A lot of legends, a lot of people, have come before me. But this is my time.
Usain Bolt, 3-facher Olympiasieger über 100 Meter
Die weltweit grösste Seefahrtsnation – trotz Krise
Griechenland ist die weltweit grösste Seefahrtsnation. Würde die Regierung die Vereinbarung mit den Geldgebern umsetzen, dann bliebe das nicht lange so.
Wo geht man hin, wenn man in Griechenland etwas Besonderes zu feiern hat? Auf eine Insel. Wir entschieden uns für einige Tage Skopelos: Die Insel aus dem Bilderbuch, die dem Film zum Musical Mamma Mia als Kulisse gedient hat.
Wir fanden die Fahrpläne online, buchten und pünktlich um 10 Uhr morgens legte die Fähre im Hafen von Kymi ab. Ebenso pünktlich lief sie drei Stunden später im Hafen von Skopelos ein.
Identitätsstiftende Beziehung
Die Schifffahrt. Dieser Wirtschaftszweig versinnbildlicht die fast mystische und identitätsstiftende Beziehung, die die Griechen mit dem Meer unterhalten. In der Antike hat das Orakel von Delphi in rätselhaften Worten gesagt, dass die Kriegsschiffe Athen retten würden und heute rettet die Schifffahrt die griechische Wirtschaft – wenigstens teilweise.
Die Schifffahrt ist eine der ganz wenigen Branchen, der die Krise nichts anhaben konnte. Sie steuert nach wie von 7% der griechischen Wirtschaftsleistung bei. Mit einer Flotte von anfangs Jahr 4909 Schiffen (202 mehr als im Vorjahr), ist Griechenland die führende Schifffahrtsnation – vor Japan, China und Deutschland.
Tiefe Besteuerung
Warum ist dass so? Ein Grund haben wir genannt: Die lange Tradition Griechenlands als Seefahrernation. Hunderte und tausende von Inseln müssen erschlossen werden durch ein System von Schiffen und so liegt es nahe, auch in die Ferne zu schweifen.
Der zweite Grund ist die tiefe Besteuerung. Griechenland kennt die sogenannte Tonnagebesteuerung. Dieses System wurde nach dem zweiten Weltkrieg eingeführt, um der im Krieg zerstörten Handelsflotte wieder auf die Beine zu helfen – mit durchschlagendem Erfolg. Tonnagebesteuerung bedeutet, dass eine Reederei für die Tonnage eines Schiffes bezahlt und nicht für den Gewinn, den es erwirtschaftet.
Tonnagebesteuerung
Das ist im Vergleich zu einem Land, das die Schifffahrt wie ein normales Unternehmen am Gewinn besteuert, extrem günstig. Stammtischpolitiker, die fordern, Griechenland solle endlich die Reeder richtig besteuern und damit die Kassen sanieren, vergessen aber eins: Nicht weniger als 14 EU-Länder kennen die Tonnagebesteuerung.
Würden die Griechen nun also die Tonnagebesteuerung stark erhöhen oder abschaffen, dann würden die sehr mobilen Reedereien in grosser Zahl abwandern: Nach Hamburg, Amsterdam, Antwerpen – wo auch immer. Das Resultat wäre doppelt negativ: Der Fiskus hätte seine Einnahmen nicht erhöht und Arbeitsplätze würden in grosser Zahl verloren gehen.
Ein Schelm, wer etwas Schlechtes über Schäuble denkt
Beim der letzten Darlehensvereinbarung (Memorandum III) im letzten Sommer musste Griechenland einwilligen, die Reeder stärker zur Kasse zu bitten. Da ist bisher zum Glück nicht geschehen, auch weil die Tonnagebesteuerung seit 1967 in der Verfassung festgeschrieben ist. Und Verfassungsänderungen brauchen Zeit. Es ist aber zu hoffen, dass Ministerpräsident Tsipras auch hier das macht, was er meistens macht: Möglichst nur das von der Darlehensvereinbarung umsetzen, was er wirklich muss. Und eine Änderung an der Tonnagebesteuerung gehört hier sicher nicht dazu.
Länder wie Deutschland müssen sich ausserdem den Vorwurf gefallen lassen, dass sie diese Forderung aus egoistischen Gründen gestellt haben. Auch Deutschland kennt die Tonnagebesteuerung, will sie aber den Griechen nicht gewähren. Wohin würde wohl ein Teil der Reedereien abwandern, wenn deren Besteuerung sich zu deren Ungunsten verändern würde? Ein Schelm wer etwas Schlechtes über Herrn Schäuble denkt.
Die Kunst der Nullaussage
Die Stadt Zürich tut sich hervor mit amtlich veranstalteter «Kunst im öffentlichen Raum». Ein Beispiel ist zurzeit auf dem Turbinenplatz in Zürich West zu besichtigen. Bemerkenswert ist weniger die dort präsentierte Kunst als vielmehr die beigestellte Lesehilfe zum Verständnis derselben. Auf einer soliden Tafel, wie sie sonst für temporäre Verkehrssignalisationen verwendet wird, tut die Amtsstelle «Kunst und öffentlicher Raum» das Folgende kund:
«Martin Boyce (*1967) lebt in Glasgow und zählt zu den bekanntesten Künstlern der Gegenwart. (...) Seine Installationen, Fotografien und Zeichnungen weisen eine Vielzahl von Referenzen an die Kunst-, Design- und Architekturgeschichte auf und schaffen neuartige Lesarten der Funktionen, Oberflächen, Formen und Strukturen einer Objektwelt, die uns wohlbekannt erscheint. So entstehen hybride Kreationen, poetische, formvollendete Kunstwerke, die uns dazu animieren, vertraute Wahrnehmungsperspektiven zu revidieren.» Undsoweiter, undsoweiter.

Diesen verblasenen Kunst-Sprech mit den immergleichen Floskeln – Veränderung von Wahrnehmungsgewohnheiten, hybrider Charakter der Artefakte, witzig-ironisch-subversiver Umgang mit der Objektwelt – kennt man von Saaltexten bei Ausstellungen, Katalogbeiträgen oder Vernissage-Reden. Es ist eine standardisierte Sprache, die bei zeitgenössischer Kunst fast immer passt und erst noch die Anstrengung einer Auseinandersetzung mit den Werken erübrigt. Zuweilen mag die Floskolalie der Verlegenheit geschuldet sein, dass die zu besprechende Kunst einer geistigen Annäherung wenig Anhalt bietet. Die endemische Verbreitung des Kunst-Sprechs lässt jedoch primär auf eine gewisse intellektuelle Anspruchslosigkeit schliessen.
Tafeln des Inhalts wie die auf dem Zürcher Turbinenplatz aufzustellen, ist ein No-go. Wenn schon, so müsste die amtliche Mitteilung etwas Erhellendes zu sagen haben, und zwar gerade für Betrachter, die mit solcher Kunst vermeintlich nichts anfangen können. Der Galerien-Jargon wird diese Klientel jedoch nicht ansprechen.
Ein mutiges Konzept von Kunst im öffentlichen Raum würde ohnehin mit der Annahme operieren, die Arbeiten von Martin Boyce sprächen für sich und bräuchten keine Lesehilfe. Aber vielleicht inszeniert das Amt «Kunst und öffentlicher Raum» gar nicht die Werke, sondern nur sich selbst.
Von der Aare an den Main
Kurz nach dem Bahnhof Olten in Richtung Bern führt die Bahn in einem spitzen Winkel über die Aare. Wer oft auf dieser Strecke unterwegs ist, dem ist die kleine Kiesinsel auf der rechten Seite, also von der Bahnbrücke flussabwärts, vertraut – „war vertraut“, müsste man korrekterweise sagen, denn heute ist sie fast verschwunden.
Das Schicksal zweier Pappeln
Als ich vor über zehn Jahren wöchentlich mehrmals von Zürich nach Bern zu pendeln begann, standen auf der Insel zwei Bäume, vermutlich Pappeln, aber ganz sicher war ich mir nicht, denn dazu war die Distanz zu gross. Sie müssen bereits viele Jahrzehnte dem Fluss getrotzt haben, denn ihre Stämme hatten einen ordentlichen Umfang. Zugegeben, der Baum am oberen Ende der Insel stand schon vor zwölf Jahren schief. Sein Stamm war stark gegen die Strömung geneigt, die meisten Äste hatte er bereits verloren, aber er trotzte bei Hochwasser, wenn die Insel ganz im braunen Wasser verschwand, mit seinen Wurzeln der Erosion der Insel und schützte so den flussabwärts gelegenen zweiten Inselbaum vor den Fluten.
Irgendwann an einem frühen Morgen vor einigen Jahren – ich erinnere mich nicht mehr an das genaue Datum – war der obere Baum einfach weg. Auch dem zweiten Baum hatte das Hochwasser ganz offensichtlich ziemlich zugesetzt, denn dieser stand fortan so schief im Fluss wie einst sein schützender Freund. Als ich vor einigen Wochen wieder einmal mit dem Zug über die Brücke fuhr, lag der übrig gebliebene Stamm fast waagrecht auf der Kiesinsel, hatte alle Äste verloren und schien sich mit letzter Kraft an seine Insel zu klammern wie ein Ertrinkender.
Erneuter Aufbruch
An die kleine Insel in der Aare musste ich unweigerlich denken, als wir am Samstag mit unserem Schiff, der Solveig VII, in Wertheim am Main vorbeifuhren und den Lauf der Tauber hinauf schauten, wo ein paar hundert Meter oberhalb der Mündung des Flusses in den Main ein altes Ausflugsschiff liegt, das dem Motor-Yacht-Club Wertheim als Basis dient.
Ja, wir sind wieder mit unserem Schiff unterwegs. Vor einer knappen Woche sind meine Frau Sibyl und ich nach Frankfurt gereist. Die Solveig lag am Steg der Bootsbaufirma Speck, gut vertäut gegen Sog und Wellen der nahe vorbeifahrenden Frachtschiffe. Dort hatte sie nach der nötig gewordenen Motorenreparatur auf uns gewartet und sich derweil am wunderbaren Blick über den Main auf die Altstadt von Frankfurt-Höchst erfreut.
Übung in Geduld
Zum dritten Mal seit dem Frühling des vergangenen Jahres nehmen wir nun Kurs Richtung Donau. Übung in Geduld, dieses Motto bewahrheitet sich auf Wasserreisen immer wieder neu. Sind es einmal wegen Reparatur gesperrte Schleusen oder ein Hochwasser, durchkreuzt ein anderes Mal eine Panne am Schiff die Pläne. Auch wenn der Vergleich anmassend tönt: Ein bisschen kommen wir uns vor wie Magellan, der mit seinen Schiffen am südlichen Ende von Amerika mehr als ein Jahr nach einer Passage vom Südatlantik in den Pazifik suchte, die Weiterfahrt wegen stürmischen Winden, gefährlichen Strömungen und Meutereien auf den Begleitschiffen immer wieder verschieben und in einer geschützten Bucht den südlichen Winter abwarten musste. Schliesslich fanden Magellan und seine Leute jenen Weg zwischen dem südamerikanischen Kontinent und den vorgelagerten Inseln von Feuerland, der heute als Magellan-Strasse bezeichnet wird.
