohnerzahl niemand kennt. Die Angaben variieren zwischen 8 und 14 Millionen.
Und in Teheran hat er viel zu tun. Auf derselben Pressekonferenz, auf der er über den Zusammenhang zwischen Kopftuch und Verderben referierte, berichtete Rahimi auch, wie er eine Woche zuvor erfolgreich den Aufstand der Sufis, der Derwische, im Norden der Hauptstadt niedergeschlagen hat. Es gab mehrere Tote und mehr als zweitausend Verhaftete. Zeitweise hätten seine Männer daran gedacht, panzerbrechende Waffen gegen das Haus einzusetzen, in dem der Führer der Derwische wohnt. Bei diesem handelt sich um einen 90-jährigen kranken Mann, einen landesweit bekannten Rechtsanwalt, der stets Friedfertigkeit predigte und dessen Haus die Polizei nun mit Panzerfäusten angreifen wollte. Dazu kam es aber nicht.
Das soziale Erdbeben
Der Iran stehe vor einem sozialen Erdbeben, sagen selbst die, die das Land regieren. Drei Viertel der Bevölkerung gehörten zu den Unzufrieden, so das Ergebnis einer Untersuchung des Innenministeriums, die eine Woche nach den landesweiten Unruhen Anfang des Jahres veröffentlicht wurde. Drei Tage vor der Pressekonferenz des Generals hatte der iranische Wohnungsbauminister an der Universität Teheran eine Rede gehalten. Deren Titel lautete: „Unsere Gesellschaft zerfällt“.
Man mag sich wundern, warum die Mächtigen einer Gesellschaft, die Berge von Problemen zu bewältigen haben, ausgerechnet die Frage des Kopftuchs zu einem Problem der nationalen Sicherheit erheben. Oder müssen sie das tun, weil die Sicherheit des Staates deshalb tatsächlich gefährdet ist? Denn gerade in einer solchen Situation verwandelt sich das Kopftuch in etwas anderes: in mehr als ein Stück Stoff. Es kann zu einem Symbol des Zerfalls oder der Beständigkeit werden.
Kopftuchlosigkeit und Kapitalverbrechen
Wie auch immer: Was die Kleidervorschriften für Frauen angeht, wagt General Rahimi juristisch gesehen einen Riesensprung. Er erklärt auf einen Schlag eine Ordnungswidrigkeit zu einem Kapitalverbrechen. Bis jetzt sah Artikel 368 des iranischen Strafgesetzbuchs eine Haftstrafe von zehn Tagen bis zu zwei Monaten und eine Geldstrafe zwischen umgerechnet einem und zehn Euro dafür vor, wenn eine Frau die geltenden Kleidervorschriften missachtete.
Warum dieser Riesensprung? Was will, was kann der Polizeichef mit seiner Warnung erreichen und wer sind seine Adressaten – ausschließlich die Frauen? Und wie bedrohlich ist der Verstoß von Frauen gegen Kleidervorschriften tatsächlich? Zunächst muss man dem General zustimmen. Er schätzt die Lage richtig ein. Die neue Bedrohung, die seit etwa vier Wochen die islamische Republik heimsucht, ist in der Tat sehr gross - und im Kern auch systemgefährdend.
Zwei Welten, zwei Wertesysteme, zwei Methoden
Allein der Name dieser „Bedrohung“ strotzt vor Einfallsreichtum. „Mädchen der Revolutionsstrasse“ nennen sie sich und sie sind tatsächlich die Mädchen der Revolution. Sie sind in der islamischen Republik geboren und aufgewachsen - mehr nicht. Denn sie verkünden mit ihrem ironischen Namen, dass sie mit dieser real existierenden Dauerrevolution nichts im Sinn haben.
Ihre Waffe ist ein Kopftuch, meist in Weiss, befestigt an einem Stock, den die Protestierende hoch hält. Oft stellt sie sich dabei auf eine Erhebung - und schweigt. Sie achtet nicht auf Reaktionen ihrer Umgebung und strahlt eine respekteinflössende Furchtlosigkeit aus. Und im Nu verbreitet sich ihr Bild über soziale Netzwerke im ganzen Land und darüber hinaus. Vierzig Millionen IranerInnen sind mit dem Internet verbunden. Diese Protestform ist deshalb erfolgreich und bleibend, weil sie in ihrem Habitus und Erscheinungsbild entmachtend und entwaffnend ist. Und sie unterscheidet sich von allem, was der Gottesstaat seit seinem Bestehen erlebt - und eliminiert - hat.
Der Widerstand ist weiblich, friedlich, mutig und phantasievoll. Und er hört nicht auf, Bewunderer, Nachahmer und UnterstützerInnen im ganzen Land und im Ausland zu finden. Der männliche Sicherheitsapparat dagegen kennt nur Gewalt, Gängelung und Gefängnis. Es prallen also zwei völlig verschiedene Welten, gegensätzliche Werte, zwei verschiedene Haltungen aufeinander. Dieser Protest ist ansteckend und nachahmenswert. Daher ist er gefährlich.
Die "Mädchen der Revolutionsstrasse"
Die „Mädchen der Revolutionsstrasse“ haben inzwischen vieles revolutioniert. Sie haben die islamische Republik in ihrem Kern gespalten. Die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Fatwas über den Hidjab, die dieser Tag aus der heiligen Stadt Qom, dem Zentrum der schiitischen Gelehrsamkeit, verbreitet werden, zeugen von einer tiefen Unsicherheit innerhalb der Geistlichkeit.
Seit vier Wochen ist der Hidjab ein Hauptthema aller Freitagsprediger im ganzen Land. Am vergangenen Freitag jedoch hat in Teheran in seiner Predigt Ahmad Khatami, der bekannteste, radikalste und zugleich einflussreichste aller Freitagsprediger, etwas Sensationelles gesagt: „Schlimmer als die Frauen, die ohne Hidjab in der Öffentlichkeit erscheinen, sind jene, die diese Sünde religiös rechtfertigen.“ Würde der Hidjab verschwinden, so der Prediger weiter, bliebe von der Islamischen Republik nichts übrig. Und Khatami hat Recht. Der staatliche Kleiderzwang ist das wichtigste Symbol des Gottesstaates und es gibt ihn nirgendwo ausser im Iran.
Grenze der Unterdrückung erreicht?
