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Babylon Brüssel

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Autor Robert Menasse
Autor Robert Menasse

Der Österreicher Robert Menasse, 1954 geboren, hat sich als Essayist schon öfters mit dem Problemkreis Europa beschäftigt. In seinem 2017 mit dem deutschen Bruchpreis ausgezeichneten Roman „Die Hauptstadt“ setzt er sich nun weniger als kritischer Kommentator mit der Institution Europäische Union auseinander, dafür als scharf beobachtender, pointierter Romancier mit den Menschen, die in der EU-Zentrale in Brüssel zu Gange sind. Dort fördert er einiges an bürokratischem Wahn- und Irrsinn zutage und findet eher wenig Frohsinniges.

Herrenloses Schwein in Brüssel

So beginnt „Die Hauptstadt“: „Da läuft ein Schwein! David de Vriend sah es, als er ein Fenster des Wohnzimmers öffnete, um noch ein letztes Mal den Blick über den Platz schweifen zu lassen, bevor er diese Wohnung für immer verliess. Er war kein sentimentaler Mensch. Er hatte sechzig Jahre hier gewohnt, sechzig Jahre lang auf diesen Platz geschaut, und jetzt schloss er damit ab. Das war alles. Das war sein Lieblingssatz – wann immer er etwas erzählen, berichten, bezeugen sollte, sagte er zwei oder drei Sätze und dann: ‚Das war alles.‘ Dieser Satz war für ihn die einzig legitime Zusammenfassung von jedem Moment oder Abschnitt seines Lebens.

Die Umzugsfirma hatte die paar Habseligkeiten abgeholt, die er an die neue Adresse mitnahm. Habseligkeiten – ein merkwürdiges Wort, das aber keine Wirkung auf ihn hatte. Dann sind die Männer von der Entrümpelungsfirma gekommen, um alles Übrige wegzuschaffen, nicht nur was nicht niet- und nagelfest war, sondern auch die Nieten und Nägel, sie rissen heraus, zerlegten, transportierten ab, bis die Wohnung ‚besenrein‘ war, wie man das nannte. De Vriend hatte sich einen Kaffee gemacht, solange der Herd noch da war und seine Espressomaschine da stand, den Männern zugeschaut, darauf achtend, ihnen nicht im Weg zu stehen, noch lange hatte er die leere Kaffeetasse in der Hand gehalten, sie schliesslich in einen Müllsack fallen lassen. Dann waren die Männer fort, die Wohnung leer. Besenrein. Das war alles.“

Im Dienst seiner Figuren

Was ist das für ein Schwein, das in Brüssel umherstreift und die Gerüchteküche befeuert? Und wer ist der greise Herr, David de Vriend, der als erste Figur eingeführt wird? Diese Fragen werden im Verlauf des Romans in der eleganten, stilvollen Manier verhandelt, die dem Begriff Polyphonie gerecht wird: Robert Menasse stellt sich ganz in den Dienst seiner Figuren, die so von einem besonderen Zauber umflort werden, an Plausibilität gewinnen.

David de Vriends Persönlichkeit erhält anrührende Konturen, indem der Autor ihre beispiellose Vita nach und nach aufblättert, mit Lakonie und dem gebotenen Respekt: Sie wurzelt im düstersten Kapitel der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, im Nationalsozialismus des Hitler-Regimes, im Dritten Reich.

Das „Jubilee Project“

In „Die Hauptstadt“ geht es um ein bevorstehendes Jubiläum der EU-Kommission. Die Grösse des Ereignisses soll mit einem PR-wirksamen „Jubilee Project“ gefeiert werden, was so einfach nicht ist. Die Renommier-Departemente der EU wie etwa die Wirtschaftsabteilung halten sich bedeckt, weil sich die finanzstarken, tonangebenden Mitgliedstaaten aus Prestigegründen lieber selber darstellen, als im Verbund mit anderen die zweite Geige zu spielen. Darum beauftragt die EU-Chefetage, so diplomatisch wie berechnend, die Kulturabteilung mit der Projektentwicklung. Sie wird von Fenia Xenopoulou geführt, deren griechisch-zypriotische Herkunft sie – quotenbedingt – überhaupt erst in die direktoriale Position befördert hat; was im Buch dann noch eine Rolle spielen wird!

Frau Xenopoulou ist um die vierzig, ambitioniert und sich sehr wohl bewusst, dass die Kulturabteilung in der EU-Hierarchie nicht in der Champions-League agiert. Robert Menasse: „Die Kultur war ein bedeutungsloses Ressort, ohne Budget, ohne Gewicht in der Kommission, ohne Einfluss und Macht. Kollegen nannten die Kultur ein Alibi-Ressort – wenn es das wenigstens wäre! Ein Alibi ist wichtig, jede Tat braucht ein Alibi! Aber die Kultur war nicht einmal Augenwischerei, weil es kein Auge gab, das hinschaute, was die Kultur machte.“ (…) „Wenn der Kommissar für Handel oder für Energie, ja sogar wenn die Kommissarin für Fischfang während einer Sitzung der Kommission auf die Toilette musste, wurde die Diskussion unterbrochen und gewartet, bis er oder sie zurückkam. Aber wenn die Kultur-Kommissarin rausmusste, wurde unbeeindruckt weiterverhandelt, ja es fiel gar nicht auf, ob sie am Verhandlungstisch oder auf der Toilette sass. Fenia Xenopoulou war in einen Aufzug gestiegen, der zwar hochgefahren, aber dann unbemerkt zwischen zwei Stockwerken stecken geblieben war.“

Wahrheit und Dichtung

Wer im Karrieristen-„Leiterlispiel“ dennoch weiterkommen will, muss sich etwas einfallen lassen. Madame bittet ihre Mitarbeitenden zum Brainstorming, mit bescheidenem Ergebnis. Doch ihr Referent Martin Susman – Sohn eines österreichischen Schweinebauern und Bruder eines Lobbyisten, der einen EU-Deal mit dem potenten Schweinefleisch-Abnehmer China einfädeln will – hat eine aufsehenerregende Idee. Nach einer Dienstreise zur polnischen Holocaust-Gedenkstätte Auschwitz schlägt er vor, die allerletzten Zeitzeugen des Genozids in den Mittelpunkt des „Jubilee Projects“ zu stellen. Susman ist überzeugt, dass ein Hauptanliegen der EU – die Überwindung des nationalstaatlichen Grössenwahns mit seinem pervertierten Machtstreben, der Kriegstreiberei, dem Rassismus und der sozialen Ungleichheit – im Grunde erst nach der Zerschlagung der Hitlerei 1945 hatte Gestalt annehmen können.

Susmans Vorschlag scheint historisch und ethisch untadelig zu sein. Auffällig schnell wird er von oben mit Applaus bedacht und zur Weiterbearbeitung freigegeben. Doch kaum geht es ans Umsetzen, rumpelt es in der EU-Kommission: Das Trauma von Auschwitz im Fokus einer Geburtstagsfeier? Wer könnte, wer will sich damit profilieren? Und auf wessen Kosten? Und, praktisch gesehen, wie liessen sich die über den Globus verstreuten Opfer auffinden, wer kennt ihre Namen, ihre Anschrift? Und, nicht zuletzt: Wo sollte der Anlass stattfinden? In Brüssel, gar in Auschwitz selber?

Robert Menasse erzählt eine fiktive Geschichte, wobei einem flugs dämmert, dass sein Text mehr Wahrheit als Erfundenes enthält. Weil der Autor, der jahrelang recherchiert hat, nun in die neuere europäische Geschichte sowie in die Machtrangeleien im bürokratischen Konstrukt EU hineinleuchtet. Und einem auch bewusst macht, dass sich in Belgiens Metropole ebenfalls das neue „NATO HQ“ (neues Nato-Hauptquartier) befindet, wo konfliktentscheidende militärische Entscheide gefällt werden.