Auf dem Weg zur Donau geht es harmloser zu: Mit einer Meuterei seiner einköpfigen Mann- bzw. Frauschaft muss der Kapitän der Solveig hoffentlich nicht rechnen. Und überdies trägt die „Passage“ schon einen Namen: Main-Donau-Kanal. In seiner jetzigen Form wurde der Kanal im Jahre 1992 vollendet. Doch darüber ein anderes Mal.
Abbruch einer alten Brücke
Zurück nach Wertheim am Main: Vor drei Monaten hatten wir am Clubschiff des Wertheimer Yachtclubs festgemacht und übernachtet. Abends beim Apéritif auf Deck beobachteten wir damals, wie hundert Meter weiter flussaufwärts ein Bagger von einer künstlich aufgeschütteten Insel aus den Mittelpfeiler einer alten, aus dem typischen roten Sandstein des Spessarts gemauerten Brücke demolierte.
Wir erinnerten uns von einem früheren Besuch an die malerische Brücke, welche vom linken Ufer der Tauber direkt in die zwischen Main und Tauber gelegene Altstadt von Wertheim führte. Der Hafenmeister, ein freundlicher und feinfühliger Mensch, der in einem Altstadthäuschen gleich neben der Brücke wohnt, beschwichtigte unsere Empörung über den Abbruch der alten Brücke. Sie sei baufällig gewesen, aber man würde sie wieder stilgerecht aufbauen. Trotzdem tat es uns in Ohren und Seele weh, als der Baggerzahn mit lautem Quietschen über die roten Quader des Brückenpfeilers kratzte.
Die Rache der Tauber
Doch es kam anders. Die städtischen Baumeister hatten ganz offensichtlich ihre Rechnung ohne die Solidarität zwischen dem Fluss und seiner Brücke gemacht. Als ob sich die Tauber an den Brückenschändern hätte rächen wollen, bescherte sie der Stadt im Juni ein gewaltiges Hochwasser. Meterhohe Fluten überschwemmten die Baustelle und spülten die Aufschüttung, von welcher aus der Bagger seine wüste Tat begangen hatte, hinweg und teilweise bis hinunter in den Main. Anders als die Insel in der Aare bei Olten kämpfte hier in Wertheim nicht ein Baum gegen die Fluten, sondern ein Brückenpfeiler gegen den Menschen, aber in beiden Fällen hatte der Fluss das letzte Wort.
Leider hatte die Rache der Tauber auch Folgen für den erwähnten Hafen. Wie uns ein Schifferkollege sagte, sei die Zufahrt zu den Stegen für grössere Schiffe bis auf weiteres nicht mehr möglich, die Wassertiefe sei zu klein, man müsse zuerst das Flussbett ausbaggern, wenn sich denn dazu überhaupt die Mittel auftreiben liessen.
So fuhren wir diesmal etwas traurig an der romantischen Altstadt von Wertheim vorbei. Von weitem sahen wir die kläglichen Reste der Baustelle, im Fluss aufgeschichtete grosse Plastiksäcke, gefüllt mit Steinen. Die Brücke ist weg, aber von einem Neubau noch nichts zusehen. Und unser Respekt vor dem Wasser wächst mit jedem Tag, an dem wir auf ihm unterwegs sind.
Schlecht- oder rechtschreiben?
"Noch eine verspätete schriftliche Entschuldigung für das ich am Mittwoch 31.10. Krank wahr." Ein Schreiben auf Fachhochschulstufe. Originalton und leider kein Einzelfall. Ein anderer Studierender liegt mit Grippe im Bett, meldet sich ab und fügt bei: "Ich hoffe auf Ihr Verständtniss und möchte mich viel mals entschuldigen."
Mangelnde Rechtschreibekompetenz
Zwei Beispiele mit gravierenden orthografischen Defiziten. Nach mindestens zwölf Schuljahren. Wer hinsieht, weiss es schon lange: Viele Schulabgänger zeigen spürbare Lücken im Rechtschreiben. (1) Doch allzu viele sehen weg oder beschönigen. "Schweizer Kinder machen deutlich mehr Fehler als deutsche und österreichische", tituliert die Aargauer Zeitung in der Ausgabe vom 10.8.2016 eine Studie der Universität Freiburg.
Untersucht wurden 1'650 Primarschüler im deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg. Die Ergebnisse decken sich mit einer Studie im Kanton Solothurn und einer repräsentativen Stichprobe im Kanton Bern. "Beim Schreiben von Wörtern mit orthografischen Besonderheiten wie Dehnungen, Verdoppelungen oder 'tz' schnitten die Freiburger Kinder bereits ab der 2. Klasse signifikant schwächer ab als die deutschen", gibt der Studienverantwortliche Professor Erich Hartmann zu bedenken.
Rechtschreibung auf später aufschieben
Die Gründe für die schwächeren Leistungen von Schweizer Kindern in der Rechtschreibung vermutet der Wissenschaftler im Unterricht und in den Lehrmitteln. Lautorientiertes und freies Schreiben stünden im Vordergrund. Das geht auf Kosten der korrekten Orthografie. Sie ist in den Hintergrund getreten. Nach Meinung vieler Unterstufen-Lehrpersonen lässt sie sich später leicht nachholen. Zudem blockiere das Korrigieren die kindliche Motivation und Kreativität und zerstöre gar die Lust am spontanen Schreiben. Man will die Kleinen zu furchtlosen Schreibern heranbilden. Üben und Wiederholen, diese uralten Prinzipien aus der Zeit vor den reformpädagogischen Innovationen, scheinen überholt.
Doch die Studie des Logopäden Hartmann zeigt, dass die Freiburger Schüler selbst in der 6. Klasse noch klar schwächer abschneiden als die deutschen Schüler. Dabei beherrscht in Deutschland nur jeder fünfte Neuntklässler die Orthografie einigermassen sicher, wie der Sprachwissenschaftler Günther Thomé von der Goethe-Universität Frankfurt herausfand. Die korrekte orthografische Schreibweise stellt sich eben nicht von selbst ein. Oder mindestens nicht genügend. Sie ist intensiv und systematisch zu erarbeiten. Hier liegt das Problem.
Die Schriftsprache selber lernen
Während Jahren wurden im deutschsprachigen Raum viele Kinder nach dem Konzept "Lesen durch Schreiben" alphabetisiert. Entwickelt hat sie der Schweizer Pädagoge Jürgen Reichen (1939 – 2009). Schüler können sich die Schriftsprache selber erarbeiten, ähnlich wie Kleinkinder das Laufen und Sprechen erlernen, lautet Reichens Credo. Sein Programm basiert auf einer sogenannten Anlauttabelle, dem "Buchstabentor". Ein passendes Bildchen illustriert jeden Buchstaben. Ein Fisch zum Beispiel steht für das 'F'. Das Konzept lässt die Kinder das Schreiben individuell und nach eigenem Tempo lernen. Selbstgesteuert und in Lernwerkstätten.
Mit Hilfe dieses Buchstabentors setzen sich die Schüler "alle Wörter der Welt" aus Lauten zusammen. Will ein Kind etwa "Ballon" schreiben, murmelt es die einzelnen Laute vor sich hin und sucht die Buchstaben aus den Bildchen der Tabelle zusammen: das 'B' von der Banane, das 'A' vom Affen und so weiter. Die Abc-Schützen schreiben nach Gehör – wie sie es vom Klang der Worte her für korrekt halten. Auf die Orthografie müssen sie keine Rücksicht nehmen. Vielleicht entsteht so das Wörtlein "balon".
Absolute Fehlertoleranz
Die Freude am freien Fabulieren ist oberstes Prinzip. Dabei sollen die Kinder nicht gestört werden. Niemand darf eingreifen. Wortschatz und Grammatik werden nicht beachtet. Fehlerhafte Formen gehören dazu. Sie würden sich später korrigieren; das Korrekte käme automatisch, so Jürgen Reichens Annahme. Auch das Lesen soll sich dann von alleine ergeben.
Auf ihre Wirkung untersucht wurde Reichens Konzept erst vor Kurzem. "Die Ergebnisse - der wissenschaftlichen Studie - sind katastrophal, eigentlich müsste "Lesen durch Schreiben" sofort verboten werden", urteilt der emeritierte Zürcher Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers.
Ist Rechtschreiben noch aktuell?
Ist es entscheidend, ob es nun "Ballon" oder "balon" heisst? Leben wir nicht in Zeiten von Korrekturprogrammen und Facebook-Twitter-Blog-Kommunikation? Wer so fragt, verkennt, wie wichtig die Orthografie ist. Es geht um mehr als das 'ck' oder das Dehnungs-h, es geht um mehr als richtiges, rasches Recherchieren im Internet, es geht letztlich auch ums Lesen.
Wer nicht weiss, wie man schreibt, hat Mühe mit Lesen. Er muss mühsam entziffern und bleibt auf der Ebene des Worterkennens stecken – und damit letztlich Analphabet. In der Schweiz zählen 15 Prozent der 15-jährigen Schulabgänger dazu.
Feedback als Lerneffekt
Gutes Lesen und orthografisch korrektes Schreiben basieren auf prozeduralem Lernen. Kinder lernen rechtschreiben so, wie sie Tennis oder Klavier spielen lernen. Es ist ein Lernen durch Ausprobieren, Korrigieren und Wieder-Ausprobieren. Entscheidend für den
Lernerfolg sind systematische Lernkontrollen und das persönliche Feedback des Lehrers. John Hatties umfangreiche Meta-Studie (2) spricht dem Feedback einen hohen Effektwert zu. Bei "balon" müsste die Lehrerin lenkend eingreifen und ihren Schützling auf die Grossschreibung des Nomens und die Konsonantenverdoppelung hinweisen. John Hattie redet von "direkter Instruktion". Auch ihr ordnet der Bildungsforscher einen starken Lernerfolg zu.
Was Hänschen nicht lernt
Der Spass an der Sache vertrüge keine Korrekturen, lautet Reichens Devise. Doch die Fehlertoleranz zahlt sich für viele Schülerinnen und Schüler nicht aus. Hat sich die falsche Art zu schreiben einmal eingeprägt, kommt man in der Regel nur mühevoll davon los. Sie nach zwei, drei Jahren zu korrigieren ist ebenso schwierig wie eine falsche Fingerhaltung beim Klavierspiel – und natürlich viel komplizierter, als gleich zu Beginn korrekt zu schreiben.
Unterlassene Hilfeleistung
Wenn die Verfasser der beiden Eingangssätze nach den Programmen "Lesen durch Schreiben" oder "Schreiben nach Gehör" unterrichtet wurden, versteht man die Fehlerquote. Nur darf man hier nicht von didaktischer Methode reden, sondern von unterlassener Schreibhilfe. Die zwei Textpassagen reden Klartext – ebenso die Freiburger Studie. Unsere Kinder verdienen einen nachhaltigeren Rechtschreibeunterricht.
(1) Der Beitrag beschränkt sich auf die Orthografie und lässt Aspekte wie Textkohärenz weg – im Wissen, dass Rechtschreibung nur ein Teil guter Sprache ist.