Deshalb geht unter den herrschenden Mullahs die Angst um. Makarem Schirazi, der wichtigste und mächtigste Ayatollah des Iran, forderte am vergangenen Freitag die Bevölkerung auf, selbst gegen Frauen ohne Hidjab vorzugehen, selbst die Gewalt in die Hand zu nehmen - wie in einem Krieg, wo der Befehlshaber abwesend ist. In der besagten Erhebung des Innenministeriums, in der von den drei Vierteln Unzufriedener die Rede ist, schreiben die Autoren auch, mehr als 60 Prozent der IranerInnen träten für einen freiwilligen Hidjab ein.
Seit Beginn dieser neuen Aktionsform wurden allein in Teheran 35 Frauen verhaftet. Aus anderen Städten liegen keine genaue Zahlen vor, nur Meldungen über sporadische Verhaftungen. Die letzte Verhaftete heißt Maryam Schariarmadari, eine 32-jährige IT-Spezialistin, die am 28. Februar in Teheran auf einen Verteilerkasten stieg und ihr Kopftuch wie eine weiße Fahne in die Luft hielt. Sie wurde von einem Zivilpolizisten heruntergeschubst und brach sich dabei ein Bein. Doch sie wurde nicht ins Krankenhaus, sondern zunächst ins Gefängnis gebracht. Dort befinde sie sich im Hungerstreik, sagt ihre Anwältin Nasrin Sotudeh.
Ikone der Frauenbewegung
Härte, Einschüchterung und Verhaftungen nützten nichts - diese Protestform werde kein Ende nehmen, sie vervielfältige sich ständig, sagt die Anwältin Sotudeh. Sie muss es wissen. Die 52-jährige Juristin ist eine Ikone der iranischen Frauenbewegung. In ihrem Leben hat die Sacharow-Preisträgerin fast alles erfahren, was einer Frauenrechtsaktivistin in der islamischen Republik widerfahren kann. Verurteilung zu elf Jahren Gefängnis, 20 Jahre Berufsverbot als Anwältin, Ausreiseverbot und viele Schikanen mehr - von täglichen Morddrohungen ganz zu schweigen.
Doch Sotudeh lässt sich nicht einschüchtern. Die Verteidigung vieler „Mädchen der Revolutionsstrasse“ betreibt sie mit unermüdlichem Engagement und informiert regelmäßig die Presse über die Situation ihrer Mandantinnen. „Die Mädchen der Revolutionsstraße sind das Produkt unseres vierzigjährigen Fehlers: In all diesen vergangenen Jahrzehnten haben wir uns den Frauen gegenüber immer falsch verhalten“, sagt Soheila Djelodarzadeh, die seit 20 Jahren als Abgeordnete im iranischen Parlament sitzt, mal für die Reformer, mal für die Hardliner.
Präsident zwischen allen Stühlen
Irans Präsident Hassan Rouhani bleibt nicht anderes als zu schweigen. Mehr Freiräume hatte er den Frauen versprochen und hat es doch nicht vermocht, eine Frau zur Ministerin, Universitätsrektorin oder Bürgermeisterin einer Großstadt zu ernennen. Und das in einem Land, in dem Frauen über 60 Prozent der Studierenden stellen. Am vergangenen Freitag hatte Rouhani in seinem Regierungssitz den FIFA-Präsidenten Gianni Infantino zu Gast. Dem Fußballfunktionär konnte der Präsident nicht versprechen, ob iranische Frauen jemals Fussballspiele in einem Stadium miterleben dürfen.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal
François VI. Duc de La Rochefoucauld (1613-1680), französicher Offizier, Diplomat und Schriftsteller
Moralische Entrüstung besteht in den meisten Fällen aus 2% Moral, 48% Hemmungen und 50% Neid.
Schwarze Listen gegen Indiens Zivilgesellschaft
Lookout Circular (LOC) lautet der Name. Es ist der Steckbrief, den die indischen Behörden der Grenzpolizei übermitteln, wenn diese einen Terroristen, Kriminellen oder sonstigen Staatsfeind beim Verlassen des Landes oder bei der Ankunft abfangen soll. Ist ein LOC einmal ausgestellt, erscheint der Name auf einer geheimen Blacklist. Gegenwärtig soll sie rund 30'000 Namen enthalten.
Der Pass wird kassiert
‚Lookout’ hat also auch eine zweite Bedeutung – Ausschau halten über die Staatsgrenze hinaus, nach Indern und Ausländern. Das erklärt auch, dass die Foreigners Division im Innenministerium die Liste à jour hält. Sie wird zudem den indischen Botschaften im Ausland zugestellt. Diese können unliebsamen Ausländern auf der Schwarzen Liste das Einreisevisum verweigern. Oder sie stellen eins aus, melden dies ihrer Heimatbehörde – und der ahnungslose Reisende tappt in die Falle. Er wird entweder in U-Haft genommen oder gleich wieder vor die Tür gestellt.
Letzteres erlebte am 22.Januar 2018 der Schweizer Kurt Voegele, als er in Ahmedabad wieder ins Emirates-Flugzeug gesetzt wurde, mit dem er soeben via Dubai aus der Schweiz angereist war. Eine Person, die an der Grenze abgewiesen wird, hat theoretisch das Recht, dies vor Gericht zu bestreiten und eine Begründung für die Massnahme einzufordern. Voegele erhielt diese Möglichkeit nicht.
Ein engagierter Indienfreund
Der 75-Jährige protestierte, verwies auf sein gültiges Visum, seinen Status als ex-Diplomat der Schweiz und langjähriger Indien-Kenner. Nichts fruchtete. Der Pass wurde kassiert, beim Transit in Dubai wurde er – nun ein Sans-Papiers - von einem Emirates-Angestellten durch die Kontrollen geschleust. Erst beim Aussteigen in Genf erhielt er seine Dokumente zurück.
Voegele ist ein alter Freund von mir. Wir waren Kollegen auf der Schweizer Botschaft in Delhi gewesen, als er dort die entwicklungspolitische Zusammenarbeit und ich die wirtschaftlichen Beziehungen betreuten. Wir waren Nachbarn, unsere Kinder gingen in die gleiche Schule.
Dank seiner Arbeit in vielen Entwicklungsprojekten – sei es vor Ort, in Delhi, oder von Bern aus – war Voegele zweifellos einer der besten Indien-Experten des Aussen-Departements. Und er war mehr als dies: Er liebte dieses Land, in einer für uns Indophile typisch widersprüchlichen Mischung aus Wohlwollen und Frustration, Engagement und Respekt.