Robert Musil im Subtext

Im Subtext von „Die Hauptstadt“ erinnert Menasse auch an Robert Musils monumentalen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1943). Dieser soll, so wird kolportiert, das Lieblingsbuch des Präsidenten der EU sein. Der taucht als Person im Roman zwar nicht auf, schwebt jedoch über allem. Und somit ist klar, dass wer in der EU vorankommen will, mit Musils Hauptwerk vertraut sein sollte.

Dass Menasse auf „Der Mann ohne Eigenschaften“ verweist, ist nachvollziehbar. Musil beschreibt dort am Beispiel der Österreichisch-Ungarischen Monarchie rückschauend die Veränderung der Ordnung und Struktur in Europa anfangs des 20. Jahrhunderts. So wie es Robert Menasse heute als beobachtender Zeitgenosse in Sachen EU tut. Schriftsteller brauchen sich nicht hinter Reglementen, Verordnungen, Verträgen zu verschanzen, sie dürfen, sie sollen, sie müssen die Gedanken frei schweifen lassen, bis ins Visionäre, bis ins Unmöglich scheinende hinan.

In diesem Sinn ist „Die Hauptstadt“, bei allen Quellen-Verweisen, vor allem eine faszinierende Melange aus Gesellschaftsroman, Politsatire, Lovestory und einem Hauch von Thriller; ein moderner Roman zur Zeit, der die künstlerische Freiheit ausreizt, ohne sie über Gebühr zu strapazieren.

Tauchfahrt ins Labyrinth der EU

Im Buch geht es wie erwähnt auch um Schweine – im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne. Deren Bedeutung erschliesst sich aus dramaturgisch geschickt angelegten metaphorischen Hinweisen. Eines streunt also herrenlos in Brüssel umher, behindert den Verkehr, taucht in den Medien auf und wird sogar auf einem Soldaten-Friedhof verhaltensauffällig. „Schwein“ steht für alle Varianten des Begriffs, vom Glücksschwein bis zur Drecksau, vom Sparschwein bis zum kinderfreundlichen Schweinchen Schlau und auch für Sauereien aller Art. Dass der eine oder die andere im Roman mehr Schwein hat als Verstand ist gegeben. Und wie sagte Menasse in einem Interview? „Ein Schwein läuft durch Brüssel, Europa wird wie ein Schwein durchs Dorf getrieben.“

„Die Hauptstadt“ ist eine Art Tauchfahrt ins babylonische Labyrinth der EU, wo Funktionäre, Delegierte und Lobbyisten jeglicher Couleur herumwuseln. Menasses Blicke – ohne Häme, ohne Besserwisserei – in die Kulissen, die Orchestergräben der Brüsseler Europa-Oper mit ihren Baustellen wie verschuldeten Mitgliederstaaten, der Flüchtlingskrise, dem Brexit, sind auf hohem Niveau unterhaltsam.

Der Solitär und die Salamander

Menasse holt Menschen mit Eigenschaften auf die Bühne. Die besagte Fenia Xenopoulou mit ihrem verkorksten Gefühlsleben. Einige namenlose „Salamander“ genannte Streber, wie man ihnen in vielen Berufen begegnet und die Menasse so skizziert: „… man kann sie ins Feuer werfen, aber sie verbrennen nicht, ihr Hauptmerkmal ist ihre Unzerstörbarkeit.“ Ja, dieser Autor weiss, wie man Personen und Schauplätze beschreibt. Und er hat ein stupendes Flair für das Auslegen von Handlungssträngen, die er dann nicht auf Teufel komm raus zusammenführen will, ab und an sogar ins Leere laufen lässt, ohne dass das einen stört. Wie dort, wo ein überforderter Polizeikommissar, der in einem Auftragsmord ermittelt, erleben muss, wie seine Arbeit von obskuren Mächten torpediert wird.

Tiefgründiger legt Menasse die Figur eines Wiener Historikers namens Alois Erhart an. Der Professor gehört dem EU-Think-Tank „New Pact for Europe“ an und soll in Brüssel ein Referat halten; es ist von derart bissiger Qualität und Leidenschaft, dass den von wenig geschichtlichem Bewusstsein gestreiften Konferenz-Teilnehmern Hören und Sehen vergeht. Wenn sich so die intellektuelle, realpolitische Seite der EU-Medaille manifestiert, dann steht David de Vriend für das, was die EU ideell im zutiefst Mitmenschlichen ausmachen könnte. Und er wäre – von einem unsagbaren Lebensschicksal geprägt – exakt der Solitär gewesen, den sich der EU-Kulturreferent Martin Susman als Mahner für sein „Jubilee Project“ vorgestellt hat.

Die Würde des Menschen

Just wenn einem die Vielfalt der Geschehnisse fast schon etwas zu überfordern droht, steuert Robert Menasse narrativ zügig auf einen Showdown im Herzen Brüssels zu. Da wird einem nochmals drastisch bewusst, dass seine Fiktion stärker von der Wirklichkeit überlagert ist, als einem lieb sein kann. Legt man danach das Buch aus der Hand, erinnert man sich an den eingangs erwähnten Text über David de Vriend: „Er war kein sentimentaler Mensch. Er hatte sechzig Jahre hier gewohnt, sechzig Jahre lang auf diesen Platz geschaut, und jetzt schloss er damit ab. Das war alles. Das war sein Lieblingssatz – wann immer er etwas erzählen, berichten, bezeugen sollte, sagte er zwei oder drei Sätze und dann: ‚Das war alles.‘ Dieser Satz war für ihn die einzig legitime Zusammenfassung von jedem Moment oder Abschnitt seines Lebens.“ Ohne pathetische Überhöhung verleiht der Autor seiner Leitfigur de Vriend eine charismatische Aura, versinnbildlicht in ihr das, was unantastbar ist, aber immer wieder mit Füssen getreten wird: die Würde des Menschen.

Robert Menasse, der übrigens von sich sagt, er sei ein Sensibelchen mit Hang zur Schwermut, lässt uns tief ins Herz der Finsternis blicken. Aber er entlässt uns nicht zu Tode betrübt. Weil es ihm in seinem beherzten Werk gelingt, das Quäntchen Hoffnung machender Neugierde zum Glimmen zu bringen, das sich bereits in einer Kapitelanmerkungen ankündigt: „Zusammenhänge müssen nicht wirklich bestehen, aber ohne sie würde alles zerfallen.“

Robert Menasse: Die Hauptstadt. Suhrkamp, Berlin 2017, 459 Seiten. Auch als Hörbuch sehr empfehlenswert (Vorleser: Christian Berkel).

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Atatürk im Schatten Erdogans

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Inga Rogg, ausgewiesene Kennerin, Augenzeugin  der gegenwärtigen Türkei und NZZ-Korrespondentin, hat ein Buch verfasst, dem sie den Titel gab: „Türkei, die unfertige Nation, Erdogans Traum vom Osmanischen Reich“.* Noch vor zwanzig Jahren hätte wohl niemand daran gedacht, gerade die Türkei als unvollendet zu beschreiben. Sie galt vielmehr als der wichtigste, vielleicht der einzige vollendete Nationalstaat im Nahen Osten. Damals bestand der Eindruck, dass die Türkei endgültig den Weg in die „westliche“, europäische Moderne angetreten und auch schon ein entscheidendes Stück dieses Weges zurückgelegt hatte.