(2) Der Bildungsforscher John Hattie von der Universität Melbourne untersuchte während Jahren messbare Fachleistungen von Schülern, sogenannte „achievements“. Seine Frage: „What works best?“ Was wirkt in der Schule nachhaltig und besitzt eine Effektstärke?
Serbisches Sprichwort
Der gute Ruf geht weit, aber der schlechte Ruf geht noch viel weiter.
Alles, und zwar subito!
Nach dem Amok-Verbrechen im Zug bei Salez am vergangenen Samstag standen Polizei und Medien sogleich unter dem Druck der im Netz heisslaufenden Fragen und Gerüchte. Ein amerikanisches Blog vermeldete die angeblich bestätigte Information, der Täter sei ein Muslim. Zudem kursierte in den Sozialen Medien das Foto eines dunkelhäutigen Mannes, das als Porträt des Täters ausgegeben wurde.
Wegen der Ähnlichkeit der Tat mit der Terrorattacke von Würzburg löste das Ereignis ein riesiges Medienecho aus. Anfragen aus aller Welt stürmten auf den Pressesprecher der St. Galler Kantonspolizei ein. Anders als nach der Amoktat im Supermarkt in München, wo bei der Polizei ein gut aufgestelltes Kommunikationsteam bereitstand, musste in St. Gallen eine einzige Person mit den extremen Anforderungen fertig werden. Nach heutigem Kenntnisstand hat Hanspeter Krüsi, Mediensprecher der St. Galler Kapo, die Feuerprobe gut bewältigt.
Trotzdem ist in der Presse Kritik laut geworden. Selbstverständlich wurde das Informationsverhalten der St. Galler sogleich mit jenem der Münchener verglichen. "Le Temps" konstatierte ein Dilemma der Behörden: Zwischen zu viel Information und zu wenig das richtige Mass zu finden, sei im Stress des Ernstfalls äusserst schwierig. So sei die hochprofessionelle Kommunikation der Münchener zwar weit herum gelobt worden, doch ihre offensive Informationspraxis, die zahlreiche unsichere und im Nachhinein als falsch erwiesene Meldungen verbreitete, sei wegen ihren irritierenden Wirkungen auch in Frage zu stellen. "Le Temps" liess trotzdem die Meinung durchblicken, in St. Gallen habe man nach der anderen Seite hin übertrieben.
Tatsächlich ging die St. Galler Polizei im Vergleich dazu äusserst zurückhaltend vor. Sie folgte eisern ihren Regeln, wonach unbestätigte Informationen weder aktiv kommuniziert noch kommentiert werden. Das erschien manchen Medienleuten offensichtlich als "Heimlichtuerei".
Das Rauschen der Social Media produziert nicht nur Fehlmeldungen und Gerüchte zuhauf, sondern schürt auch die Erwartung, es müsse sofort über alles informiert werden. Das Fehlen von Informationen gilt generell als ein Versagen, für das irgend jemand zur Rechenschaft gezogen werden muss. Nichtwissen ist eine Zumutung, die das Publikum nicht mehr akzeptieren will. Das Warten auf Klärungen ist schlimmer als das Entsetzen angesichts der Untat.
Der Druck auf Behörden, einen offensiven Informationskurs zu fahren, wird zunehmen. Nachdem Marcus da Gloria Martins, der Mediensprecher der Münchener Polizei, für seine souveränen Auftritte zur Recht gelobt wurde und gar zum Talkshow-Star avancierte, wird wohl die Policy seiner Kommunikationsabteilung zum faktischen State of the Art. Da wird es schwierig, Zurückhaltung zu pflegen.
Ich meine aber, Hanspeter Krüsi habe einen genauso guten Job gemacht wie sein berühmt gewordener Münchener Kollege. Krüsi hat ein paar Tugenden durchgehalten, denen die Kommunikationsverantwortlichen gerade unter dem Diktat des "Alles, und zwar sofort!" Sorge tragen müssen: Verlässlichkeit vor Schnelligkeit, Verantwortung vor Gefälligkeit, Klarheit vor Sensation.
Leichte Sprache – eine schwere Sache
Klar, auf den ersten Blick mutet das sympathisch an. Die Idee der Leichten Sprache soll den Zugang zu schriftlichen deutschen Texten jenen Leuten erleichtern, die Mühe haben, komplexere - oder auch nur kompliziert formulierte – Inhalte zu verstehen. Da es in der kleinen Schweiz immerhin rund 800 000 Menschen geben soll, die aus verschiedenen Gründen nicht richtig lesen können, ist das Konzept einer konsequent vereinfachten Sprache für viele Mitbürger zweifellos ein Segen.
Simplifizierung und Wahrheit
Das gilt wohl uneingeschränkt dann, wenn es sich um Bürokraten- und Juristen-Jargon, um Fachchinesisch von weltfremden Soziologen und Philologen, um sprachlich undurchdringliche Gebrauchsanweisungen für Computer oder Medikamente geht. In solchen Fälle lassen sich auch sprachlich versierte Zeitgenossen und Leseratten unschwer von den Zielen der Leichten Sprache überzeugen. Zu den Grundelemente der „Leichten Sprache“ zählen laut Wikipedia unter anderen folgende Regeln: Es werden kurze Sätze verwendet. Jeder Satz enthält eine Aussage. Es werden Aktivsätze eingesetzt. Der Konjunktiv wird vermieden. Wenn Fremdwörter oder Fachwörter vorkommen, werden sie erklärt.
Auf den zweiten Blick erscheint die Idee von der Leichten Sprache aber schon wesentlich problematischer. Das gilt vor allem dann, wenn es um Texte geht, bei denen es entscheidend auf sprachliche und inhaltliche Differenzierungen ankommt – wie zum Beispiel um die Beurteilung von politisch komplexen Ereignissen oder um die Interpretation literarischer Nuancen.
Die NZZ zitierte vor einiger Zeit einen kurzen Text in Leichter Sprache, den der Deutschlandfunk gemeinsam mit der Fachhochschule Köln über den Gaza-Krieg 2011 auf der Website „nachrichten-leicht.de“ veröffentlichte. Man greift sich an den Kopf. Wer die paar wenigen Sätze liest, muss automatisch zum Schluss kommen, dass bei diesem Krieg allein die israelischen Soldaten die Aggressoren waren. Kein Wort über die bei diesem Krieg vorausgegangenen Raketenangriffe aus dem Gazastreifen gegen israelisches Territorium.
Auch die Vorstellung, jemand könnte auf die Idee kommen, anspruchsvollere literarische Werke wie Thomas Manns „Zauberberg“ mit seinen mitunter ellenlangen und häufig ironisch eingefärbten Sätzen liesse sich in das Medium der Leichten Sprache „übersetzen“, würde den Initianten eines solchen Unternehmens und ihrem Menschenverstand kein gutes Zeugnis ausstellen. Möglich ist allenfalls, den Inhalt dieses vielschichtigen Romans in Leichter Sprache zu resümieren – etwa für ungeduldige Gymnasiasten oder interessierte Literaturliebhaber mit begrenzten Deutschkenntnissen.
Braucht es neue Regelwerke?
Auch auf den dritten Blick wird die Leichte Sprache nicht einfacher. Darauf verweist uns der Abschnitt Leichte Sprache auf der Website des Deutschen Bundestages. Diese um Bürgernähe bemühte Institution bietet nicht nur verschiedene Verlautbarungen in Leichter Sprache an, sie informiert auch in musterhaft kurzen Sätzen und hinzugefügten zeichnerischen Illustrationen, was „Leichte Sprache“ eigentlich ist. Da liest man im Abschnitt über „Regeln der Leichten Sprache“: „In der Leichten Sprache schreiben und sprechen ist schwer. Dafür gibt es aber Regeln. Diese Regeln müssen geübt werden. Und zwar ganz oft.“
Warum man diese Leichte Sprache wiederum in ein komplexes und schwieriges Regelwerk einzwängen muss, leuchtet überhaupt nicht ein. Da empfiehlt sich viel eher die Einhaltung des obersten Journalisten-Gebots: Je verständlicher ein Text geschrieben ist, desto besser die Chance, dass er vom Publikum auch gelesen wird.
Dazu braucht es keine neuen Sprachvorschriften und bürokratisch organisierte Vereine, die in ominöser Nähe zu Orwells „Newspeak“-Behörde die Einhaltung einer korrekten, weil angeblich „barrierefreien“ Leichten Sprache überwachen. Dazu braucht es nichts anderes als gesunden Menschenverstand und sprachliches Fingerspitzengefühl. Auch das kann und soll man üben.
Bewusste Irreführung
Ende letzter Woche hat die SVP ihre „Selbstbestimmungs-Initiative“ mit 115'000 Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht. Rechtsunsicherheit und Schwächung des Bundesgerichts wie des Europäischen Gerichtshofs sind unter anderem offensichtlich bewusst anvisierte Ziele. Ausgerechnet die „Volkspartei“ versucht einmal mehr, frühere Volksentscheide auszuhebeln.
Augenwischerei
„Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor“ verlangt der neuste Vorstoss der SVP gleich im ersten Paragraphen. Würde „Schweizer Recht statt fremde Richter“, wie sich die Initiative populistisch nennt, angenommen, müssten sich künftig ausländisches Recht nicht nur schweizerischem Recht anpassen sondern bereits bestehende Abkommen allenfalls gekündigt oder neu verhandelt werden.
Mit der Initiative reagiere die Partei unmissverständlich auf die „inakzeptable Einmischung des Parlaments, der Regierung, der Verwaltung, der Justiz und der Rechtslehre in die verfassungsmässige Rechtssetzung», begründet SVP-Präsident Albert Rösti die Initiative.Die Rechtssetzung sei «alleine Sache des Volkes und der Stände».
Dies ist Augenwischerei. Unser Land, immerhin Depositärstaat der Genfer Konvention, würde damit – einmal mehr – bei der Völkergemeinschaft in eine unglaubwürdige Situation manövriert. Bereits jetzt stehen wir vor der Tatsache, dass sich die Masseneinwanderungs-initiative nicht im Wortlaut umsetzen lässt und die – vom Souverän ganz klar abgelehnte – Durchsetzungsinitiative unserem Land international beträchtlichen Imageschaden zugefügt hat.
„…zwingende Bestimmungen des Völkerrechts“
Nach allgemeiner Rechtsauffassung ist unsere schweizerische Gesetzeshierarchie nicht bestritten: Ratifiziertes internationales Recht geht vor Bundesrecht, dieses vor Kantonsrecht und dieses wiederum vor Gemeinderecht. Dies will die SVP-Initiative nun ändern: Schweizerisches Bundesrecht soll vor internationales Recht gestellt werden. Es wird zwar eine Ausnahme vorgesehen, wenn es sich um „zwingende Bestimmungen des Völkerrechts“ handelt. Doch was heisst das im konkreten Fall?
Zwingendes Völkerrecht (lus cogens) bezeichnet fundamentale Regeln des Völkerrechts, ist sozusagen der „harte Kern“ im Völkerrecht. Diese Regeln dürfen nie gebrochen werden und können ihrer zentralen Bedeutung wegen nur durch neues, zwingendes Völkerrecht aufgehoben oder geändert werden. Verträge, die dem zwingenden Völkerrecht zuwider laufen sind nichtig. Es ist also eine Selbstverständlichkeit, dass die eingereichte Initiative nicht dagegen verstossen kann.