Missliebige indische Kontakte
Dies war der Grund, warum Voegele auch nach seiner Pensionierung mit indischen Freunden und Organisationen in Kontakt blieb und das Land bereiste. Es war ein Kontakt, der auch Solidarität mit den Opfern und Zurückgebliebenen einschloss, und aktives Mitdenken für Lösungen sozialer Konfliktstrukturen.
Bei den vielen Menschen, die sich beruflich mit einem andern Land auseinandergesetzt oder dort gelebt haben, sind persönliche Verbindungen und berufliche Interessen eng verknüpft. Eine Ferienreise schliesst auch Arbeitskontakte ein, und eine Berufsreise kann persönliche und touristische Interessen abdecken.
Diese Koppelung war wohl auch das Motiv von Voegeles kürzlicher Reise nach Ahmedabad. Er war früher mit V. Kurien verbunden, dem Gründervater des berühmten Anand-Milchprojekts in Gujerat. Er hatte dort ein Institute of Rural Management aufbauen helfen, und er war federführend bei der Schweizer Hilfe nach dem Erdbeben in Gujerat im Januar 2002 gewesen.
NGO-Aktivitäten – ein unlauteres Gewerbe?
Das Entwicklungshilfe-Gesetz verpflichtet die Schweiz auch zur einer tätigen Solidarität mit Entrechteten, namentlich Dalits und Minderheiten. Wie bei der Erdbebenhilfe hatte Voegele diesbezüglich mit der Organisation Janvikas zusammengearbeitet. Dessen Gründer Gagan Sethi, für den ‚Entwicklung’ immer wirtschaftliche und soziale Mobilisierung einschliesst, ist ein Freund Voegeles. Er wartete auf dem Flughafen, als dieser am 22.Januar in Ahmedabad landete.
Voegele konnte mit Sethi nicht einmal telefonieren und dieser hatte daher keine Möglichkeit, bei einem Gericht eine super-provisorische Verfügung gegen seine Abschiebung einzureichen. Genau dies war einen Monat zuvor einem nepalischen Menschenrechtsanwalt gelungen, der im südindischen Madurai ebenfalls abgewiesen worden war.
Die rasche Einsprache lokaler Freunde brachte für den Anwalt das Motiv der rabiaten Aktion an den Tag: Er sei zurückgewiesen worden, erklärte der staatliche Vertreter dem Richter, weil er beabsichtigt habe „to indulge in NGO activities“, also: NGO-Aktivitäten ‚zu frönen’; als sei dies ein unlauteres Gewerbe.
Neuer Tarif seit Modis Regierungsantritt
Bereits 2015, kein Jahr nach Modis Regierungsantritt, hatte das Innenministerium den neuen Tarif durchgegeben. Alle ausländischen Visumsbewerber, die im Land auch politischen und sozialen Fragen nachgehen möchten, dürfen in Zukunft nur noch mit einem ‚Forschungs-Visum’ einreisen; jedes Gesuch dafür – und das ist der springende Punkt – würde (so die Nachrichtenagentur PTI) fortan „streng überprüft“, namentlich auf „anti-nationale Aktivitäten“.
Die selektive Zulassung ausländischer Besucher – am liebsten sind der Regierung Geschäftsleute und Tajmahal-Touristen – ist heute Teil der offiziellen Strategie. Der zivilgesellschaftliche Freiraum soll so weit eingeengt werden, dass die laute und kritische Pluralität der indischen Demokratie möglichst rasch ersetzt wird durch eine öffentliche Meinung, die Abweichungen vom neuen nationalreligiösen Diskurs nicht mehr zulässt.
Druck- und Gewalt-Methoden
Als zentrale Angriffsziele bieten sich neben der ausländischen ‚Einmischung’ die Medien und die Organisationen der Zivilgesellschaft, namentlich die NGOs an. Die indischen Medien werden auf zwei Arten in Gleichschritt gebracht: Bei den elektronischen Medien sind es die Besitzer, auf die Druck – oder Lockmittel - angesetzt werden. Die meisten Fernsehstationen sind inzwischen im Besitz von Industriellen, die vom Goodwill des Staats abhängen. Bei den Printmedien ist der Staat präsent als der weitaus grösste Inseratenkunde. In einem schrumpfenden Werbemarkt kann er so für das Weiterleben einer Zeitung das Zünglein auf der Waage spielen.
Bei der zweiten Waffe werden die weissen Handschuhe abgestreift. Mithilfe sozialer Medien werden Kampagnen gegen einzelne Organe oder Journalisten orchestriert. Sie geben Feme-Gruppen aus der radikalen Hindutva-Szene das Signal, dass man bei einem Mord an diesen Netzbeschmutzern kein hohes Risiko der Strafverfolgung befürchten muss. Keiner der über ein Dutzend Morde an Publizisten und Journalisten ist bisher aufgeklärt oder geahndet worden.
Bürokratische Daumenschrauben
Bei den lästigen ausländischen Journalisten kommen Besuchs- und Aufenthaltsverweigerungen zum Zug. Korrespondenten in Delhi klagen über immer kürzere Aufenthaltsfristen. Akkreditierungen lassen auf sich warten, sodass viele Journalisten unter dem Damoklesschwert des Illegalitätsvorwurfs arbeiten müssen. Die meisten ausländischen Fernseh-Teams erhalten gar keine Einreise-Bewilligung mehr, es sei denn sie arbeiteten für einen Unterhaltungssender.
Auch bei zivilgesellschaftlichen Institutionen wird der ausländische Einfluss systematisch reduziert. Nur gerade NGOs und Stiftungen, die ausschliesslich ‚technische’ Hilfe leisten – die Gesundheitsprojekte der Gates-Stiftung etwa – können den Mittelzufluss ungehindert aufrechterhalten. Dagegen müssen Rights Groups – Organisationen mit dem Schwerpunkt Menschenrechte, Soziale Rechte, Umweltrechte – einen aufwändigen Bewilligungsprozess durchlaufen. Er erlaubt es dem Staat, ihnen mit dem Einbau langer Warteschlaufen den Atem zu nehmen.
Nach innen versucht der Staat Indiens zivilgesellschaftliche Vielfalt (es gibt über drei Millionen registrierte CSOs) mit bürokratischen Auflagen einzuengen, etwa einer engmaschigen Berichterstattung. Und kritische ausländische Freunde hält er sich mit der administrativen Guillotine der Schwarzen Liste vom Leib.