Das Werk Atatürks hatte Früchte getragen, so sah es aus. Seine Sicht der Dinge, nach der es nur eine Zivilisation gab, die Zivilisation schlechthin, nämlich jene von Paris und von London, hatte sich durchgesetzt. Das mächtige Wirken des grossen Mannes der modernen Türkei, hatte sein Land auf den Weg eines „westlichen“ Nationalstaates geschoben, und in den zwei Generationen nach ihm, war das Land auf diesem Weg weiter und entschiedener vorangekommen als alle anderen muslimischen Staaten des Nahen Osten. Es war ein „europäischer Staat“ geworden, und wollte es sein.

„Modern“ und „zivilisiert“ ohne Zweideutigkeit?

Dies in deutlichem Gegensatz zu den benachbarten Ländern der arabischen und der iranischen Welt, wo es tiefgreifende Zweideutigkeiten gab. Dort bestand Ungewissheit, weil beides angestrebt wurde, Macht, Ansehen, Wohlstand, Respekt in der „modernen“ gegenwärtigen Welt, aber auch Festhalten am eigenen Herkommen, von dem man wusste, es gehört zu einer anderen alteingesessenen eigenen Tradition, die man „arabisch“, „iranisch“ nannte, sowie auch „islamisch“ für die grosse Mehrzahl der Bevölkerungen und vielleicht eher „orientalisch“ im Falle der christlichen und der wenigen noch verbliebenen jüdischen Minderheiten.

Islamversprechen bringen Stimmen ein

Natürlich wussten auch damals alle Beobachter, die sich um Einsicht in die Türkei bemühten, dass „der Islam“ auch in der Türkei nach wie vormächtig war. Dies liess sich objektiv nachweisen, weil deutlich war, dass türkische Politiker, Wahlerfolge aufwiesen, wenn sie an den Islam der Türken appellierten, oder wenn sie ihren Wählern „mehr Islam“ versprachen, mehr Moscheen, islamische Schulen für Geistliche, die Wiedereinführung einer Kleiderordnung, die als „islamisch“ gelten konnte.

Berücksichtigung der Scharia, des islamischen Gottesgesetzes

Als nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal echte Wahlen durchgeführt wurden – zuvor hatte es nur gelenkte Wahlen gegeben –gewann jene Partei, die mehr Islam in der Öffentlichkeit versprach, die damalige „Demokratische Partei“, zuerst den zweiten Platz 1946 und im nächsten Wahlgang, vier Jahre später den ersten, mit einem weiteren Wahlsieg 1954, der jedoch nur eine relative Mehrheit hervorbrachte. 1960 unmittelbar vor den nächsten Wahlen, kam es zum Putsch durch die Militärs, gefolgt von einem Prozess gegen die Anführer der Demokratischen Partei mit lebenslänglichen Gefängnisstrafen und Todesurteilen, die an dreien der Parteiführer vollstreckt wurden:Ministerpräsident Adnan Menderes und seinem Aussenminister Zorlu, sowie dem Finanzminister Polatkan.

Die Anklage hatte auf Bruch der Verfassung gelautet. Diese, aus der Zeit Atatürks, schrieb „Säkularismus“ und „Etatismus“ fest. „Säkularimus“ bedeutete Zurückdrängung des öffentlich in Erscheinung tretenden Islams und Unterstellung der Religion unter staatliche Aufsicht. „Etatismus“ war staatlich geleitete Wirtschaft. Beide Grundsätze hatte Menderes zu lockern versucht. Seine Regierung war in der letzten Phase, vor dem Staatsstreich, sehr selbstherrlich geworden, und er hatte versucht, seine Herrschaft mit undemokratischen Mitteln zu festigen. Doch die Diskussion über „den Islam“ war in der Öffentlichkeit und auch bei der Selbst-Rechtfertigung der putschenden Offiziere das überragende Thema.

Rehabilitierung des hintergerichteten Regierungschefs 

Ähnlich ging es der Nachfolgepartei der gestürzten Partei von Menderes, der Gerechtigkeitspartei, die ihren Namen erhielt, weil sie Gerechtigkeit für die Hingerichteten forderte. Unter ihrem neuen Chef, Süleyman Demirel, war sie erfolgreich. Demirel sollte fünf mal Ministerpräsident und sieben Jahre lang Präsident der Türkei werden. Er wurde auch zweimal durch Staatsstreiche der Armee abgesetzt, 1971und 1980, und sah sich gezwungen seine Partei jedes Mal neu zu benennen. Sie wurde 1983 die Partei des „Rechten Weges“, weil die Offiziere die Gerechtigkeitspartei verboten hatten. Seine Wahlerfolge verdankte er nicht allein der grösseren Islamfreundlichkeit seiner Partei. Doch diese spielte eine bedeutende Rolle bei seiner Beliebtheit im türkischen Volk und sie gehörte auch zu den Vorwürfen, welche die Offiziere gegen ihn erhoben.

Während seiner letzten Amtsperiode als Regierungschef wurden die hingerichteten Oberhäupter der Demokratischen Partei Menderes' rehabilitiert und erhielten Grabmonumente. Ihre Namen wurden Flughäfen, Strassen und Gymnasien inmehreren türkischen Städten gegeben.

Die Partei der Voll-Islamisten

Seit 1969 gab es in der Türkei eine viel stärker auf den Islamausgerichtete Partei als die islamische Schlagseite, welche die Demokatische Partei von Menderes und ihre Nachfolgeparteien unter Demirel aufwiesen. Dies waren die Parteien Necmettin Erbakans, die nacheinander die Namen „Nationale Ordnungspartei“, „Nationale Rettungspartei“, „Tugend-Partei“ und „Glückseligkeitspartei“ erhielten. Die Namenswechsel waren jeweilen erzwungen, weil die Parteiverboten und unter neuen Namen wieder gegründet wurde.

Ihre Ideologie hatte Erbakan 1969 niedergeschrieben und sie „Nationale Sicht“ (Milli Görüsh) genannt. Erbakan war Ingenieur und hatte in Aachen seine Ausbildung vollendet. Er war auch Mitglied einer Sufi (Mystiker)Gemeinschaft, die dem strenggläubigen Orden der Naqshbandi angehört.

Er strebte für sein Land eine Aussenpolitik an, die auf Zusammenarbeit mit anderen muslimischen Staaten hinauslief und sprach gegen Israel und gegen die Mitgliedschaftsbestrebungen bei der EU, welche die türkische Staatspolitik betrieb. Die „nationale“ und die „islamische“Identität der Türkei gehörten nach seiner Ansicht untrennbar zusammen. Erbakan wurde auf Grund der Stimmen, die seine Parteien erhielten, dreimal Stellvertretender Ministerpräsident in den 70er Jahren und ein Jahr lang Ministerpräsident einer Koalitionsregierung vom Juni 1996 bis Juni 1997. Er wurde durch den „Putsch durch ein Memorandum“ der Militärs zum Rücktritt gezwungen, und seine Partei wurde verboten, um wie auch nach anderen zwei Verboten unter neuem Namen wieder gegründet zu werden.

Erdogan Aktivist unter Erbakan

Innerhalb der Erbakan Parteien hat Recep Tayyeb Erdogan seine politische Laufbahn begonnen und seine ersten politischen Erfolge errungen. Er tat sich als Redner hervor, und er wurde gewählter Bürgermeister von Istanbul von 1994 bis 1998. Als solcher war er überaus erfolgreich und sanierte seine damals in vieler Hinsicht marode Vaterstadt. Er erlitt einen politischen Rückschlag. Seine Feinde, in erster Linie die Armeeoffiziere, strengten Klage gegen ihn an, weil er in einer Volksrede in der Schwarzmeerstadt Sinop ein nationalistisches Gedicht aus der Zeit vor Atatürk zitiert hatte, in dem die Minarette als die Speere der Türken und die Moscheekuppeln als ihre Schilde angesprochen werden. Dies wurde ihm als „Aufstachelung zum religiösen Hass“ ausgelegt, und er wurde zu einer halbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, von welcher er vier Monate absitzen musste.