Der Haken ist allerdings, dass „zwingendes Völkerrecht“ nicht in einer abschliessenden Aufzählung erfasst wird, sondern sich eher aus allgemein anerkannten Gewohnheitsrechten ableitet. Darunter fallen Gewaltverbot, Folter, Verbrechen gegen die die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Genozid, Apartheid, Sklaverei und Piraterie.
Europäische Menschenrechtskonvention EMRK
Der Europarat beschloss am 10. Dezember 1950 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) als verbindlichen völkerrechtlichen Vertrag und richtete 1959 zur Kontrolle der Einhaltung den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg ein. Die Schweiz ist seit 1963 Mitglied des Europarates und trat 1974 der Europäischen Menschenrechtskonvention bei, die minimale Standards verankert. Immer wieder wird dieses europäische Gericht als „fremde Richter“ bezeichnet. Die Schweiz hat aber in Strassburg permanent zwei Sitze und ist dort integriert. Entgegen eines allgemein vorherrschenden Einsdrucks sind jedoch die allermeisten Klagen gegenüber der Schweiz abgewiesen worden. Die ausgesprochenen negativen Urteile gegen unser Land machen bloss 1,6 Prozent der Klagen aus! Soviel zu den „fremden Richtern“.
foraus-Kritik: „Irrungen und Wirrungen“
Bis die „Selbstbestimmungsinitiative“ zur Abstimmung kommt, wird es noch geraume Zeit dauern. Der Text hat allerdings schon jetzt mehrere Parteien und Verbände mit kritischen und warnenden Kommentaren auf den Plan gerufen. So hat der aussenpolitische Think Tank „foraus“ bereits vor Einreichen des populistischen Vorstosses in einer eben publizierten Studie seine Vorbehalte formuliert. Dabei gehe es um eine rein juristische und keineswegs politische Betrachtungsweise, betont das Forum.
„Die Initiative versucht ein Produkt zu verkaufen, das es nicht gibt“, lautet die generelle Kritik der foraus-Juristen. Weder sei es möglich, verbindliche völkerrechtliche Verträge durch nationales Verfassungsrecht abzuschwächen, noch sei es opportun, von Bundesrat und Parlament genehmigte Staatsverträge zu kündigen. Zudem sieht die von der Schweiz ebenfalls unterzeichnete Wiener Vertragsrechtskonvention vor, dass Verträge einzuhalten sind („pacta sunt servanda“) und sich ein Staat bei der Umsetzung von Völkerrecht nicht auf sein innerstaatliches Recht berufen kann (Art. 27).
Einheit der Materie verletzt
Der Vorstoss beinhalte aber weitere Widersprüche, logische Fehler und berge Gefahren. Die Initiative „schwächt den Schutz der Grund- und Menschenrechte und durch ihre Widersprüche und die Unklarheiten bringt sie mehr Rechtsunsicherheit, als dass sie Klarheit schafft“, schreibt der Autor der Studie, Guillaume Lammers. Lammers ist Doktor der Rechtswissenschaften und spezialisiert auf Fragen zum Verhältnis direkte Demokratie und internationale Abkommen. Seine Ausführungen wurden von vier weiteren RechtsexperInnen begleitet.
Wie schon bei der Masseneinwanderungsinitiative und erst recht bei der abgelehnten Durchsetzungsinitiative werde auch bei der „Selbstbestimmungsinitiative“ die Einheit der Materie verletzt: Wer die Hauptforderung unterstützt, stimme nicht automatisch den (verschleierten) Konsequenzen zu. Hätte die Schweiz – wie andere Länder – ein Verfassungsgericht, würde die neuste SVP-Initiative von diesem höchstwahrscheinlich gar nicht zur Abstimmung zugelassen.
Naivität oder Hinterhältigkeit?
Eine Initiative, die Unsicherheit bringt, im Widerspruch zum Völkerrecht steht, kaum umsetzbar ist, das Image der Schweiz beschädigt und zudem einen irreführenden Titel trägt: Sind ihre Schöpfer juristisch derart unfähig oder in ihrer Absicht derart hinterhältig? Letzteres muss angenommen werden. Die Juristen um ihren polit-juristischen Mentor SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt können unmöglich ein solches Machwerk unbeabsichtigt derart fehlerhaft kreiert haben. Offensichtliche Rechtsunsicherheit, politischer Druck auf Bundesrat, Lausanner und Strassburger Richter und Abbau von Völker- und Menschenrechten kann nur absichtlich und gewollt sein.
Offenbar sind bei der SVP noch immer Altideologen beflügelt vom Erfolg der damals (zwar nur knapp angenommenen) Masseneinwanderungsinitiative und haben noch immer nicht verstanden, dass das „dumbe Volk“ sehr wohl merkt, wann der Bogen überspannt wird. Aus der massiven Abfuhr bei der Durchsetzungsinitiative scheinen sie noch nicht genug gelernt zu haben.
Zum besseren Verständnis der Zusammenhänge zwischen nationalem und internationalem Recht sei auf folgende neuste Publikation hingewiesen:
Daniel Högger, Cristina Verones (Hrsg.), Völkerrecht kompakt. Eine komplexe und für die Schweiz bedeutsame Materie kurz und verständlich erklärt, 176 Seiten, NZZ libro 2016
Die Maske des Bösen
Gerne wird die Schwierigkeit vermieden, sich an eine leibhaftige Begegnung mit Burkaträgerinnen erinnern zu müssen. Es genügt die vom Hörensagen geschürte Angst vor dunkeln Scharen, um eine hitzige Gefahrendiskussion vom Zaum zu brechen und die Bestrebungen für ein Verbot zu unterstützen.
Endlich wieder sorglos
Nur schon das Wort "Burka"öffnet der Fantasie Abgründe bis in die Tiefe der mittelalterlichen Folterei. Auch wer noch nie in ein schwarzes Stoffstück anstelle eines Gesichtes blickte, schaudert der Gedanke, diese Kränkung zu erleiden. Die Gleichberechtigung hierzulande mag egal sein wie das Los der Billignäherinnen in Bangladesch, aber die von Kopf bis Fuss unterjocht Verhüllten bringen uns in Rage. Zumal das Männervolk der ältesten Demokratie, das die Frauen seit je verehrt und fördert.
Von da ist es ein kurzer Schritt zur Gewissheit, es drohe die Zerstörung unserer Sitten und unseres Zusammenlebens. Mit dem Burkaverbot, das gerade mal begüterte Touristinnen treffen würde, könnten wir endlich wieder sorglos in jedem Fünfstern-Hotel nächtigen, unbedrängt in jedem Luxusgeschäft einkaufen und als Christen unter Christen Sonntag für Sonntag dicht an dicht dem Gottesdienst beiwohnen. Das Schweizer Haus würde zum trauten Heimetli von früher, als alles gut war.
Fehlende Zivilcourage
Es könnte allerdings auch sein, dass das schwarze Stoffstück im übertragenen Sinn vor unseren Gesichtern hängt und uns den Blick für Realitäten und Relationen enorm verunschärft.
Zum Beispiel für die Tatsache, dass Burkaträgerinnen in vernachlässigbar geringer Zahl jeweils einige Zeit in der Schweiz verbringen. Dass ein Burkaverbot verhältnisblödsinnig und eine weitere rechtskonservative Lösung wäre, die unvernünftig problematisiert und nichts vernünftig regelt. Dass die Zivilcourage genügt, Ganzverhüllte - wenn sie denn stören - auf ihre zu unseren Breitengraden unpassende Kleidung hinzuweisen.
Im Tessin gelingt es. Freilich kann sich die Polizei auf das in der Kantonsverfassung verankerte Verbot berufen. Die Ermahnung hätte zweifellos auch Erfolg mit der höflichen und bestimmten Klarstellung unserer anders gearteten Gepflogenheiten.
Wirklichkeitsferner Unfug
Das angepeilte Burkaverbot ist lediglich erklärbar als probates Mittel zur Bewirtschaftung der Fremdenfeindlichkeit im Allgemeinen und der Islamfeindlichkeit im Besonderen. Diese Vermutung bestätigt sich insofern, als hinter der Unterschriftensammlung für die Verbotsinitiative die nämlichen Kreise stehen, die sich bereits fürs Minarettverbot robust ins Zeug legten.
Die Aktionsgruppe argumentiert mit der schweizerischen Freiheitstradition und leitet daraus populistisch das Diktum ab, kein freier Mensch verhülle sein Gesicht. Das ist wirklichkeitsferner Unfug, was der geplante Verfassungsartikel mit einer langen Liste von Ausnahmen bestätigt.
Diskriminierung einer Minderheit
Die medizinisch Beschäftigten tragen Gesichtsmasken, die Sicherheitskräfte und Heerscharen von Sportlern eine Kopf und Gesicht schützende Bekleidung, die Samichläuse über dem Rauschebart eine Kapuze und die Fasnächtler eine Maske, die im Rahmen der geduldeten Kostümierungsbräuche durch eine Burka ersetzt werden könnte. Und im Winter ist die Bevölkerungsmehrheit wärmesuchend bis zur Unkenntlichkeit vermummt unterwegs.
Kurz und unheuchlerisch gesagt: Das Verbot ist religiös motiviert und zielt nur auf die Burka und nur auf den teilverhüllenden Niqab und mithin diskriminierend auf eine weibliche und sich bei uns der statistischen Erfassung entziehende Minorität.
Doch nicht flächendeckend: Burka- und Niqabträgerinnen dürften sich im privaten Umfeld und in Sakralstätten ungehindert bewegen. Die Gefahr, dass die Bibelleserschaft aus dem Gleichgewicht kippt, weil sie unvermutet auf verschleierte Koranleserinnen stösst, ist bei Weitem nicht gebannt.
Für den totalen Durchgriff ist Luft nach oben. Deshalb warten wir noch auf die Änderung der Bundesverfassung gegen tätowierte Kahlgeschorene in Ledermontur und Kampfstiefeln, die für eine haselnussfarbige Ideologie demonstrieren.
Als Grosstat getarnter Schlag ins Leere
Selbstverständlich dürfen wir orientalische Gewänder hässlich oder doch irritierend finden und als vom Koran nicht legitimierte Zeichen der Unterdrückung brandmarken. Auch ohne Beweise ist uns überdies die Annahme erlaubt, keine einzige Muslima verberge ihr Gesicht aus eigener Überzeugung.
Der Glaube indessen, mit Kleidervorschriften im schweizerischen Geltungsbereich die Situation der islamischen Frauen zu verbessern, erfüllt nicht einmal die Bedingungen für eine Alibiübung. Das Verbot ist ein als emanzipatorische Grosstat getarnter Schlag ins Leere.
Spätestens bei diesem Einwand ziehen die Burka-ab-Befürworter ihre sicherheitsstrategische Trumpfkarte mit dem Hinweis, das lange Schwarze des Bösen eigne sich hervorragend für den Schmuggel terroristischer Waffen. Das stimmt.