Leisetreterische Diplomatie
Umso befremdlicher ist es daher, wenn ausländische Staaten diese Verletzung internationaler Normen stillschweigend hinnehmen. Oder wenn sie – wie die Schweizer Botschaft in Delhi im Fall Voegeles – eine Intervention hinter dem Schleier der Geheimdiplomatie kaschieren. Im Endeffekt läuft beides auf dasselbe hinaus: Statt Indien mit einer Protestnote öffentlich an die Existenz internationaler Normen zu erinnern, kann die Regierung diese weiterhin ignorieren, ohne mit internationalem Widerspruch rechnen zu müssen.
Es geht zudem nicht nur um Menschenrechte. Wie steht es mit den vielen Touristen, die plötzlich nicht mehr sicher sind, ob ihr offizielles Einreise-Visum bei der Ankunft auch honoriert wird? Oder die Fluglinien, die sich an die Spielregeln – Überprüfung des Visumseintrags im Pass – gehalten haben: Müssen sie die Kosten für den erzwungenen Rückflug übernehmen?
Es verwundert daher nicht, dass der ehemalige Diplomat Kurt Voegele, sechs Wochen nach seiner ‚Rückschiebung’, weiterhin auf eine Kontaktnahme seines früheren Arbeitgebers wartet. Und noch weniger wundert man sich, dass ein Protestbrief von 45 indischen Freunden Voegeles an die indische Aussenministerin bisher unbeantwortet blieb.
Zu sexy für die Organspende
Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der neuen Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.
Nick Sempach wurde im Jahr 2000 geboren und lebt in Zürich. Er besucht die fünfte IB-Klasse des Realgymnasiums Rämibühl. Er ist Vizepräsident des Vereins “Solidarität“ des Realgymnasiums und erreichte das Schulfinale des Debattierwettbewerbs "Jugend debattiert".
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Stellen Sie sich vor, Ihr liebster Mensch erleidet einen schweren Autounfall. Die Mediziner sind in der Lage, ihm zu helfen. Doch leider fehlt es an der essentiellen Ressource: den Organen.
In der Schweiz warten etwa 1500 Menschen auf ein Spende-Organ. Rund 100 Personen müssen jährlich sterben, obwohl es nicht nötig wäre. Die lebensrettenden Organe wären eigentlich vorhanden, nur will sie niemand abgeben.
Die einfache Lösung wäre ein Organspendeausweis. 2016 gab es in der Schweiz jedoch pro Million Einwohner nur gerade 13,3 Spender. Die sonst so fortschrittliche Schweiz hinkt damit allen in Europa hinterher. Warum?
Oblivisce Mori
Uns geht es so gut wie noch nie: Die Zahl der Verkehrstoten nimmt ab, der letzte Krieg in unseren Gefilden geschah vor über einem halben Jahrhundert, die Arbeitslosigkeit liegt noch bei knapp drei Prozent. Die Medizin entwickelt sich unaufhörlich weiter, viele bis vor kurzem noch tödliche Krankheiten sind entweder ausgerottet oder zumindest behandelbar. Die digitale Unendlichkeit, die angesichts der technischen Perfektion zum Standard geworden ist, wird auf das menschliche Leben übertragen.
Der Tod wird zu einer Eventualität, und der Traum vom ewigen Leben scheint in greifbare Nähe zu rücken. Vor diesem Hintergrund sind Gedanken an die eigene Sterblichkeit und an das konkrete Sterben obsolet geworden. Und doch haben wir diesen sterblichen Körper, der einen geradezu ärgerlichen Kontrast zum greifbar gewordenen Traum vom ewigen Leben darstellt, und den es zu beobachten, zu kontrollieren und zu überwinden gilt.
Mein Körper ist mein Tempel
Nie zuvor war der eigene Körper so wichtig wie heute: Wo er früher auf den Schlachtfeldern des Dreissigjährigen Kriegs gemartert wurde, wird er heute im Gym gestählt, epiliert und wenn nötig kosmetisch modifiziert, indem Silikon impliziert, Fett extrahiert und Falten eliminiert werden. Der Körper dient nicht länger als Hülle für den Geist und die Seele, sondern ist vielmehr Ausdruck unseres ästhetischen Perfektionsstrebens, an dem wir gleichzeitig unser übersteigertes Kontrollbedürfnis ausleben können.
So erstaunt es nicht, dass die Schweiz über die höchste Dichte an Fitness-Studios verfügt. Der übersteigerte Fitnesswahn stellt sicher, dass der Körper fit ist, und die Organe gesund. Der fanatische Kontrollwahn und die zur Regel gewordene obsessive Eitelkeit hingegen stellen sicher, dass sie nicht dazu benutzt werden, um Leben zu retten, sondern vielmehr als Ausdruck der kontrollierbaren Schönheit Ewigkeit vorgaukeln.
Vanitas bedeutet nicht länger Vergänglichkeit, sondern nur noch Eitelkeit. Und so trägt heutzutage jeder ein Fitnessabo bei sich, und kaum einer einen Spenderausweis.
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Die Schülerinnen und Schüler wählen die Themen, die sie im Journal21.ch behandeln, selbst.
Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer (r.federer@rgzh.ch)
Das Realgymnasium Rämibühl (RG, bis 1976 Realgymnasium Zürichberg) ist ein Langzeitgymnasium. Es ist neben dem Literargymnasium die einzige öffentliche Schule des Kantons Zürich, die einen zweisprachigen Bildungsgang in Verbindung mit dem International Baccalaureate anbietet, wobei die Fächer Geographie, Biologie und Mathematik auf Englisch unterrichtet werden. Zu den berühmten Schülern gehören Max Frisch und Elias Canetti.
Weitere Informationen finden sich auf der Homepage www.rgzh.ch
Das Einzelne und das Ganze
Eigene Betroffenheit ist nie ein Qualitätsmerkmal für Filmemacher. Und selbstverständlich hält sich jemand wie Markus Imhoof (*1941) an diesen Grundsatz. Auch in „Eldorado“, wo er viel von sich preisgibt und so begründet, worum es ihm geht. „Die persönliche Motivation ist für mich immer die Basis für meine Arbeit als Filmautor und Regisseur. Das war auch bei ‚More Than Honey‘ so, der nicht entstanden wäre ohne meinen Grossvater, der mich die geheimnisvolle Welt der Bienen entdecken liess. In beiden Filmen, ‚More Than Honey‘ und ‚Eldorado‘, geht es um das Verhältnis des Einzelnen zu den andern, allen andern, dem Ganzen.“
Imhoof lässt die Gedanken zurückschweifen in seine Kindheit am Ende des 2. Weltkriegs 1945, die von der Begegnung mit einem Flüchtlingsmädchen geprägt ist. Dieses Erlebnis verbindet er mit dem Resultat jahrelanger Recherchen über die Zusammenhänge und Auswirkungen der hochkomplexen Migrationsthematik in Europa.