2001 verliess Erdogan die Partei Erbakans und gründete mit Gesinnungsgenossen seine eigene AKP (abgekürzt für „Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei“). Diese wollte er als islamische und demokratische Partei situieren, so– wie er damals oft sagte - wie die Christlich Demokratischen Parteien in Europa und ohne die säkularistische Trennung von Staat und Religion zu beenden. Seine Partei war von Beginn an den Urnen erfolgreich und hat seit ihrer Gründung nie eine Wahl oder ein Plebiszit – von denen er in kritischen Situationen mehrere durchführen liess –verloren.

Der Feuerwall der Armeeoffiziere

All dies sind Belege dafür, dass der Islam in der Türkei, trotz Atatürk, tief verwurzelt geblieben ist und daher nach wie vor als einInstrument dienen kann, um ein politisches Echo zu finden, das sich unter guten Voraussetzungen als dominierend erweisen kann. Niemand konnte dies übersehen, und ebenso deutlich war, dass die Armeeoffiziere als die letzte und wirksamste Barriere dienten, die mehrmals das Aufwallen von islamisch gefärbten politischen Tendenzen –wie immer diese Islam und Politik zu vereinen suchten –niederschlugen.

Diese Rolle war den Offizieren von Atatürk ausdrücklich anvertraut worden, und die Auswahl von Offizierskadetten sowie ihre Formation und Erziehung als Halbwüchsige in den Kadettenschulen wurden über sieben Jahrzehnte nach Atatürk, dermassen gehandhabt, dass sie eine nationalistische und „säkularistische“ Ausrichtung des Offiziersnachwuchses garantierten. Offiziersanwärter, die sich nicht in das gewünschte ideologische Schema einpassen liessen, wurden ausgeschieden.

Von oben her angeordneter Übergang

Eine Dynamik des Schwankens zwischen einem Volksbegehren nach „mehr Islam“ und einer elitären Einschränkung dieses Begehrens im Notfalldurch die Armee und im Normalfall durch die überwiegende Mehrzahl der Intellektuellen, die Bürokratie, das Rechtswesen, die Polizei und die Volksschule, wo sehr bewusst ein flächendeckender Atatürk-Kult betrieben wurde, war unverkennbar. Obwohl klar war, dass die „moderne Türkei“ unter Druck von oben zustande gekommen war und weiterhin unter – nach Möglichkeit sanfter gehandhabtem - Druck von oben – fortgeführt wurde, nahmen doch die Beobachter in der Türkeiselbst und noch mehr im europäischen Ausland sowie auch in den islamischen Nachbarstaaten weit überwiegend an, dass in der Türkei, dem Nato-Mitglied seit der Zeit von Menderes, der Übergang aus einem Land islamischer Zivilisation zu einem „modernen“ Nationalstaat, im wesentlichen europäischer Färbung, vollzogen sei.

Dieser Schluss drängte sich auf, weil die Sprecher der modernen Türkei und damit die Gesprächspartner ausländischer Beobachter weitüberwiegend aus Eliten bestanden, die tatsächlich von modernen, ursprünglich aus Europa stammenden, Vorstellungen und Idealen geprägt waren. Nur ganz selten begegnete man einem tiefblickenden Kenner des Landes, von dem zu vernehmen war, „der Islam ist hier so tiefverankert, dass ich nicht glaube, die Türken würden ihn je als entscheidenden Richtungsweiser ablegen“.

Und dann kam Erdogan und zeigte gerade diese fast allen Aussenstehenden als unwahrscheinlich oder unmöglich geltende „Re-Islamisierung“ als überaus erfolgreichen Weg zu seiner eigenen autoritären und absoluten Machtausübung auf.

Neue Gegenwart bringt eine neue Sicht der Vergangenheit

Das neue Buch von Inga Rogg zeigt, dass die neuen Gegebenheiten einer islamisch ausgerichteten Türkei unvermeidlich den Blick beeinflussen, den man aus der heutigen Warte auf die Gegenwartsgeschichte der Türkei und damit primär auf Atatürk und sein Erbe zurückwirft. Aus dem bisher als erfolgreich geltenden „modernen Nationalstaat“ pro-europäischer Ausrichtung ist plötzlich wieder eine, wie die Verfasserin sie bezeichnet und beschreibt, „unfertige Nation“ geworden.

Die neue Gegenwart wirft ein Licht zurück in die Vergangenheit, das dieser eine andere Färbung gibt als die bisher vorherrschende. Es war natürlich seit jeher bekannt, dass Atatürk seine Modernisierung des neuen Nationalstaates, den er gründete, mit brutalen Mitteln erzwang, wo immer ihm dies als notwendig galt. Wer sich weigerte, einen „zivilisierten“ Hut mit Krempe zu tragen, musste damit rechnen vor ein Sondertribunal gestellt zu werden, das Todesstrafen verhängte. Doch solche Härten galten als die notwendigen Mittel, die es ermöglichten, den neuen türkischen Nationalstaat zu gründen und auf den „fortschrittlichen Westen“ hin auszurichten, kleine Unschönheiten, die einem grossen Ziel dienten.

Wenn sich jedoch herausstellt, dass dieses grosse Ziel schlussendlich und trotz mehrmaligem Gewalteinsatzdurch die Armee drei Generationen lang angestrebt, aber zum Schluss nicht erreicht wurde, beginnen die Taten Atatürks in einem anderen Licht zu erscheinen. Die hässlicheren Aspekte werden sichtbarer, weil ihre Rechtfertigung durch den schlussendlichen grossen Erfolg verschwindet.

Kommandierte „Modernisierung“?

Das Buch von Inga Rogg erwähnt Dinge wie die brutale Verfolgung der aufständischen Kurden in den drei Kriegen, die Atatürk gegen sie führte; den Druck unter den die christlichen Minderheiten in der Türkei kamen, wenn nicht durch den Islam so doch durch den zur Weissglut angefachten türkischen Nationalismus, denn als wirkliche Türken wurden die Christen nicht angesehen. Die Massaker an den Assyrern und der Völkermord an den Armeniern aus der Vor-Atatürk-Zeit, die in der neuen Türkei unter den Teppich gekehrt wurden und dortgeblieben sind, bis auf den heutigen Tag. Die von Atatürk selbstmitgetragene „Sonnen Sprachtheorie“, nach der das türkische Wort für „Sonne“ (günesh) beweisen soll, dass Türkisch die Ursprache der Menschheit gewesen sei.

„Ich bin Türke“ tagtäglich

Der „Schuleid“ zu Beginn eines jeden Schultages landauf landab war obligatorisch von 1933 bis 2013, 80 Jahre lang. Inga Rogg zitiert den vollen Text, der jeden Morgen von einem Buben und einem Mädchen vor der obligatorischen Büste Atatürks in einem jeden Schulhof und vor den militärisch aufgereihten Schulkindern rezitiert werden musste, im Wortlaut. Er beginnt mit dem Bekenntnis : „Ich bin Türke, ich bin ehrlich und fleissig...“ der eigentliche Schwur besteht aus der Anrufung „Oh grosser Atatürk ! Ich schwöre den von dir geebneten Weg und das von dir gesteckte Ziel unentwegt weiterzuverfolgen. Mein Dasein soll ein Geschenk an die Existenz der türkischen Nation sein.“ Und er schliesst mit dem wohl berühmtesten Ausspruch Atatürks: „Wie glücklich, wer sagen kann: „Ich bin ein Türke!“

Die wirklichen Ziele der Schriftreform

Was die früher so sehr gepriesene Schriftreform angeht, so gilt sieder Verfasserin als einer der wichtigsten Schritte, die Atatürk unternahm. Doch sie glaubt nicht an die „Legende“, dass diese Reform der „eigentliche Grund für den Erfolg der türkischen Revolutionäre um Mustafa Kemal war.“ Die wirkliche Bedeutung der Einführung des lateinischen Alphabets an Stelle der arabisch-persischen Schrift, war, wie ein Zitat aus den Memoiren Ismet Inönüs, des engen Mitstreiters und Nachfolgers Atatürks, belegt: „Nicht die Erhöhung der Alphabetisierungsrate“, sondern: „für die neuen Generationen die Tür zur Vergangenheit zu schliessen, die Verbindungen mit der arabisch-islamischen Welt zu kappen und den Einfluss der Religion zu senken“.