Es stimmt aber auch, dass die Eignung von weit geschnittenen Daunenjacken, pludernden Trainingsanzügen, adretten Rucksäcken und voluminösen Instrumentenkästen nicht geringer ist. Dazu schweigen die auf das Erscheinungsbild von Ausländerinnen spezialisierten Verbotsinitianten wohlweislich.
Machogehabe anders herum
Ganzverhüllung und Ganzenthüllung sind die beiden Extreme der persönlichen Darstellung. Mit den Nudisten arrangierten wir uns tolerant. Nacktwandern ist im Schweizerischen Strafgesetzbuch kein Tatbestand. Füdliblutte Schweifer durch die Natur können nach kantonalem Recht gebüsst werden, setzten jedoch bisher weder die Empörung der schweigenden Mehrheit noch gesetzgeberische Triebe in Gang.
Gegenüber Burka und Niqab fehlt die Gelassenheit. Das ist spiessig und zusätzlich ein Machogehabe mit umgekehrten Vorzeichen. In ihm zeigt sich die hilfloseste Art, abendländische Werte zu verteidigen. Darum dreht es sich denn auch nicht, sondern ums Zeuseln gegen Fremde und Fremdes.
Herta Müller, geboren heute vor 63 Jahren
Sprache ist keine Heimat, man nimmt eine Sprache ja mit in ein anderes Land.
Muskelspiel der Moskauer Nahostdiplomatie
Am 16. August meldeten die Russen, sie flögen nun Bomber gegen den IS in Syrien aus einer Basis in Hamadan, welche die Iraner ihnen zur Verfügung gestellt hatten. Zwei Tage später deutete der russische Senator Victor Oserow an, auch die Türkei könnte ihnen eine Basis zur Verfügung stellen, um von ihr aus gegen den IS und andere Terroristen in Syrien vorzugehen. Dies, so der Senator, der zum Sicherheitsrat Russlands gehört, wäre eine logische Folge des Schrittes, den Erdogan gegenüber Russland getan hatte.
Inçirlik bisher von den USA benützt
Er erwähnte in diesem Zusammenhang Inçirlik, die Luftbasis der Nato, welche türkische Offiziere befehligen, wo aber auch amerikanische Kriegsflugzeuge und Piloten stationiert sind und wo 50 amerikanische Atombomben lagern.
Zur Zeit benützen die Amerikaner Inçirlik mit türkischer Zustimmung für ihre Bombardierungen des IS und der „Eroberungsfront“, wie der neue Name der Nusra-Front lautet, sowie für die Bombardierungen des IS im Irak.
Verlockung für Erdogan
Dass Ankara die Russen nach Inçirlik einladen könnte, ist unwahrscheinlich. Doch die gegenwärtigen Beziehungen der Türkei mit Washington sind angespannt wegen des Auslieferungsbegehrens des Predigers Gülen, das die Türkei mit aller Macht vorantreibt, das aber so rasch nicht zustande kommen dürfte. Was die Aussicht mit sich bringt, dass die türkisch-amerikanische Achse immer zerbrechlicher wird. Die Drohung mit Inçirlik erscheint deshalb nicht als völlig unbedenklich.
Die Russen stehen nicht nur in gutem Einvernehmen mit Iran, sie haben sich auch mit der Türkei Erdogans versöhnt, nachdem dieser sich für den Abschuss eines russischen Kriegsflugzeugs vom vergangenen November entschuldigt hatte. Moskau steht gleichzeitig auch in Gesprächen mit den USA über eine mögliche engere Kollaboration beider Mächte gegen den IS und die Eroberungsfront.
Putins strategisches Ziel
Doch zugleich verfolgt Putin sein strategisches Ziel unvermindert weiter: nämlich einen Asad, der langfristig darauf angewiesen sein wird, sich auf Russland zu stützen, zum Machthaber zuerst über das „nützliche“, westliche Syrien zu stärken und dann, nach dem Zusammenbruch des IS, zum Herrscher über ganz Syrien.
Dies natürlich pro forma auf völlig demokratischer Grundlage. Die überlebenden Syrer, die im Falle eines Sieges Asads dem syrischen Geheimdienst ausgeliefert sein werden, werden ohne Zweifel mit grosser Mehrheit für Asad stimmen.
Teheran verfolgt gleiche Ziele
Das Regime von Teheran stimmt voll mit diesen russischen Zielen überein. Nur wenn Asad weiter regiert, kann Teheran damit rechnen, dass es die Verbindung zum Hizbullah in Libanon, die über Syrien läuft, aufrechterhalten kann.
Freundschaft mit Russland bedeutet für Iran auch eine Stütze in der Auseinandersetzung mit Saudi-Arabien und eine Versicherung für den Fall, dass der nächste amerikanische Präsident oder die Präsidentin Iran unter Druck setzen könnte.
Kann Erdogan umgedreht werden?
Erdogan, König Salman von Saudi-Arabien und Washington sind der Ansicht, dass Asad abtreten sollte, möglicherweise, wie Washington einräumt, nach einer Übergangsfrist, während der alle syrischen Kräfte – ausgenommen der IS und die Eroberungsfront – sich über die Zukunft des Landes verständigen sollten. Wenn Moskau nun Inçirlik ins Spiel bringt, ist das ein Versuch, das türkische Glied der Anti-Asad-Kräfte auf die russisch-iranische Seite zu ziehen, indem Russland versucht, die Spannungen zwischen der Türkei und den USA zu verschärfen und auszunützen.
Sogar wenn dies zunächst nicht erfolgreich sein sollte, kann es Putin doch insofern nützlich sein, als es das Misstrauen zwischen den Amerikanern und den Türken fördert und dies möglicherweise auch zu Spannungen innerhalb der Nato führt. Darüber, ob die Atombomben in Inçirlik sicher seien oder nicht, gibt es bereits eine inner-amerikanische Diskussion.
Gleichzeitig dient der Hinweis auf Içirlik auch dazu, den Amerikanern nahezulegen, dass eine Verständigung mit den Russen über die Zukunft Syriens für sie besser wäre als eine Fortdauer des Krieges in Syrien unter dem wachsenden politischen Risiko eines Frontwechsels der Türkei Erdogans.
Fix und Foxi
Medienunternehmen sind nicht immer so transparent, wie sie es von Individuen, Firmen und Institutionen fordern, über die sie berichten. Jüngstes Beispiel dafür ist der amerikanische Fernsehsender Fox News, der dem konservativen Verleger Rupert Murdoch gehört. Der Gründer und langjährige Leiter des lukrativen Nachrichtenkanals, Roger Ailes, hat unlängst seinen Chefposten räumen müssen, weil mehrere Mitarbeiterinnen ihn beschuldigten, sie sexuell belästigt zu haben.
Das Unternehmen 21st Century Fox, Besitzer von Fox News, konnte aufgrund des öffentlichen Aufsehens und der möglichen Rufschädigung nicht anders, als Roger Ailes umgehend zu entlassen – mit einer Abgangsentschädigung von 40 Millionen Dollar. Der 76-Jährige hatte in seiner früheren Laufbahn Präsident Richard Nixon beraten und sich als Pionier der Negativwerbung in Wahlkämpfen einen Namen gemacht.
Das Credo von Fox News ist „Fair and Balanced“. In Wirklichkeit aber berichtet der Sender weder fair noch ausgeglichen, sondern mit rechter Schlagseite. Seine Stars wie Sean Hannity oder Bill O’Reilly giften, von Fakten häufig unbelastet, aggressiv gegen alles, was aus demokratischer oder liberaler Ecke kommt. Sie gehören in den Medien zu jenen Brandstiftern, die Donald Trump in der Politik den Weg geebnet haben.
„We Report – You Decide“, heisst ein weiteres Motto des Nachrichtenkanals. Im Fall Roger Ailes jedoch hat Fox News sein Versprechen nicht gehalten, vorurteilslos zu berichten und das Publikum entscheiden, d.h. sich eine eigene Meinung bilden zu lassen. Der TV-Sender, der sich sonst leicht erregbar an allem aufgeilt, was auch nur entfernt nach Skandal riecht, hat nur ganz knapp darüber informiert, dass und weshalb sein verehrter Boss gefeuert worden ist. Dazu kein Hintergrund, kein Interview, keine Talkshow.
Kommentieren mögen Mitarbeitende die plötzliche Enthaltsamkeit nicht. Dagegen hat die Anwältin jener Moderatorin, die Roger Ailes als Erste wegen sexueller Belästigung eingeklagt hat, verlauten lassen, sie habe Medien aus aller Welt bisher mehr als 100 Interviews gegeben. Fox News war nicht darunter. Immerhin hat 21st Century Fox eine Anwaltsfirma damit beauftragt, den Vorwürfen gegen den lange Zeit als unantastbar geltenden Fernsehchef nachzugehen.
Ob die Ergebnisse dieser Untersuchung publik werden, ist ungewiss. Sie müssten es aber, will sich Fox News einen Rest von Glaubwürdigkeit bewahren in einer Zeit, da die Öffentlichkeit sich zunehmend nach eigenem Gusto informiert und herkömmlichen Medien immer stärker misstraut. Nicht zu Unrecht, wenn die Presse es versäumt, offen und ehrlich über eigene Missetaten zu berichten. Fair und ausgeglichen, auch wenn es schmerzt.
Die „Galleria Doria Pamphilj“ in Rom
Ist sie nun eine Prostituierte oder ist sie die heilige Magdalena? Da sitzt sie, traurig und verloren. Die Augen geschlossen, das Haar offen, die Hände ineinandergelegt. Neben ihr auf dem Boden Perlen und Schmuck. Den braucht sie jetzt nicht mehr.
Die „reuige Magdalena“ heisst das Bild. Es gehört zu den netten Provokationen des ruchlosen Malers, dass er eine Römer Prostituierte als Modell für das Gemälde der Heiligen wählte.

Anna Bianchini, die rothaarige Prostituierte, steht dem Maler mehrmals Modell. Auf dem Bild „Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ leiht sie der Mutter Gottes ihr Gesicht. Mehrere Kunsthistoriker sehen in dem Gemälde, das auch einen halbnackten Engel von hinten zeigt, homoerotische Elemente. Der italienische Kunsthistoriker Cesare de Seta ist grenzenlos fasziniert. Er bezeichnet das Werk „als eines der schönsten, das je in der westlichen Kunstgeschichte gemalt wurde“.

Um den Künstler, der 1571 geboren wurde und diese beiden Bilder malte, entstand schon bald ein Mythos, der noch heute lebendig ist. Dutzende Legenden ranken sich um ihn. Sie sprechen vom besessenen, bisexuellen, gewalttätigen Genie. Wegen Totschlags wird er aus Rom verbannt und geht nach Neapel und Malta. Mit 38 Jahren stirbt er in Porto Ercole am Fuss des Monte Argentario.
Schon zu Lebzeiten erlangt Michelangelo Merisi Weltruhm. Die Reichen und Adligen reissen sich um seine Bilder, Bischöfe und Kardinäle sind seine Auftraggeber. Sie alle wissen, dass seine Freundin, die Dirne Anna, ihm Modell steht. Das kümmert die Kirchenleute nicht. Rom wimmelt zu jener Zeit von Prostituierten.