Das Mädchen Giovanna
Markus war vier, als er neben seiner leiblichen älteren Schwester temporär zu einer zweiten kam – Giovanna aus Mailand. Die Familie Imhoof nahm im Rahmen einer Aktion der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder (SAK) das Mädchen bei sich auf. Giovannas Vater galt in den Kriegswirren als verschollen, die Mutter war zu krank, um sich um die Tochter kümmern zu können.
1946 musste die Zehnjährige nach Mailand zurückkehren, weil man auf Weisung des Roten Kreuzes die Bindungen von Kindern zu Pflegefamilien nicht zu stark werden lassen wollte. 1949 bemühten sich die Imhoofs, Giovanna wieder zu sich zu holen, doch schon nach kurzer Zeit musste sie zurück nach Italien und verstarb 1950 krankheitsbedingt.
Das Boot ist voll
Das Reflektieren von Kriegselend, Hass und Ausgrenzung beschäftigt den Filmautor Markus Imhoof seit langem. In „Das Boot ist voll“ (1981) erzählt er von jüdischen Flüchtlingen in der Schweiz in der Zeit des Holocaust 1942. Sie werden, wie viele Tausende andere auch, ins nationalsozialistische Deutschland zurückgeschickt, was für die allermeisten den Tod bedeutete. Imhoof behandelt das düsterste Kapitel der neueren Schweizer Geschichte subtil, sein Drama wurde mit dem Silbernen Bären am Filmfestival von Berlin sowie einer Oscar-Nominierung als bester nicht-englischsprachiger Film bedacht.
Mehr als drei Jahrzehnte später greift Markus Imhoof nun den gesellschaftspolitischen Aspekt des Umgangs mit Migranten wieder auf: Im Dokumentarfilm „Eldorado“, der von der derselben Umsicht, Ernsthaftigkeit und Passion beseelt ist, die sein ganzes Werk durchzieht.
Flüchtlingskrise als Zustand
Worum geht es? Imhoof im Sender „Deutschlandfunk Kultur“: „Das Wort ‚Flüchtlingskrise‘ ist die grösste Täuschung. Es ist keine Krise, es ist ein Zustand, der andauert und zunehmen wird. Denn bald kommen noch die Klimaflüchtlinge und diese Verwerfungen werden auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen. Und die Verantwortung für die Veränderung des Klimas liegt eindeutig bei uns.“
Fakt ist, dass bis dato mehrere hunderttausend Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien geflohen und Zehntausende beim Versuch, es zu tun, umgekommen sind. Als Reaktion auf ein Unglück vom 3. Oktober 2013, als fast 400 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea vor Lampedusa ertranken, rief Italien die militärische Operation Mare Nostrum ins Leben. Sie lief bis zum Herbst 2014 und dabei sollen mehr als 100’000 Menschen an die italienische Küste gebracht worden sein.
Operation Mare Nostrum
Zehn Tage wurde an Bord des Flaggschiffs San Giusto gedreht, bei dessen vorletztem Mare-Nostrum-Einsatz, bei dem vor der libyschen Küste 1800 Bootsflüchtlinge an Bord geholt wurden. Imhoof, wieder bei „Deutschlandfunk Kultur“: „Das Schwierigste war, den Flüchtlingen auf dem Boot in die Augen zu schauen. Weil jeder Blick natürlich eine Einladung war, eine Bitte zu stellen. Ich konnte und durfte aber keine Einzelhilfe leisten. Es waren 1800 Menschen auf dem Schiff und weil ich der älteste war, dachten sie vielleicht, ich hätte eine gewisse Macht. Ich teilte meine Kabine mit einem Offizier und wir haben jeweils nachts auch über diese Dinge gesprochen.“
Anmerkung: Kurz nach den Dreharbeiten wurde die Operation Mare Nostrum eingestellt, weil die EU – sie war 2012 für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden – die Kosten für diese Form der Rettungsaktionen nicht mittragen wollte.
Der lange Weg ins vermeintliche Paradies
Markus Imhoofs gefühlstiefe Reflexionen über die Begegnung mit Giovanna anhand von Briefen, Fotografien und Oral-History-Zeugnissen werden in „Eldorado“ zusammengeführt mit Bildmaterial und Interviews von Drehorten im Mittelmeerraum, im Libanon, in Italien, Deutschland und der Schweiz. Man spürt, wie Imhoof darum gerungen haben muss, diese Quellen auszuwerten, um sein Anliegen – die Fürsprache für gelebte Mitmenschlichkeit – im Rahmen des überhaupt Machbaren ersichtlich, plausibel, verständlich in eine überschaubare filmische Form zu bringen.
Dass das vermeintliche Paradies auch nach der Überfahrt und Ankunft auf europäischem Boden für die verunsicherten Menschen noch weit entfernt ist, zeigt Imhoof symbolhaft in einer Szene mit an Deck zusammengepfercht sitzenden, von Angst, Skepsis und Misstrauen gezeichneten Passagieren. Zwar ist ihnen auf dem nach allen seemännischen Regeln korrekt geführten Militärschiff eine Verschnaufpause vergönnt, doch die Nerven der Hilfesuchenden liegen blank.
Dass es beim Satz eines Helfers „Wir versprechen ihnen nicht das Paradies, aber es wird jeden Tag besser“ darum ging, die gereizte Stimmung zu entschärfen, ist klar. Denn auch für gut ausgebildete Militärpersonen ist eine derartige Lage eine extreme Herausforderung und ein anwesendes Filmteam mehr irritierend als unterstützend.
Im Schweizer Bunker
Umso beindruckender, wie es Markus Imhoof mittels Zusatzkommentaren und ohne effekthascherische filmsprachliche Tricks schafft, eine Ahnung von diesen Ausnahmesituationen zu vermitteln; auch dort, wo es um die sicherheitsdienstliche Abnahme von Fingerabdrücken oder um medizinische Untersuchungen geht. Und sehr bewegend bei den Kontrollen von Flüchtlingen durch Schweizer Grenzbeamte am Bahnhof Chiasso im Tessin.