Jedoch Erdogan und sein Erfolg haben dazu geführt, dass diese Zielsetzung ihr Ziel nicht erreichen konnte. Gerade diese Verbindung, die gekappt werden sollte, wird nun wieder angestrebt.

Erdogans Weg durch das Bildungswesen

Inga Rogg schildert ausführlich und präzise, wie Erdogan und die Seinen den Weg über das Erziehungswesen einschlugen, um Schritt für Schritt, die sie alle aufzählt, den Weg Atatürks zurückzuschreiten von der Aufhebung des Kopftuchverbots bis zur Vermehrung und Privilegierung der religiösen Predigerschulen und der Zulassung von privaten Universitäten, die den Weg für das Einfliessen der religiösen Kräfte weit öffnete.

Erst nach dem Wahlsieg von 2011, neun Jahre nach seinem Aufstieg zur Macht, spricht Erdogan seine Pläne offen aus. „Wir wollen eine religiöse Jugend heranziehen“ sagt er nun. „Erwartet ihr, dass die konservativ-demokratische AKP eine atheistische Generation heranzieht? Das mag euer Auftrag, eure Mission sein, aber es ist nicht unsere.“2017 verkündet er Tausenden von Schülern: „2053 ist euer Jahr“. Das ist das 600. Jahr nach der Eroberung Konstantinopels. Bis dahinplant Erdogan an der Macht zu bleiben und seine Neo-Osmanischen Plänevoll zu verwirklichen.

Neuausrichtung des Bildungswesens

Die Umwälzung des Erziehungswesens beschreibt Inga Rogg im Detail, wie man es nirgends sonst dargestellt findet. Sie schliesst ab mit der Erwähnung der im Mai 2017 gegründeten Ibn Khaldun Universität. Ihre Trägerin ist die Jugendstiftung der AKP, welcher der Sohn Erdogans, Bilal, vorsteht. Katar finanziert diese neueste Privatuniversität. Ihr Ziel sei „intellektuelle Unabhängigkeit zu erlangen. Länder, die vom Westen unterdrückt und ausgebeutet werden, in die geistige Unabhängigkeit zu führen“, wie ihr neuer Rektor es formuliert. Die Universität, sagt er, werde statt Theorien zu importieren, ihre eigenen „türkischen Ideen“ entwickeln und exportieren.

Inga Rogg fasst zusammen: „Die Folgen der islamistischen Bildungspolitik wird man in ihrer vollen Tragweite erst in zehn oder zwanzig Jahren erkennen. Doch dann ist es zu spät.“

Einblicke in alle Aspekte das gegenwärtige Ringens

Das Buch gibt Auskunft über vieles mehr. In ruhig formulierten, ausführlichen Informationen erfährt man Details über die Laufbahn Erdogans selbst und die seines einstigen Bundesgenossen und heutigen Erzfeindes, Fethullah Gülen, des „weinenden Predigers“, sowie die Funktionsweise seiner einst mächtigen, heute verfolgten Organisation. Die Verfasserin schildert den Entscheidungskampf Erdogans –unterstützt von Gülen – gegen die Macht der Offiziere und deren Entmachtung durch nach dem Staatsstreich-Versuch von 2016 als ungültig erklärte Monsterprozesse, sowie die Ausnützung dieses Staatsstreich-Versuchs durch Erdogan, um gegen alle Feinde der AKP vorzugehen und durch den seither immer erneuerten Ausnahmezustand die Macht des Staatschefs noch weiter zu zementieren.

Der Kurdenkrieg und der fehlgeschlagene Versuch einer Aussöhnung, gefolgt von Erneuerung dieses Krieges, wird dargestellt, auch der Fehlschlag der Syrienpolitik der Türkei und des Versuches einer neuen Aussenpolitik, die der nun wieder abgesetzte Aussenminister und dann Ministerpräsident, Ahmet Davutoglu, erfunden hatte. Dieser Umbau sah vor: eine Türkei nicht mehr als Randstein Europas im Nahen Osten sondern als Zentrum der Staaten der islamischen Welt. Auch der Palastkommt zur Sprache, den sich Erdogan in Ankara errichten liess, 1150Zimmer, von denen 250 dem Privatbereich der Präsidentenfamilie dienen sollen. Was das gekostet hat, bleibt Staatsgeheimnis.

Die Vielfalt der Themen reicht bis hin zu den Fernsehfilmen über die spannenden Abenteuer in der islamischen und der türkischen grossen Vergangenheit, die beim türkischen Volk, das im Durchschnitt pro Tag 5.3 Stunden lang fernsehen soll, soviel Beifall finden. Der Einblick erstreckt sich konzis gefasst aber vollständig über die ganze Dynamik der jüngeren und der jüngsten Zeit.

Unterwegs zu einem neuen Absolutismus

Noch hängen die Bilder Atatürks an der Wand, wenn Erdogan eine Volksrede hält. Auf dem riesigen Grabmonument des „Vaters der Türken“ in Ankara steht nach wie vor eine militärische Ehrenwache in Galauniform. Noch hat beinahe die Hälfte der Türken im Verfassungsreferendum vom April 2017 gegen die Pläne für praktisch uneingeschränkte Machtausübung durch Präsident Erdogan gestimmt.

Doch das Bild Atatürks hat sich subtil verändert. Plötzlich sieht es so aus, als sei er nicht der Gründer einer selbstbewussten nationalen neuen Türkei gewesen, sondern vielmehr der Beweger seiner Nation in eine bestimmte Richtung, die ihm als die einzig richtige und erfolgversprechende galt, gegen welche jedoch seine „unfertige Nation“ nach ihm wieder zurückkrebste, zuerst ohne Erfolg unter Erdogans pro-islamischen Vorläufern, jedoch seit 2002 mit bisher unüberwindlichem Erfolg unter ihm.

*Inga Rogg: Türkei, die unfertige Nation, Erdogans Traum vomOsmanischen Reich. Orell Füssli Verlag , Zürich 2017

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p.s. zum Dada-Jubiläum

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Er ist ja schon ein rechter Tausendsassa, der Peter Konrad Wehrli, besser bekannt unter dem Kürzel «PKW». Faszinierend, wie er seit nunmehr rund 50 Jahren die Welt katalogisiert, und damit irgendwie auch analysiert.

Peter K. Wehrli. Der Autor und Dada-Kenner katalogisiert die Welt.
Peter K. Wehrli. Der Autor und Dada-Kenner katalogisiert die Welt.

Vor ziemlich genau zwei Jahren hatten wir uns getroffen, weil die noble Berkeley University den «Katalog von allem» auf Englisch herausgegeben hatte. Jetzt sitzen wir am gleich Ort wie damals zusammen, im Saal des Dada-Hauses in der Zürcher Altstadt.