„Mythos Caravaggio“
Merisi malt und malt. Über keinen italienischen Maler des 16. Jahrhunderts gibt es so viele Biografien. Geboren wurde er im Ort Caravaggio nahe von Bergamo. Und als Caravaggio geht er in die Kunstgeschichte ein.
Viele Legenden, die um ihn schwirren, werden heute angezweifelt, doch der „Mythos Caravaggio“ ist mehr denn je ein Magnet. Viele Römer Museen und Kirchen werden nur deshalb besucht, weil dort eines oder mehrere seiner Werke hängen – so die Galleria nazionale d’arte antica mit Caravaggios Brutalobild „Judith und Holofernes“.
Vom „Mythos Caravaggio“ profitiert auch die phantastische Römer „Galleria Doria Pamphilj“. Das Museum liegt unscheinbar am Corso, einen Steinwurf von der Piazza Venezia entfernt.

Der Palazzo ist im 17. Jahrhundert der grösste in Rom, grösser als viele europäische Königshäuser. Zunächst residieren hier Kardinäle. Dann kommen die Adelsfamilien Aldobrandini, Pamphilj, Doria und Landi. Durch Heirat verflechten sie sich, bauen den Palast aus und schmücken ihn mit Bildern. 1650 weist das Inventar bereits 319 Gemälde aus.
Rom ist zu jener Zeit das Weltzentrum des Kunstmarktes und die Adligen kaufen ein. Es ist auch die Zeit, in der sich die Künstler beklagen, ihre Kunst würde zu wenig geschätzt. Camillo Pamphilj ist anders. Er kauft und kauft Gemälde und Plastiken vom damals legendären Kunsthändler Niccolò Simonelli.
„Schön, seid ihr auch da“
Heute wandelt man andächtig durch den Thronsaal des Museums, durch den Ballsaal, den Jupitersaal, die Spiegelgalerie, durch einen blauen, grünen und gelben Salon. Es gibt eine Aldobrandini-Galerie, eine Pamphilj-Galerie und eine Dora-Galerie. Einzelne Säle erscheinen wie ein eigenes Museum.
Die Wände sind vollkommen mit Bildern bedeckt, manchmal drei, vier übereinander. Bis zur Decke reichen sie. Natürlich sind auch die Decken mit Fresken bemalt. So streift man durch die Gänge und Säle – und Hunderte Adlige und Heilige blicken auf einen herab, als ob sie uns grüssten und uns zuriefen: „Schön, seid ihr auch da, an diesem wunderbaren Römer Morgen.“
Doch nicht nur die Besucher grüssen sie. Sie, die Päpste und Fürsten aus den verschiedensten Jahrhunderten und verschiedensten Ecken Europas, die Kardinäle und Dirnen, die Apostel und Engel, die Mörder und Madonnen, die Edelmänner und schönen Frauen – alle hängen sie da, eng beieinander. Als ob sie miteinander sprächen, als ob man in den vollgestopften Gängen ein Stimmengewirr hörte. Eine eigenartige Stimmung ergreift einen, wenn man an ihnen vorbeizieht, an diesen Dürers und Raffaels, diesen Tizians, Rembrandts, Rubens, Lippis – und Hunderten mehr.
Zudem hatte Camillo Pamphilj eine Passion für die flämische Malerei. So findet man hier viele Bilder von Jan Brueghel dem Älteren, unter anderem das weltberühmte „Irdische Paradies“. Aber auch Quentin Massys, Jan de Momper, Jan Frans und Paul Bril sind vertreten.

Aus der Familie Pamphilj stammte Papst Innozenz X. Er übte grossen Einfluss auf die Familie aus. Im Heiligen Jahr 1650 wurde er vom Spanier Diego Velázquez porträtiert. Kunsthistoriker weisen auf die „missmutige Strenge“ seines Gesichtsausdrucks hin. Das Gemälde hängt prominent in einer kleinen Kammer am Eingang der Spiegelgalerie. Es gilt als das bedeutendste Meisterwerk der Porträtkunst des 17. Jahrhunderts.

Dass Velázquez den Papst porträtierte, hat offenbar auch eine politische Bedeutung. Es war die Zeit der sich anbahnenden Versöhnung zwischen dem Kirchenstaat und dem spanischen König Felipe IV., der auch König von Sizilien, Neapel und Sardinien ist. Ist das Dokument, das der Papst in der Hand hält, ein Brief von Felipe?
Velázquez malte auch Olimpia Maldachini, die einflussreiche Schwägerin des Papstes – und vielleicht auch seine Geliebte. Das Bild ist verschollen, doch am Eingang der Doria-Galerie ist sie in einer Marmorbüste verewigt, angefertigt vom Bologneser Bildhauer Alessandro Algardi. Ihr Gesichtsausdruck ist hart, unfreundlich, resolut. Zeitgenossen bezeichneten Olimpia als „Beinahe-Päpstin“ oder „Gegen-Päpstin“. In Rom zirkulierten damals „Pasquinaden“, Flugblätter mit Schmähungen gegen sie. Beschrieben wurde sie als „aufgetakeltes Weib“, zahlreiche Liebschaften wurden ihr angedichtet. Nach dem Tod ihres Schwagers Innozenz plünderte sie die päpstlichen Gemächer und wurde mit Schimpf und Schande aus Rom verjagt. Sie stirbt an der Pest.
Die Pamphiljs gehörten zu den ersten, die Bilder von Caravaggio erwarben. So kauften sie auch die zweite Version von „La buona ventura“ („Die Wahrsagerin“). Das Bild wurde später Ludwig XIV., dem Sonnenkönig, geschenkt und hängt heute im Louvre.
Zu hoch gehängt
Caravaggios Erfolg hat auch seine Schattenseiten. „Die reuige Magdalena“ hing bis vor wenigen Jahren in einem kleinen Raum in der verlängerten Spiegelgalerie. Auf Augenhöhe konnte man das Werk bewundern. Doch der Besucherandrang war so riesig, dass ein anderer Platz gefunden werden musste.
So befindet sich denn heute die Magdalena im grossen Aldobrandini-Saal, der 1954 eingestürzt war und neu gebaut werden musste.
Da hängt sie nun, die Heilige Magdalena neben Caravaggios „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ und „Johannes dem Täufer“. Doch was haben die hier ausgestellten Statuten aus der römischen Kaiserzeit mit Caravaggio zu tun? Zudem sind die Bilder schlecht beleuchtet. Und sie hängen derart hoch, dass man eine junge Giraffe sein müsste, um ihre herrliche Wirkung geniessen zu können.

Palazzo Doria Pamphilj mit der „Galleria Doria Pamphilj“
Geöffnet täglich von 09.00 bis 19.00 Uhr
Geschlossen am 25. Dezember, 1. Januar und Ostern
Eintritt: 12 Euro
Der „Palazzo Doria Pamphilij“ ist nicht zu verwechseln mit dem „Palazzo Pamphilj“ an der Piazza Navona.

Albert Camus
Die meisten grossen Taten, die meisten grossen Gedanken haben einen belächelnswerten Anfang.
„Jetzt sind wir wieder unter uns“
Wie eine mittelalterliche Trutzburg thront das Friesenberghaus hoch über dem Zillertaler Schlegeisspeichersee. Beim bequemen zweistündigen Aufstieg durch einen Zirbenwald verliert man das Schutzhaus immer wieder aus den Augen, bis man auf 2’500 Metern Höhe plötzlich vor der wuchtigen grauen Bruchsteinfassade steht.
Das Gebäude aus den dreissiger Jahren fügt sich perfekt in die spektakuläre Hochgebirgslandschaft ein, aus der auch die Baumaterialien stammen. In den gemütlichen Holzstuben springen einem die behäbigern Tiroler Stühle ins Auge. Fast in jede Rückenlehne ist ein Name eingeritzt, etwa Dr. Heusler, Michaelsohn oder Dr. Schmitt, darunter die jeweiligen Spender. Es ist eine Erinnerung an die ungewöhnliche Entstehungsgeschichte dieser Schutzhütte, die heute der Sektion Berlin des Deutschen Alpenvereins (DAV) gehört.
Ausbreitung der Judenfeindschaft
Dass das Gebäude eher wie eine Festung als eine Schutzhütte wirkt, ist kein Zufall. War es doch 1931 vom deutschen Architekten Wilhelm Durand im Auftrag des jüdischen Alpenvereins „Donauland“ aus Protest gegen den Ausschluss der jüdischen Mitglieder aus dem österreichischen und deutschen Alpenverein erbaut worden. Eingeweiht wurde die Friesenberghütte 1932 von einem örtlichen Pfarrer mit den Worten: “Was euch heilig ist, will ich achten; was mir heilig ist, lasst es gelten“. Doch da hatten die antisemitischen Strömungen in den Alpenvereinen bereits die Oberhand gewonnen.
Der Antisemitismus war keine „Erfindung“ Adolf Hitlers. Er wurzelte bereits im 19. Jahrhundert. Mit der Einführung der gesetzlichen Gleichberechtigung der Juden durch Kaiser Franz-Josef 1867 begann sich die Bewegung von der früher religiös motivierten zur wirtschaftlichen, sozialen und rassistischen Judenfeindschaft zu entwickeln. Hauptvertreter war die deutsch-nationale Bewegung von Georg Schönerers, zu der auch viele Klerikale gehörten. Sie mündete in die christlich-soziale Partei unter dem Wiener Bürgermeister Karl Lueger ein, die zur stärksten bürgerlichen Partei in Deutsch-Österreich wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg breitete sich das antisemitische Gedankengut auch unter den Sozialdemokraten und an den Universitäten aus.
Im Deutschen Reich war es vor allem der Gründer der Christlich-sozialen Partei, Stöcker, der den Antisemitismus in die Politik hineintrug. Er schuf 1890 die Antisemitische Volkspartei, die ab 1893 auf Deutschen Reformpartei umbenannt wurde, aber zusammen mit anderen judenfeindlichen Kleinparteien wegen der Ablehnung des Reichskanzlers Otto von Bismarck zunächst erfolglos blieb. Erst nach dem Ersten Weltkrieg erstarkte die Strömung wieder. Anklang fand sie, ähnlich wie in Österreich, vor allem bei der Studentenschaft und in Sportvereinen. Der 1922 gegründeten Deutsch-völkischen Freiheitspartei traten 1922 die ersten Nationalsozialisten vorübergehend bei.
Nährboden in Sport und Hochschulen
In beiden Ländern boten Sportvereine wie der Alpenverein oder Burschenschaften einen fruchtbaren Nährboden für die rasche Verbreitung des rassistischen Gedankenguts, wie der Historiker Martin Achrainer vom Alpenverein-Archiv des OeAV erläutert. Schönerer-Sprüche wie „Durch Einheit mehr Reinheit“ trugen dazu bei. Schon früh tat sich der OeAV bei der Judenhetze hervor. Bereits 1913 versuchte er, einen „Arierparagraphen“ in die Stauten aufzunehmen, der den Ausschluss jüdischer Mitglieder ermöglicht hätte. Damals scheiterte er noch am deutschen Widerstand.