In der Schweiz führte Imhoof Gespräche mit Beamten und Politikern und nahm einen Augenschein in der bernischen Gemeinde Riggisberg, wo Migranten untergebracht waren. „Es ist alles ein bisschen netter“, sagt Imhoof dazu, „die Berge sind wunderbar, aber die Flüchtlinge wohnen im Keller, im Bunker. Jeder Schweizer hat ein Anrecht auf einen Bunkerplatz, aber weil ja keine Not ist, schlafen dort unten jetzt die Fremden. Es kommt mir so vor, wie wenn (…) eigentlich Abschreckung das Ziel ist. Man will, dass möglichst wenige da sind und man sie bald wieder los wird.“
Sklaverei und kriminelle Energie
Anfangs illustriert Imhoof „Eldorado“ weitgehend mit Archivmaterial, wie man es aus der News-Berichterstattung kennt und fast schon als redundant wahrnimmt. Doch in Kombination mit Imhoofs Aufnahmen entsteht etwas hautnah Eigenes. Beispielhaft zu sehen in einem italienischen Übergangszentrum, wo bemühte, aber sichtlich überforderte Mitarbeiter genauso zu Wort kommen wie aufgebrachte Flüchtlinge.
Beklemmend sind die Szenen im „Gran Ghetto di Rignano“ bei Foggia, Italien. Zur Drehzeit wurde dort unter dem Diktat der Mafia rund ein Drittel der global gehandelten Tomaten geerntet und verarbeitet, um dann auch in Afrika verkauft zu werden – auch in Ländern, aus denen viele Flüchtlinge herkommen. Illegale männliche Einwanderer wurden als Arbeiter schamlos ausgebeutet, die Frauen zur Prostitution gezwungen; von Sklaverei zu sprechen ist in diesem Zusammenhang keine Übertreibung. Und die geheim gedrehten Bilder spiegeln die kriminelle Energie und das Gewaltpotenzial in diesem Umfeld. 2017, nach den Dreharbeiten, brannte ein Teil des Areals ab, wobei zwei Menschen starben.
Mit Fingerspitzengefühl und Haltung
Für die Kamera ist der Schweizer Peter Indergand verantwortlich. Er arbeitet auch mit dem Dokumentarfilmer Christian Frei zusammen, so beim Oscar-nominierten Porträtfilm „War Photographer“ oder bei „Genesis 2.0“, für den er am US-Sundance Film Festival 2018 mit dem Special Cinema Award geehrt wurde. Mit Indergand und Imhoof haben sich erfahrene Filmschaffende mit Fingerspitzengefühl zusammengetan, die derselben klaren ethischen Haltung verpflichtet sind; ihr Film kommt ohne Stimmungsmache und Schuldzuweisungen aus und bietet keine Scheinlösungen an. Das ist auch einer Ratlosigkeit geschuldet im Wissen darum, dass das sich die Lage in der Flüchtlingsdebatte tagtäglich ändern kann.
Auch wenn viele Fragen offenbleiben, wird man als Zuschauer nicht in die Resignation oder Mutlosigkeit entlassen. Weil Markus Imhoof seinem eingangs zitierten Credo „es geht um das Verhältnis des Einzelnen zu den andern, allen andern, dem Ganzen“ gerecht wird: Ausgehend von der biografischen Aufarbeitung seiner Kindheitsbeziehung zu Giovanna, der Trauer über ihren frühen Tod, vielleicht im Nachsinnen über eine erste Liebe, setzt sich Markus Imhoof mit „Eldorado“ für Nächstenliebe ein.
Ab 8. März in den Deutschschweizer Kinos
Trailer: https://youtu.be/m6NZoSfFYOk

John D. Rockefeller, 1839–1937
Ich arbeite nach dem Prinzip, dass man niemals etwas selbst tun soll, was ein anderer für einen erledigen kann.
Deutsch. Eine Sprache wird malträtiert
„Den Beamten verschlägt’s die Sprache“, so lautet der Titel eines kleinen Artikels. (1) Eine unscheinbare Notiz zur Sprache der eidgenössischen Verwaltung. Sie befragt im Moment rund 38’000 Bundesangestellte zu ihren Sprachkompetenzen – dies im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen GER. Wörtlich: „Es handelt sich [dabei] um eine Anpassung des GER-Niveaus, um den in der Sprachverordnung (SPV) gewählten Begriff ‚passive Kenntnisse‘ operationalisierbar zu machen.“
Nebulöse Worthülsen aus Bundesbern
Passive Kenntnisse operationalisierbar machen: Solche Sätze zeugten von einer beispiellosen Sprach-Inkompetenz, urteilt ein Experte und fügt hinzu: Die Unterlagen seien in einer Fachsprache formuliert, die vielleicht für Linguisten geeignet sei, nicht aber für einen Fragebogen.
Ein zweites Beispiel aus der Bundesverwaltung: „Dass es längerfristig, primär aus Gründen der demografischen Alterung, einen finanziellen Mehrbedarf gibt, hat der Bundesrat nicht in Abrede gestellt.“ (2) Knapp und konkret heisst das wohl: „Die Leute werden immer älter, also kostet die AHV mehr; das bestreitet der Bundesrat nicht.“
Hochtrabender Sprachschwulst
„Für zünftige Sprachbeamte ist der übersetzte Satz wohl zu simpel, zu verständlich, zu wenig beeindruckend“, meint der Philosoph und Publizist Ludwig Hasler und analysiert: „Darum beginnen sie gleich mit einem Nebensatz (‚dass es längerfristig ...‘), dann verschachteln sie, so gut es geht (‚dass es längerfristig, primär aus Gründen ...‘), gleichzeitig verwischiwaschen sie: ‚längerfristig‘. Was heisst das? Ich unterscheide: kurz-, mittel-, langfristig. Ist ‚längerfristig‘ länger als langfristig? Wollen sie damit sagen: Es dauert noch unendlich lange? Also keine Angst? Trotz der ‚primären Gründe der demografischen Alterung‘?“
„Merkwürdig“, so Hasler, „dieser Plural, wo unsereins denkt: Erst kommt der primäre Grund, dann der sekundäre ... Doch bei einem sprachlichen Meisterstück wie ‚demografische Alterung‘ gilt wohl eine andere Logik: Altert nun bereits die Demografie? Jedenfalls droht ein ‚finanzieller Mehrbedarf'.“ (3)
Deutsch wird zum „echten Problem“
So geht es dahin, in gröbstem Sperrholzdeutsch und mit garstigen Nominalkonstruktionen, und wenn man sich durch solche Texte gequält hat, fühlt man sich, als hätte man eine Tüte Mehl gegessen. Doch so läuft helvetische Offizialschreibe – als pseudowissenschaftliches Sprachgewölk, das nur einen Zweck erreicht: Statt das Problem zur Sprache und auf den Punkt zu bringen, palavert sie die Sache mit geschraubten Floskeln ins Land hinaus.