Der Katalog auf Portugiesisch – in Moçambique

Es ist Nachmittag, alles leer, nur wir zwei am kargen Holztisch. Die plimplam-Allerweltsmusik haben wir abstellen lassen, ausser uns würde sie sowieso niemand hören, denn wir sind allein. Dritter im Bunde ist gewissermassen der «Catálogo de Tudo». Oder besser gesagt: der kleine Bruder des «Catálogo». Und noch besser, beziehungsweise genauer gesagt, ist es ein Supplément, ein kleiner zusätzlicher Band. Auch wenn man der Sprache, in der das Büchlein vorliegt, nicht mächtig ist, versteht man schnell, um was es geht: Dada. Also logisch, dass wir im Dada-Haus sitzen…. Nun muss man wissen, dass dieses Werk zwar auf Portugiesisch vorliegt, aber ein Afrikaner ist und aus Moçambique stammt.  Vorne steht drauf: «O quadrado e os cinco temas». Und dies wiederum heisst: «Das Quadrat und seine fünf Themen», was sich auf das Format des Büchleins bezieht, das schön quadratisch vor uns liegt. Auf Portugiesisch.

«Ach, das ist meine Lieblingssprache», schwärmt PKW. «Reine Musik! Also vor allem das Portugiesisch, das in Brasilien gesprochen wird, das ist so vollmundig vokal…». Und dann zitiert er, oder besser gesagt: singt er fast die Vokale, a, ä, aei… und genau dieses vokal vollmundige Portugiesisch wird auch in Moçambique gesprochen.

Kein Wunder also, dass PKW mit grosser Begeisterung vor einiger Zeit ein Inserat in der Zeitung fand, das auf ein Gastspiel der moçambiquanischen  Theatergruppe «Mutumbelo Gogo» im Zürcher Theater Rigiblick hinwies. «Mutumbelo Gogo» spielte das Drama einer Gruppe von Rückkehrern aus der DDR, die – dank «sozialistischer Bruderhilfe» - vollgestopft von deutscher Literatur „Schillers Räuber“ in Maputo aufführen wollen. Und dieses Drama hatte der moçambiquanische Autor Mia Couto für «Mutumbela Gogo» geschrieben. Das war ganz nach PKWs Geschmack!

Vollgestopft mit deutscher Literatur

Es mag exotisch, oder fast schon dadaistisch scheinen, dass die Truppe aus Moçambique sich mit Friedrich Schiller beschäftigt. Es hat aber durchaus eine tiefere Bedeutung. Moçambique war früher eine sozialistische Volksrepublik und folglich der ehemaligen DDR freundschaftlich verbunden und viele Moçambiquaner wurden in der DDR ausgebildet und «mit deutscher Literatur vollgestopft», wie PKW betont.

«Ich selbst hatte vor mehr als zehn Jahren im deutschen Kulturinstitut in Maputo auch eine Lesung», erzählt er, «und in den Strassen wurde das auf den Plakaten auf Deutsch angekündigt. Da dachte ich, es kommt eh’ niemand. Aber das Saal war voll, alles Afrikaner und alle konnten Deutsch. Es waren Heimkehrer aus der DDR». Und einige dieser Heimkehrer wollten das, was sie an deutscher Sprache und Kultur gelernt haben, auch weiterhin pflegen und gründeten eine Theatertruppe.

Der moçambiquanische Autor Mia Couto hat der Truppe ein Stück geschrieben, eine Umsetzung der Erlebnisse in der DDR.  Eine Art Selbstreflexion zwischen DDR und Moçambique.

Dada-Seminar in Maputo

PKW war begeistert und beim anschliessenden Umtrunk mit der Truppe im Theater Rigiblick kam man schnell miteinander ins Gespräch. Klar, dass auch der «Catálogo Brasilieiro» ein Thema war. Die Folge: eine Einladung nach Maputo, wo PKW unter anderem an der Kunsthochschule einen Kurs über Dada abhielt. «Ich, der ich die leibhaftigen Dadaisten damals in Zürich noch persönlich kannte, habe dann ein Lautgedicht von Hugo Ball zitiert. Da haben mich alle im Saal angestarrt und ich hatte keine Ahnung, was los war. Ich habe dann erfahren, dass Hugo Ball den Satz möglicherweise aus afrikanischer Lyrik abgeschrieben hat. Das hat mich sehr beschäftigt, dass es sich offenbar um einen afrikanischen Zauberspruch handeln musste...»

Das Staunen war jedenfalls ganz auf PKWs Seite, während die afrikanischen Studenten weit weniger staunten und Dada gar nicht so absurd fanden, weil ihnen der Spruch vertraut war. «Es war eine kompakte Woche», sagt PKW im Nachhinein. Und es dauerte eine Weile, bis er seine Eindrücke, Erfahrungen, Gedanken und Gefühle in diesem schmalen Band zusammenfasste.

«Die Dadaisten waren Pazifisten», sagt PKW und zitiert Hugo Ball: «Dada kämpft gegen die Überschätzung jener Vernunft, die Krieg und Zerstörung als logische Begleiterscheinung des menschlichen Lebens zu legitimieren versucht». Allerdings, so PKW, hätten die Menschen in Moçambique durch den Kampf gegen die Portugiesen ein ganz anderes Verhältnis zu Krieg und Zerstörung als die Dadaisten.

Überall ist alles anders

«em todo lugar tudo é diferente» steht auf dem Titel des Büchleins. Auf Deutsch: «Überall ist alles anders». Ein Lieblingsausspruch PKWs. Vielleicht sein Leitmotto, das seine Neugierde an allem über die Jahre wachhielt und seine Aufmerksamkeit schärfte. Und noch etwas steht auf der Titelseite: «Tudo é uma reacção a Dada» also: «Alles ist eine Reaktion auf Dada». Und dies wiederum war die Antwort von Hans Arp auf einen Ausspruch von Dada-Mitbegründer Tristan Tzaras, der einst ausrief: "Alles ist Dada!"

Für PKW ist das Büchlein ein p.s., eine Art Postscriptum zum Dada-Jubiläum.

Nebenher schreibt er weiter an seinem Lebenswerk, dem «Katalog von allem». Immer wieder kommen neue Katalogeintragungen hinzu. 2'028 sind es bis jetzt und man darf vermuten, dass PKW gar nicht durch die Welt gehen kann, ohne seine Beobachtungen sofort in knappen und träfen Worten zu katalogisieren. «Stimmt nicht», wehrt er sofort ab. «ich kann sehr wohl unterwegs sein, ohne zu katalogisieren. Manchmal muss ich mir sogar einen Schupf geben. Ein Zwang ist das Katalogisieren nicht. Eher Wahrnehmungslust».

Und hier noch die entsprechenden Einträge im «Katalog von allem»

1951) die Ungeheuerlichkeit

Die Frage „Was ist Dada ?“, deren Beantwortung sich Tristan Tzara damals allzu leicht gemacht hatte, als er beiläufig  erwiderte: „Alles ist Dada!“, und meine Erschütterung ob Hans Arps Antwort auf dieselbe Frage, die ich ihn am 22. November 1965 in Locarno Hans Richter geben hörte: „Alles ist eine Reaktion auf Dada!“….

1951 a)        …und diese Erschütterung, die gleichzeitig Erleichterung war, weil Arp damit dem Dadaismus die kühne Ungeheuerlichkeit zurückgegeben hat, die ihm triefnasige Kunsttheoretiker während Jahrzehnten ausgetrieben hatten, und die Wirkungen gefeiert hat, deren Ursache Dada war – und immer noch ist.

1485)  der Dadaismus

Die Musikalität der Lautfolge, auf die ich die Studenten der ENAV in Maputo aufmerksam machte, als ich sie im Seminar über den Dadaismus Hugo Balls Lautgedicht „Die Karawane“ hören liess, die reine Sprachmusik, die keinerlei Bedeutung ergäbe…..

1485 a)        

…und meine elementare Verunsicherung darüber, dass ich die Studenten bei der Gedichtzeile „wulubu ssubudu uluw ssubudu“ derart beunruhigt und verstohlen heftig reagieren sah, als enthielte diese – mit „u“ als einzigem Vokal gebildete – Zeile eine geheime Botschaft, die nur Afrikaner zu entschlüsseln vermögen.