Erst nach dem Ersten Weltkrieg mit all seinen sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen und dem Verschwinden der alten Ordnung konnte sich der glühende Schönerer-Verehrer und Vorstand der Sektion Austria in Wien, Eduard Pichl, durchsetzen und 1920 die Aufnahme eines „Arierparagraphen“ in die Statuten des Dachverbandes des deutschen und österreichischen AV erreichen. Der antisemitische Publizist und Bergsteiger hatte es geschafft, mit einer Minderheit völkisch orientierter Mitglieder eine Mehrheit im Vorstand zu bekommen und damit Juden und Liberale mit der Zustimmung von drei Vierteln der Mitglieder hinauszudrängen.
Die meisten österreichischen Sektionen schlossen sich an, niemand fand diesen Beschluss ungerecht, wie Achrainer betont. In Deutschland hatte zunächst vor allem die Sektion Berlin dagegen gestimmt. Damit übernahm der Alpenverein lange vor der NS-Machtergreifung eine Vorreiterrolle bei der Ausgrenzung der Juden. Nur die von den Sozialdemokraten gegründeten „Naturfreunde“ schlossen sich dem Rassenwahn nicht an, sondern behielten ihre jüdischen Mitglieder. Die Ausgeschlossenen gründeten 1923 aus Protest eine eigene Sektion, die Sektion Donauland. Mit 3’000 Mitgliedern wurde sie zweitgrösste Sektion in Wien.
Juden in Schutzhütten nicht erwünscht
Erste Plakate „Juden und Mitglieder des Vereins Donauland sind hier nicht erwünscht“ und Hakenkreuze tauchten an den Schutzhütten auf. Bereits Ende 1924 wurde der Verein Donauland ausgeschlossen, da er nicht freiwillig gehen wollte. „Jetzt sind wir ganz unter uns“, lautete das Fazit. Im Gegenzug hatte der Dachverband den Mitgliedern zugesichert, für acht Jahre auf antisemitische Agitation zu verzichten. Ein Versprechen, das nicht eingehalten wurde.
Das „Jüdische Echo“ kommentierte damals prophetisch: „Wir sehen, dass unter der fortschreitenden Vergiftung ‚der Völker deutscher Zunge’ durch die Judenhetze unser Lebenskreis, die uns umgebenden unsichtbaren, aber um so mehr fühlbaren Ghettomauern uns immer enger einschliessen.“
Kurzzeitig Hütten für Juden und Nicht-Nazis
Um den Anfeindungen zu entgehen, gründete oder pachtete der Verein Donauland eigene Hütten, darunter die Glorerhütte am Grossglockner. Der Deutsche Alpenverein Berlin, dem etliche jüdische Mitglieder angehörten, gründete seinerseits das Friesenberghaus im Zillertal.
Die Tage beider Vereine waren jedoch gezählt. Nach der Machtergreifung Hitlers wurde der Berliner AV aufgelöst. Er konnte aber vorher noch das Friesenberghaus dem Verein Donauland übereignen. Kurz nach dem Anschluss Österreichs ereilte den AV Donauland das gleiche Schicksal. Die Friesenberghütte wurde während des Krieges der deutschen Wehrmacht übergeben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten die wenigen jüdischen Überlebenden, die zurückgekehrt waren, zwar die Vereinshütten zurück, konnten sie aber finanziell nicht mehr halten. Sie verkauften die Friesenberghütte und das Glorerhaus 1968 an die DAV-Sektionen Berlin und Eichstätt. Man entschied sich, die Hütten den deutschen AV-Sektionen und nicht dem OeAV zu überlassen, um das besonders hetzerische Verhalten des österreichischen Alpenvereins seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht noch durch die Übergabe der Hütten zu honorieren, wie Achrainer erläutert. Der Verein Donauland wurde 1976 sang- und klanglos aufgelöst.
Schleppende Aufarbeitung in den Alpenvereinen
Mit der Aufarbeitung seiner braunen Vergangenheit haben sich der OeAV und der DAV lange schwer getan. Erst in den späten achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts veröffentlichte der Deutsche Alpenverein eine Artikelserie zur unrühmlichen Geschichte der 20er und 30er Jahre. Der OeAV lud zu seinem 125jährigen Jubiläum den berühmten jüdischen Psychologen und Bergsteiger Viktor Frankl als Festredner ein, dem es in seiner Jugend verwehrt geblieben wäre, AV-Mitglied in Wien zu werden.
2001 verabschiedete der DAV die Proklamation „Gegen Intoleranz und Hass“, eine späte Geste, mit der man der Opfer von Ausgrenzung, Intoleranz und Verfolgung gedachte. Der OeAV taufte die Eduard-Pichl-Hütte in den Karnischen Alpen auf ihren alten Namen Wolayersee-Hütte zurück. Gemeinsam haben die Alpenvereine 2011 Forschungsarbeiten über die Vergangenheit in dem Buch „Berg Heil! Alpenverein und Bergsteigen 1918-1945“ veröffentlicht.
Der IS in der Defensive
Mit dem Fall von Falludscha im Irak und der Einnahme von Menbidsch in Syrien, beide bisher in Händen des IS, rückt die Zeit näher, in denen die beiden wichtigsten Städte des IS – Mosul im Irak und Raqqa in Syrien – zu Kriegsfronten werden. Raqqa ist die offizielle Hauptstadt des „Kalifates“, Mosul seine grösste Stadt mit einst zwei Millionen Bewohnern.
Im Irak sind es die irakische Armee im Südwesten von Mosul und die irakischen Kurden im Südosten der Stadt, die im Begriff sind, die umliegenden Dörfer und Ortschaften zu besetzen und die Ausgangspunkte zu beziehen, von denen aus die Offensive gegen die Stadt geführt werden soll.
In Syrien sind es die syrischen Kurden, unterstützt von amerikanischen Kampfjets, die darauf ausgehen, den Raum nördlich von Raqqa in Besitz zu nehmen und sich der Stadt vom Norden her zu nähern. Die syrische Armee ist nicht in der Lage – und möglicherweise auch nicht daran interessiert – an der Offensive gegen Raqqa teilzunehmen. Sie ist mit der Belagerung von Aleppo beschäftigt. Doch die russische und die amerikanische Luftwaffe stehen beide im Einsatz gegen Raqqa.
Eigeninteressen der Kurden
Die irakischen und die syrischen Kurden haben gemeinsam, dass es ihnen nicht so sehr um die beiden Grossstädte geht, auf die sie vorrücken, als vielmehr darum, die ganz oder teilweise von Kurden bewohnten Gebiete im Norden Syriens und im Osten von Mosul in Besitz zu nehmen. Diese Gebiete in der Provinz Ninewa gelten im Irak als „umstrittene Zonen“. In Syrien ist unklar, wie weit die kurdischen Gebiete von der türkischen Grenze nach Süden reichen und damit zu den Gebieten zählen, welche die syrischen Kurden für ihren geplanten Staat oder Teilstaat Rojawa beanspruchen.
In beiden Fällen gibt es eine lange konfliktive Vorgeschichte, weil die arabischen Regierungen von Damaskus und von Bagdad während Jahrzehnten dahin wirkten, dass arabische Bauern und Stämme die kurdischen ersetzten und sich deren Land aneigneten. Die Kurden sehen sich daher als berechtigt, nun ihrerseits die Araber aus jenen Ortschaften und Orten zu entfernen, die ihnen als ursprünglich kurdisch gelten.
Den IS in den beiden Grossstädten zu schlagen und aus ihnen zu vertreiben, ist den Kurden nur insofern wichtig, als der IS, solange ihm Macht verbleibt, stets ein Feind und eine Gefahr für die benachbarten Kurden bleiben wird. Die Belagerung dieser Städte wird daher für die kurdischen Kräfte wichtig genug sein, um dabei mitzuhelfen. Doch sie werden fordern, dass auch andere – arabische – Kämpfer zusammen mit den ihrigen eingesetzt werden, um diese arabischen Städte vom IS zu befreien.
Bevorstehender Verzweiflungskampf des IS
Im Irak besteht diese zweite – arabische – Kraft aus der irakischen Armee sowie aus den schiitischen Milizen der sogenannten „Volksmobilisation“, die in Bagdad und im irakischen Süden rekrutiert worden sind, als die irakische Armee im Sommer 2014 zusammenbrach und der IS Bagdad und Erbil bedrohte.
In Syrien ist die Regierungsarmee zu sehr mit Aleppo beschäftigt, um für eine Raqqa-Offensive eingesetzt werden zu können. Doch gibt es nach wie vor Einheiten der syrischen Armee, die weiter unten am Euphrat in Teilen der Stadt Deir az-Zor und ihrem Flughafen eingekreist sind und dort gegen den IS kämpfen.
Es ist zu erwarten, dass der IS sich in beiden Städten zäh verteidigen wird. Er hatte reichlich Zeit, sich auf die Belagerung vorzubereiten, und seine Kämpfer haben keinen anderen Ort mehr, an den sie sich zurückziehen könnten. Dies lässt an beiden Orten einen Verzweiflungskampf erwarten, der monatelang dauern könnte.
Die verbliebenen Zivilisten werden in beiden Städten schwer zu leiden haben. Zerstörungen im grossen Stil sind zu erwarten. Eine Fluchtbewegung aus beiden Städten hat schon eingesetzt. Sie wird sich zu Strömen von Flüchtlingen ausweiten, wenn die Belagerung ernsthaft beginnt. In Raqqa dürften zur Zeit noch mehrere Hunderttausend Menschen leben, in Mosul vielleicht eine Million.
Sunnitische Städte von Schiiten „befreit“
Die irakischen Städte, die bisher vom Joch des IS befreit worden sind – Ramadi, Falloudscha und schon zuvor Beiji, Tikrit sowie die Städte der Provinz Diyala – hatten alle unter dem Umstand zu leiden, dass sie von Sunniten bewohnt, aber von Schiiten befreit wurden. Die schiitischen Milizen und auch die überwiegend schiitische Armee des Iraks neigen dazu, die „befreiten“ Sunniten misstrauisch zu behandeln. Es ist schliesslich nie klar, ob und wieweit sie mit dem IS zusammengearbeitet haben.
Der IS genoss ursprünglich in vielen sunnitischen Orten Sympathie, weil er im Namen des Sunnismus kämpfte und seine Religionsgenossen „befreite“. Diese hatten zuvor unter Diskriminierung vonseiten der schiitischen Bagdader Regierung und ihrer Behörden gelitten und gegen sie demonstriert. Diese Anfangssympathien waren jedoch verflogen, als die tyrannische Natur des IS-Regimes immer klarer hervortrat. Opportunisten, die dennoch zum IS hielten, gab es natürlich weiterhin.