Deutsch sei in der Verwaltung „ein echtes Problem“, verkündete Justizministerin Simonetta Sommaruga vor einiger Zeit. Darum bot sie über hundert Bundesbeamte zu einer Schreibwerkstatt auf. Hier sollten sie für die bundesrätlichen Sprechnotizen eine Sprache lernen, die auch ein Durchschnittsbürger verstehe. (4) Viele Verwaltungsmitarbeiter texteten unverständlich, so Sommaruga.
Gutes Deutsch ist verständliches Deutsch
Der hochtrabende Wortschwulst kursiert überall. In der Ökonomie überschlagen sich die Phrasen: „einer beschleunigten Dekomposition der Wertschöpfungskette entgegenarbeiten“ usw. Die Juristensprache steht dem in nichts nach: „vorbehaltlich einer noch abzuschliessenden tarifvertraglichen Regelung bezüglich Ergänzung weiterer multimedialer Verwertungsrechte der allgemeinen Bedingung zum Vertrag der ...“ Und erst der Pädagogenslang: „Leider müssen wir Ihnen, liebe Eltern, mitteilen, dass bei wiederholtem Nichtkooperieren bezüglich Kindergartenregeln gewisse Umsetzungen realisiert werden, die im Einzelfall zur Anwendung kommen.“
„Wörter waschen!“, heisst Bert Brechts kluger Rat – oder eben die Sprache reinigen. Denn „gutes Deutsch ist verständliches Deutsch“, weiss Wolf Schneider, deutscher Sprach-Profi und Autor. Mager schreiben sei das Prinzip anerkannter Journalisten. Doch dahinter stecke Schwerarbeit. Einer müsse sich eben plagen, meint Schneider, entweder der Schreiber oder die Leserin. Unter den Journalisten geniesst er einen ähnlichen Ruf wie Günter Netzer bei den Fussballfans. Doch sein Credo bleibt in Bundesbern ungehört.
Mit dem Ausweis der Unverständlichkeit
Vielleicht liegt die Ursache des Problems im tertiären Bildungssystem verortet. Akademisch belohnt werde, so die Klage, wer in seinen Texten monströse Konstruktionen und viel Fachjargon verwende. Der sprachsensible Wolf Schneider spricht darum vom „Nachweis der Wissenschaftlichkeit durch den Ausweis der Unverständlichkeit“. Hat er so Unrecht?
Wie wohltuend tönt es dagegen aus der ETH Zürich. Das Departement Umweltsystemwissenschaften fordert von einer wissenschaftlichen Arbeit, dass sie „kurz und klar“ sei, und fügt bei: Stilistisch „zeichnet [sie] sich durch eine leicht verständliche Sprache aus, d. h. kurze Hauptsätze, höchstens Nebensätze ersten Grades, keine Schachtelsätze. Der Text lässt sich leicht laut lesen. Man versteht ihn beim Anhören sofort.“
Ein Satz von programmatischer Prägnanz. Schriftsteller mit ihrer kreativen Fantasie sind da stilistisch allerdings freier. Denken wir nur an Thomas Mann.
Die Volksschule ist gefordert – auch das Gymnasium
Die Sprache zeugt Welt; sie wird ihrerseits über Sprache fassbar. Wahrnehmen und Denken sind mit Sprache verbunden. Doch in den Primarschulen fristet Deutsch ein eher marginales Dasein, konkurrenziert von Früh-Englisch und Mittelfrüh-Französisch. Dazu werden kaum mehr Texte geschrieben, geschweige denn minutiös analysiert, individuell besprochen und verbessert. An die Stelle zusammenhängender Antworten tritt oft das Zustöpseln von Lückentexten; Deutschprüfungen mutieren zu Ankreuztests. Die Zeit zum Üben fehlt. So verkümmern kohärentes, exaktes Schreiben, inhaltlicher Reichtum und sprachliche Differenzierung.
Die Schule sollte hier gegen den Stachel löcken. Wer in einer globalisierten und englisch dominierten Welt sprachlich mithalten will, hat es leichter, wenn er zuvor auch in der Muttersprache Deutsch den Meister gemacht und kohärent formulieren gelernt hat. Deutsch ist und bleibt der zentrale Schlüssel zu vielen Fächern, Sprache der Königsweg zur Kultur.
Junge Menschen zu einer präzisen Sprache führen
Jeder Gedanke hat einen Körper, die Sprache. Ihr ist Sorge zu tragen; sie ist zu trainieren – wie ein Instrument oder eine Sportdisziplin. Konsequent und intensiv. Das ist elementare Pflicht der Schule und eine ihrer anspruchsvollsten Aufgaben. Kinder und Jugendliche zu einer klaren und präzisen Sprache zu führen, diese Aufgabe wird heute angesichts der fragmentierten Lebenswelt nicht leichter. Im Gegenteil. Doch sie bleibt als Auftrag.
Kein „Neusprech“ wie in Orwells „1984“
Denn dort, wo Sprache verödet, veröden Wahrnehmung und Denken. Das will ja auch der „Big Brother“ in George Orwells Roman „1984“. Der Sprachwissenschaftler Syme bastelt am Wörterbuch des „Neusprech“. Zur Hauptfigur des Romans, Winston Smith, sagt Syme: „Siehst du denn nicht, dass Neusprech kein anderes Ziel hat, als die die Reichweite der Gedanken zu verkürzen?“
Diese Gefahr ist heute evident. Darum muss die Schule sprachliche Grenzen öffnen und weiten. Das ist ihre ureigene pädagogische Aufgabe. „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ (Ludwig Wittgenstein). Die sprachliche Welt darf kein Gefängnis sein. Denn „ohne Sprache bin ich wie eingesperrt“, singt Papageno in Mozarts aufklärerischer „Zauberflöte“.
(1) Eva Novak: Den Beamten verschlägt’s die Sprache. In: Luzerner Zeitung, 18.02.2018, S. 5.