 Peter K. Wehrli, «O quadrado e os cinco temas», Verlag Ciedima, Maputo, Moçambique

https://www.journal21.ch/pkws-katalogisierte-welt

 

 

 

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Der Populismus braucht Feindbilder

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Es begann Anfang der Siebzigerjahre. Der Berner Professor Walther Hofer kämpfte mit seiner „Radio- und Fernsehvereinigung“ gegen linke Tendenzen in der SRG. Sein Kampf sei erfolgreich gewesen, sagte Hofer gegen den Schluss seines Lebens.

Diese Ansicht teilen viele seiner Nachfolger ganz und gar nicht. Noch immer pflegen rechtspopulistische Kreise, vor allem die SVP, das Bild vom „linken Fernsehen“.

Die SRG versucht euch „eine linke Gesinnung einzuimpfen“, sagte SVP-Nationalrat Roger Köppel im Januar an der SVP-Delegiertenversammlung in Confignon bei Genf. Und weiter: „Dafür bezahlen Sie auch noch.“ Seit Jahren führen die Rechtspopulisten einen Kampf gegen das Fernsehen. Fordert man sie auf, konkrete Belege vorzulegen, schweigen sie.

Populisten inszenieren sich seit jeher gern als Opfer der Machthaber und der dominierenden Medien, vor allem des Fernsehens.

Man schürt Ängste und Unbehagen vor dem „Koloss Fernsehen“, dieser riesigen, unheimlichen, bedrohlichen, fast kafkaesken Anstalt. Dort, hinter den Mauern am Leutschenbach, kennt man die Kniffs und Tricks, wie man das Volk manipuliert und hinters Licht führt.

Die Populisten leben davon, dass sie Feindbilder züchten. Sie geben sich als Märtyrer, die für das Volk kämpfen. „Wir wollen nicht länger Opfer sein. Wie Winkelriede werfen wir uns in die Lanzen der linken Meinungsmacher.“ Nichts macht soviel Energie frei, wie der Kampf gegen einen Feind. Und nichts einigt so sehr, wie die Wut auf einen gemeinsamen Gegner. Ist kein Feind vorhanden, muss man einen erfinden. Und vor allem: Man muss die Empörung gegen den angeblichen Feind stets bewirtschaften.

Die Taktik funktioniert, nicht nur in der Schweiz. Auch bei Linkspopulisten. Dort sind die Kapitalisten, die Ausbeuter die Zielscheibe.

Doch die Rechtspopulisten pflegen die Feindbild-Kreuzzüge raffinierter und professioneller und hatten damit lange Zeit Erfolg. Sie hatten schon früh das Potential entdeckt, mit Stimmungsmache gegen die Medien Kapital zu schlagen. Das „mächtige“ Fernsehen bot sich als Geschenk des Himmels an.

Die No-Billag-Initiative einiger postpubertären Traumtänzer war da ein Steilpass. Als einzige Partei unterstützt die SVP die Vorlage und hofft politisches Kapital daraus zu schlagen. Wieder gibt man sich als Märtyrer, die als einzige gegen den „Moloch SRG“ kämpfen. Jahrelang funktionierte die Märtyrer-Taktik.

Doch jetzt geschieht Erstaunliches. Die zweite SRG-Umfrage zu den Stimmabsichten zeigt, dass die Gegner der Initiative weiter zulegen. Jetzt würden 65 Prozent der Stimmenden Nein sagen.

Das Interessanteste jedoch ist: Auch SVP-Sympathisanten sind immer weniger für die Initiative. Die Umfrage zeigt, dass nur noch eine 56 Prozent der SVP-Wähler die Initiative unterstützt. Das sind 10 Prozent weniger als ein Monat zuvor. „Bestimmt dafür“ sind nur noch 31 Prozent der SVP-Wähler. Für Roger Köppel und Co. sind solche Zahlen eine Klatsche ins Gesicht. Er, der immer behauptet, die andern würden am Volk vorbeipolitisieren, politisiert offenbar sogar an der eigenen Klientele vorbei.

Der Stimmungsumschwung sei angesichts der riesigen Kampagne der SRG-Befürworter nicht erstaunlich, wird die SVP sagen. Ein Delegierter an der SVP-Versammlung in Confignon sprach gar von einer „Psychoterrorkampagne“ der SRG-Befürworter. Wieder einmal geben sich die Parteioberen als Opfer. „Alle sind gegen uns.“ Ja, sogar die Mehrheit der eigenen Mitglieder.

Bedeutet das alles, dass der Kampf gegen das „linke Fernsehen“ nichts mehr einträgt? Ist die Mär von den „linken Meinungsmachern am Leutschenbach“ langsam ausgelutscht?

Die SVP tut gut daran, sich ein neues Feindbild aufzubauen.

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Pro-syrische Truppen kommen den Kurden zu Hilfe

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Die Kurden von Afrin werden seit dem 20. Januar von pro-türkischen Milizen und türkischen Militärs angegriffen. Die türkische Aktion wurde „Olivenzweig“ genannt, und sie soll nach den Aussagen aus Ankara dazu dienen, die YPG-Milizen aus Afrin zu vertreiben oder sie zu „eliminieren“.

Eingestuft als Zweig der PKK

Die türkischen Behörden fürchten und hassen diese Milizen. Sie werfen ihnen vor, sie seien nichts anderes als „Terroristen“, die mit der PKK gleichzusetzen seien. Die PKK steht ihrerseits im Aufstand gegen Ankara und führt einen Kleinkrieg in den kurdischen Gebieten der Türkei und an deren Grenzen seit 1984. Dieser Daueraufstand und Guerillakrieg hat Zehntausende wenn nicht Hunderttausende von
Menschenleben gekostet und Teile der Kurdengebiete entvölkert. Er wurde mehrmals durch Waffenstillstände und Versöhnungsversuche unterbrochen, ist jedoch stets wieder aufgeflammt.

Die Türkei fürchtet, dass sich die Kurden, welche die nördlichen Teile von Syrien bewohnen und dort im Verlauf des syrischen Bürgerkrieges ihre Herrschaft de facto etablieren konnten, in den Grenzprovinzen und damit der langen syrisch-türkischen Grenze entlang ihre eigenen Herrschaftsgebiete einrichten könnten und dass sie dann für die Türkei zu einer Dauerbedrohung würden.

Auf der türkischen Seite der Grenze leben ebenfalls Kurden, und in der
Tat wäre es wahrscheinlich, dass unabhängige oder autonome Kurdengebiete in Nordsyrien die türkischen Kurden dazu animieren könnten, ihrerseits ebenfalls – noch nachdrücklicher als bisher – Autonomie oder Unabhängigkeit von der Türkei zu fordern.

Gewinner im blutigen Kampf gegen den IS

Die syrischen Kurdenkämpfer der YPG (Volksverteidigungseinheiten)
haben die heute von ihnen beherrschten Grenzprovinzen Syriens dadurch unter ihre Herrschaft gebracht, dass sie gegen den IS kämpften, der diese Gebiete im Jahr 2013 weitgehend besetzt hatte. Das Ringen um die Stadt Kobane in der zweiten Hälfte des Jahres 2014 hatte den Höhepunkt dieser Kämpfe gebildet. Damals hatten sich die Amerikaner unter Obama dazu entschlossen, den Kurden von Kobane mit den Kriegsflugzeugen ihrer Allianz gegen den IS zu Hilfe zu kommen. Die Stadt und ihre Umgebung wurden im Januar 2015 befreit und der IS erlitt in Kobane seine erste Niederlage, nachdem er sich zuvor im Irak und in Syrien weit hatte ausdehnen können.