Verdächtigte Sunniten
Die schiitischen Befreier suchten zwischen verkleideten IS-Kämpfern, IS-Sympathisanten, Mitläufern und den notgedrungen schweigenden Gegnern des IS zu unterscheiden. Ohne Zweifel gibt es unter den in den Städten verbliebenen oder aus ihnen geflohenen Zivilisten Personen, die weiterhin dem IS anhängen und die daher in Schläferzellen hinter der Front gefährlich werden könnten. Dies gab solchen Nachforschungen der Befreier eine gewisse Berechtigung. Doch allzu oft wurden alle Sunniten unter Generalverdacht gestellt. Dann hiess es: „Beweise mir, dass du nicht zum IS gehörst!“ Der Besitz von Geflohenen wurde oft unter dem Vorwand geplündert, dass es sich bei den Flüchtigen um IS-Sympathisanten gehandelt haben müsse.
Im Fall von Falludscha, wo die eigentliche Belagerung nach Monaten der Vorbereitungen von Ende Mai bis Ende Juni 2016 andauerte, hatte aus diesen Gründen die Regierung al-Abadis unter Anraten, wenn nicht gar Druck der Amerikaner dafür gesorgt, dass die Schiiten-Milizen nicht in die belagerte Stadt vordringen sollten. Sie wurden angewiesen sich damit zu begnügen, die zuerst eroberten Ortschaften im Umfeld der Stadt zu besetzen und abzusichern, so dass der IS nicht in sie zurückkehren könne.
Flüchtlinge in der Hand der Milizen
Dadurch wurden die Bewohner der Stadt, die unter der Belagerung aus Falludscha flohen, von den ausserhalb stationierten Milizen in Empfang genommen. Diese gingen dazu über, die Männer von den Frauen zu trennen. Die Männer ab 15 Jahren wurden in besondere Lager verbracht, um dort auf Zugehörigkeit zum IS untersucht zu werden.
Dabei scheint es nicht ohne Schläge und möglicherweise Schlimmeres abgegangen zu sein. Human Rights Watch spricht von glaubwürdigen Aussagen, wonach es zu Schlägen, Folterungen, summarischen Hinrichtungen, Verschwindenlassen, sogar Leichenschändung gekommen sei.
Nachdem die regulären Polizeikräfte und Elitetruppen eingriffen, wurden manche der Abgesonderten bereits wieder zu ihren Familien zurückgeschickt. Doch andere blieben bis heute gefangen – oder sind vielleicht nicht mehr am Leben. Die Familien wissen nicht, was mit ihnen geschah.
Allseitige Befürchtungen
Hinzu kommt, dass den Flüchtlingen aus Falludscha verboten wurde, nach dem 70 Kilometer entfernten Bagdad zu reisen, solange sie niemanden haben, der für sie bürgt. In ihre „befreite“ Stadt heimzukehren, bleibt ihnen bis heute ebenfalls versagt, weil dort immer noch die vom IS gelegten Minen und Sprengfallen zu fürchten sind. Ganz oder teilweise unversehrt gebliebene Häuser laufen Gefahr, geplündert zu werden, solange sie leerstehen und ihre Besitzer nicht in sie zurückkehren können. Damit nicht genug: Manche Milizen wollen das eroberte Falludscha nicht räumen, da sie der Armee alleine nicht zutrauen, die Stadt vor erneuter Infilterung durch den IS bewahren zu können.
Natürlich haben die Bewohner von Mosul davon gehört, wie es bei der Rückeroberung und in der Folge davon in Falludscha zuging, vielleicht sogar in übertriebener Form. Sie fürchten nun, es werde bei ihnen ähnlich zugehen wie dort, wenn nicht noch schlimmer.
Was Raqqa angeht, so sind die Folgen einer zu erwartenden „Befreiung“ noch weniger klar als in Mosul. Wer wird die Stadt nach der Vertreibung des IS beherrschen? Die Kurden? Die Rebellen gegen Asad, und wenn sie, welche ihrer einander feindlichen Gruppen? Die syrische Armee und die syrischen Geheimdienste? Oder gar alle zusammen, ein jeder in seinem in Ruinen liegenden Stück der Stadt, von dem aus sie sich dann gegenseitig bekämpfen?
Zurück zum Untergrundkampf
Es ist zu erwarten, dass die überlebenden IS-Kämpfer nach dem Verlust beider Städte ihren Kampf nicht aufgeben werden. Sie werden sich in der Wüste verstecken und in den sunnitischen Ortschaften Untergundzellen bilden, um mit Selbstmordanschlägen und Überfällen weiter zu kämpfen. Je chaotischer die Zustände in den „befreiten“ einstigen Hauptstädten ihres „Kalifates“ sein werden, desto besser für den IS. Jene Bevölkerungsteile, die sich misshandelt sehen, werden den besten Wurzelgrund für terroristisch operierende IS-Kämpfer abgeben.
Deshalb wird, selbst wenn die beiden Hauptstädte fallen, der Krieg gegen den IS nicht vorbei sein. Voraussetzung dafür, dass er wirklich endgültig zuende ginge, wären politische Lösungen der Grundfragen, die der Zusammenbruch der beiden bisherigen Nationalstaaten – vollständig in Syrien und teilweise im Irak – aufwirft.
Das Zusammenleben von Schiiten und Sunniten, von syrischen Kurden und Arabern, von Türken und Kurden im nordsyrischen und im osttürkischen Grenzraum, von Alewiten und Sunniten in syrischen Westen – von den vielen kleineren Minderheiten in beiden Staaten gar nicht zu sprechen – muss eine Regelung finden, die allen Seiten als annehmbar erscheint. Nur so kann es gelingen, den islamistischen Jihadisten endgültig das Handwerk zu legen.
Ettore Petrolini, italienischer Schauspieler, Humorist, 1884-1936
Man muss das Geld dort holen, wo es ist: bei den Armen zum Beispiel. Die haben zwar wenig, aber es gibt viele von ihnen.
Bombardierte Spitäler
Die Hilfsorganisation „Médecins sans frontières“ (MSF) gab am Freitag bekannt, sie sehe sich gezwungen, ihre Spitäler in den nördlichen Teilen Jemens zu räumen. Solche Entschlüsse würden nicht leichtfertig gefasst, erklärte die Leitung von MSF. Doch die Organisation sei zu dem Schluss gekommen, dass in den Spitälern und Kliniken im Norden Jemens die Situation für Patienten, Ärzte und medizinisches Personal zu gefährlich geworden sei.
Der Entschluss kam, nachdem am 15. August das von MSF betriebene Spital in Abs, nahe bei Harad, der Grenzstadt am östlichen Flügel der saudisch-jemenitischen Grenze, von Flugzeugen der saudischen Koalition bombardiert worden war. Der Luftangriff hatte 19 Personen das Leben gekostet, 24 wurden verwundet.
Angreifer kennen Koordinaten der Spitäler
MSF betont, die Hilfsorganisation habe die Koordinaten ihrer Spitäler und Kliniken an alle an dem Konflikt beteiligten Parteien weitergeleitet. Ausserdem sind die Dächer ihrer Spitäler rot gekennzeichnet. Laut MSF erklärten die Beamten der saudisch angeführten Koalition, dass sie sich an die humanitären Regeln halten wollten. „Doch der Angriff auf unser Spital zeigt, dass sie nicht in der Lage sind, den Einsatz von Gewalt zu kontrollieren und Angriffe auf Spitäler voller Patienten zu vermeiden.“
Die Hilfsorganisation sagt auch: “MSF ist nicht beruhigt und nicht befriedigt durch die Erklärung der von Saudi-Arabien angeführten Koalition, nach welcher der Angriff ein Irrtum gewesen sei.“ Sie erklärt: „Angesichts der Heftigkeit der gegenwärtigen Offensive und unseres Vertrauensverlustes in Bezug auf die Fähigkeit der von Saudi-Arabien angeführten Koalition, tödliche Angriffe zu vermeiden, betrachtet MSF die Spitäler der Provinzen Saada und Hajja als unsicher für Patienten und Personal. Die Spitäler werden weiterhin durch lokales Personal und freiwillige Helfer betrieben.“ In den beiden Provinzen an der Nordgrenze Jemens werden sechs Spitäler von MSF aufgegeben.
Riad „bedauert“
Die saudische Koalition gab ihrem Bedauern über den Entschluss von MSF Ausdruck und erklärte, sie suche „ein eiliges Treffen mit MSF zu organisieren, um gemeinsam einen Weg zu finden, um diese Situation zu beenden“.
Dem Angriff auf das Spital von Abs waren zuvor andere Angriffe auf Kliniken und Spitäler von MSF vorausgegangen. Der tödlichste von ihnen traf am 16. Januar das Spital der Stadt Saada und liess sechs Tote zurück. Weniger als zwei Tage vor dem Angriff auf Abs war eine Koranschule auch in Haydan, Privinz Saada, getroffen worden, was zehn Kindern das Leben kostete. Die saudischen Sprecher hatten erklärt, sie hätten ein Lager bombardiert, in dem die Huthis Kindersoldaten ausbildeten.
Am gleichen Tag wurde in Razih, ebenfalls in der Provinz Saada, das Haus eines Schuldirektors getroffen, was dessen Frau und vier Kindern das Leben kostete. Vier ihrer Verwandten, die zur Rettung herbeigeeilt waren, wurden durch einen Zweitschlag ebenfalls getötet.
Intensivierte Bombenangriffe
Die Koalition hat ihre Bombenangriffe intensiviert, seitdem zu Beginn dieses Monats die Friedensverhandlungen in Kuwait ergebnislos abgebrochen worden waren. Die Huthis versuchen an den nördlichen Grenzen saudische Soldaten mit Raketen zu beschiessen, und sie dringen auch des öftern über die Grenze hinweg in das saudische Territorium ein und überfallen kleinere Gruppen von saudischen Soldaten innerhalb Saudi-Arabiens.
Die saudischen Grenzwächter und die dort stationierten Panzer und Raketenwerfer schlagen mit allen Mitteln zurück. Aus diesen Gründen ist die Lage in den beiden relativ dicht bewohnten Grenzprovinzen in der östlichen Grenzregion besonders angespannt. Man kann vermuten, dass angesichts dieser Spannungen die saudische Luftwaffe noch weniger als in anderen Landesteilen auf zivile Einrichtungen, Spitäler und Schulen Rücksicht nimmt.
Bomben aus GB und aus den USA
In den USA und in Grossbritannien wird Kritik an den vielen zivilen Opfern saudischer Bombardierungen laut. Dies kann der saudischen Regierung nicht ganz gleichgültig sein, weil sämtliche Waffen, Bomben und Raketen, die in dem Luftkrieg eingesetzt werden, von diesen beiden Staaten geliefert werden. Die Saudis zahlen schweres Geld dafür. Was einer der Gründe sein dürfte, weshalb die britische und die amerikanische Regierung sich gegen das Ansinnen sträuben, die Waffenlieferungen einzuschränken.
Doch Vorkommnisse wie der gegenwärtige Zusammenstoss von MSF mit der kriegführenden Koalition heizen natürlich die Kritik an dem saudischen Vorgehen weiter an.
Das nun stillgelegte Spital in Abs hatte nach Angaben von MSF seit seiner Eröffnung von Juli 2015 4’600 Patienten behandelt. Andere funktionierende Spitäler und Kliniken gibt es in den beiden Provinzen kaum mehr.
H.G. Wells, englischer Schriftsteller, 1866-1946
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