(2) Ludwig Hasler: Schreiben ist geschäftiger Müssiggang. Vortrag PH Zug, 24.05.2007. Msc. unpubl.
(3) Ludwig Hasler: Des Pudels Fell. Neue Verführung zum Denken. Frauenfeld: Verlag Huber, 2010, S.198.
(4) Markus Häfliger: Besser Texten mit Simonetta Sommaruga. In: NZZ online, 24.07.2012.
Auslandseinsätze
Diese Sprachkosmetik funktioniert. In Deutschland regt sich kaum Widerstand gegen die „Auslandseinsätze“ in diversen aussereuropäischen Ländern mit ihren „friedenserhaltenden“ und „friedenssichernden“ Massnahmen. Offiziell gibt es seit 1990 „Auslandseinsätze“. Das ist eine lange Zeit. Sie ist lang genug, um zu dem begründeten Urteil zu kommen, dass diese Kriege, denn darum handelt es sich, weder friedenssichernd noch friedenserhaltend sind.
Derzeit läuft der Film „The Post“ von Steven Spielberg. Dieser Film wurde von der Kritik begeistert gefeiert und füllt die Kinosäle. Er handelt davon, dass mehrere Präsidenten der USA mitsamt ihren Administrationen den amerikanischen Kongress und die Öffentlichkeit in Bezug auf den Vietnamkrieg systematisch belogen haben. Alle Verantwortlichen wussten, dass die erklärten Kriegsziele mit den immensen Opfern auf Seiten des amerikanischen Militärs und auf Seiten der geschundenen Bevölkerung vor Ort nicht zu gewinnen waren. Aber sie machten weiter, weil niemand die Verantwortung für das Eingeständnis der Niederlage übernehmen wollte.
Es ist dem Mut einiger Journalisten zu verdanken, dass sie die „Pentagon Papers“, die ihnen der Whistleblower Daniel Ellsberg zugespielt hatte, veröffentlichten. Das war der Anfang vom Ende des Vietnamkrieges.
Der ehemalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck rechtfertigte am 4. Dezember 2002 den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan mit dem Satz: „Die Freiheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt.“ Heute gehörte keinerlei Mut dazu, gegen diese Verblendung anzugehen. Das geschieht aber nur an den politischen Rändern. Die „politische Mitte“ ist offensichtlich mit Wichtigerem beschäftigt.
André Gide, französischer Autor und Nobelpreisträger, 1869–1951
Nur wenige sind so gut, dass der Ruhm sie nicht verderben könnte.
André Gide, französischer Autor und Nobelpreisträger, 1869–1951
Nur wenige sind so gut, dass der Ruhm sie nicht verderben könnte.
André Gide, französischer Autor und Nobelpreisträger, 1869–1951
Nur wenige sind so gut, dass der Ruhm sie nicht verderben könnte.
André Gide, französischer Autor und Nobelpreisträger, 1869–1951
Nur wenige sind so gut, dass der Ruhm sie nicht verderben könnte.
Die Teenagerin
„Wegen eines Tweets wurde eine Teenagerin gefeuert“, schrieb das deutsche Nachrichtenmagazin „focus“.
Die Gesellschaft für deutsche Sprache schreibt: „Das Substantiv ‚Teenager’ ist zwar grammatikalisch maskulin, aber auf die Geschlechter bezogen dennoch neutral in die deutsche Sprache eingegangen. Daher können sowohl Jungen als auch Mädchen mit dem Substantiv ‚Teenager’ benannt werden, ohne dass Mädchen eine besondere weibliche Markierung erhalten müssen.“
Kurz: Es geht nicht um Feminismus oder Genderfanatismus. Es geht um Grammatik. „Teenagerin“ ist falsch. „Teenager“ hat kein definiertes Geschlecht, es ist als Wort geschlechtslos, weder männlich noch weiblich. Das Geschlecht ergibt sich aus dem Kontext.
Das trifft bei vielen englischen Berufsbezeichnungen zu, die im Deutschen verwendet werden. Und bei fast allen wäre eine „verweiblichte Form“ grammatikalisch falsch.
„Die Songwriterin“, „die Design Engineerin“, „die Editorin“, „die Editorin-in-chief“, „die Webmasterin“, „die Team Leaderin“, „die Twenin“, „die Brokerin“, „die Consultantin“, „die Followerin“, „die Jobberin“, „die Founderin“.
Es gibt zwei Möglichkeiten, auf diesen Trend zu reagieren:
Eins: Man sagt: Ihr lasst euch von den Genderwahnsinnigen beeinflussen. Ihr seid ungebildete Grammatik-Deppen.
Zwei: Man sagt: Diese Wörter sind eben längst eingedeutscht, deshalb ist die weibliche Form möglich. Mit diesem Argument kann man jede Grammatik erschlagen.
Schon lange werden englische Wörter dem Deutschen einverleibt. Neu ist nur das Ausmass. Ob das gut oder schlecht ist – da gehen die Meinungen auseinander. Dass mit der Gender-Diskussion auch eine „Verweiblichung“ der Berufsbezeichnungen erfolgt, ist nur verständlich. Doch manchmal schlägt der Management-Speak Purzelbäume. Die „Headin of Brand“, „die Scoutin“, „die CEOin, die Chief Executive Officerin“, „die Chief Financial Officerin“ oder „die Flight Attendantin“.
Im Schweizerdeutschen gibt es für den Torhüter den Ausdruck „der Goali“ – auch ein Anglizismus. Pedro Lenz schrieb den wunderbaren Roman „Der Goali bin ig“. Und wenn der Goali nun eine Frau wäre? Dann wäre sie „eine Goalin“. Klingt gut.
Überhaupt: Ans Schweizerdeutsche haben sich die Gendergurus noch nicht gemacht. Doch das wird kommen. Da liegt ein riesiges Beackerungsfeld brach.
Da gibt es die netten schweizerdeutschen Ausdrücke: „Bisch en Lappi“, „bisch en Chnuschti“, „bisch en Galööri“, „bisch ein Giiznäpper“, „bisch en Gaggalari“, „bisch en Löli“. Alles grammatikalisch männliche Formen. Doch sind sie – wie Teenager und andere englische Wörter – auch auf beide Geschlechter bezogen?
Wie auch immer: Bald könnte es heissen: „Bisch e Galöörin“, „bisch e Giiznäpperin“, „bisch a Gaggalarin“, „bisch e Löliin“.