Seither besteht Zusammenarbeit zwischen den Amerikanern mit ihrer
Luftwaffenkoalition und den YPG-Kämpfern. Die Kurden dienten den
Amerikanern als Truppen zu Lande, während diese den Krieg primär aus der Luft führten. Dieser Zusammenarbeit gelang es im Jahr 2017 Euphrat abwärts bis nach Rakka vorzustossen, was damals die offizielle Hauptstadt des IS war, diese Stadt nach einer längeren Belagerung einzunehmen und dann Euphrat-abwärts vorzudringen, bis sie die irakische Grenze erreichten.

Da es sich in Rakka und weiter südlich um von Arabern, nicht von Kurden, bewohnte Gebiete handelt, hatten die YPG Kämpfer – zweifellos auf amerikanisches Anraten hin – arabische Freiwillige, oftmals aus den lokalen Stämmen, zu ihren eigenen Truppen
hinzugezogen. Die neuen Formationen wurden Demokratische Syrische
Kräfte genannt (DSF, manchmal auch DSA, A für Armee). Sie standen
stets unter kurdischer Oberführung, doch ihre arabischen Einheiten
dienten dazu zu vermeiden, dass die arabische Bevölkerung südlich der
Kurdengebiete sich als durch die Kurden „besetzt und erobert“
empfinde.

Die USA wollen vorläufig in Syrien zu bleiben

Im Verlauf dieser Kämpfe um Rakka und darüber hinaus hatte die Zahl
der amerikanischen Sondertruppen und militärischen Fachleute sowie der Verbindungsoffiziere, die auch am Boden mit den DSF zusammenarbeiten, zugenommen. Man spricht heute von einer Präsenz von 2000 Mann amerikanischer Bodentruppen. Nach dem Sieg über Rakka und in den Gebieten südlich davon hatten die Amerikaner erklärt, ihre Mannschaften und die mit ihnen zusammenarbeitenden DSF Truppen würden vorläufig in den von ihnen eingenommenen Gebieten verbleiben, um sicherzustellen, dass der IS sich dort nicht neu organisiere und wieder erhebe.

Im Grenzgebiet zwischen dem Irak und Syrien und in den dort liegenden weiten Wüstengebieten halten sich in der Tat nach wie
vor Teile der IS-Kämpfer. Doch sowohl die Russen wie die Behörden von Damaskus haben mehrmals erklärt, die Präsenz der Amerikaner auf syrischem Boden sei „illegal“, und die Amerikaner müssten abziehen.

Dauerproteste aus Ankara

Was die Türken angeht, so hat Ankara während Jahren wiederholt gegen die Zusammenarbeit von Amerikanern und syrischen Kurden der YPG protestiert. Waffenlieferungen und Finanzunterstützung, die von den Amerikanern an die Kurden gingen, haben Ankara besonders erbost. In türkischen Augen helfen die Amerikaner damit „Terroristen“ , die vorhaben, früher oder später das Nato Land, die Türkei, anzugreifen. Die Amerikaner, so urteilen sie, arbeiteten mit diesen „Terroristen“ gegen ihren Nato-Verbündeten, die Türkei, zusammen.

Türkischer Korridor zwischen den Provinzen Kobane und Afrin

Im August 2016 gingen die Türken zu einem ersten Schritt zur
Selbsthilfe über. Sie besetzten mit von ihnen gesteuerten syrischen
Milizen aus den Reihen der SFA (Syrische Freie Armee), die durch
türkische Truppen verstärkt und unterstützt wurden, einen rund 90 km
breiten Korridor syrischen Gebietes, der zwischen den kurdisch
beherrschten „Kantonen“ Kobane und Afar liegt.

Diese Gebiete befanden sich teilweise in der Hand von syrischen Truppen, aber zu grösseren Teilen noch im Besitz des IS. Deshalb konnten die Türken erklären, sie gingen gegen die „Terroristen“ sowohl des IS wie auch der YPG vor. Dennoch protestierte Damaskus gegen die „türkische Invasion“ syrischen Territoriums.

Membij verbleibt den DSF und den Amerikanern

Die Russen, die über den Luftraum jener Gebiete wie über den ganzen
syrischen Luftraum praktisch die Oberhoheit besitzen, blieben damals
still. Die Türken konnten den Korridor zwischen Kobane und Afrin
weitgehend in Besitz nehmen. Womit sie der Möglichkeit eines
Zusammenschlusses der beiden kurdischen Kantone zuvorkamen.

Doch im Raum von Provinz und Stadt Membij, auf der Ostseite des Korridors und westlich des Euphrats, stiessen sie auf Widerstand durch die Truppen der DSF und der mit ihnen zusammenarbeitenden Amerikaner. Es kam damals zu einigen Schusswechseln, aber, soweit man weiss, nicht zu Verlusten zwischen Amerikanern und pro-türkischen Milizen. Amerikanische Truppen patroullierten an den Fronten zwischen DSF und pro-türkischen Milizen, und schliesslich wurde ein Kompromiss ausgearbeitet.

Die Stadt Membij verblieb in pro-amerikanischen Händen. Doch sie erhielt ein eigenes Stadtregiment aus lokalen Einheimischen. Und nach türkischen Aussagen versprachen die Amerikaner, die kurdischen Truppen würden Membij verlassen und sich auf die östliche Seite des Euphrats zurückziehen. Doch, so die Türken, dies sei nicht wirklich geschehen, die kurdischen Kämpfer hätten nach wie vor das Sagen in der Stadt Membij. Jedenfalls musste Ankara darauf verzichten, Membij und ihr Umfeld zu besetzen, obgleich Erdogan selbst zuvor öffentlich erklärt hatte, dass er dies vorhabe. Die damalige Aktion, die „Euphrat Schild“ getauft worden war, wurde in Ankara als beendet erklärt und als Sieg gefeiert.

Ein explosiver „Olivenzweig“ für Afrin

Am vergangenen 20. Januar begann Ankara eine zweite Aktion auf
syrischem Gebiet gegen die syrischen Kurden, indem die Türkei
erklärte, sie gedenke Afrin zu besetzen und die YPG-„Terroristen“ von
dort zu vertreiben. Afrin ist der dritte und westlichste „Kurdenkanton“ an der türkischen Grenze. Er ist durch den von der Türkei in Besitz genommenen Korridor von den beiden grösseren östlichen Kurdengebieten, Kobane und Hassake, abgeschnitten und isoliert.

Auslöser der neuen türkischen Aktion, die „Olivenzweig“
getauft wurde, war eine Erklärung durch einen der in Syrien
eingesetzten hohen amerikanischen Offiziere, nach welcher die
Amerikaner gedächten, 30’000 Mann aus den DSF in eine Grenztruppe zu verwandeln, der die Aufgabe der Sicherung der kurdischen Grenzen
zufallen werde. Diese Erklärungen wurden später durch Aussenminister
Tillerson in Ankara dementiert, indem er seinen dortigen Gesprächspartnern erklärte, es seien „verfehlte Aussagen“ gemacht
worden. Er gebrauchte den Ausdruck „mis-spoken“. Doch die Türken
glaubten ihm nicht.

Hifstruppen an Stelle der regulären Armeen

Wie im Fall der Aktion „Euphrat Schild“ suchte die Türkei auch in
Afrin in erster Linie SDF-Kräfte einzusetzen, die unter türkischer
Leitung standen. Artillerie und Tanks der regulären türkischen Armee
kamen ihnen wo nötig zu Hilfe. Doch die türkische Aktion in Afrin kam
langsamer voran, als die sie begleitende türkische Propaganda erwarten liess. Einen Monat nach begonnener Invasion standen die Türken und ihre Hilfstruppen noch immer in Grenzbereichen, ohne bis zur Stadt Afrin im Inneren des Kantons vorgedrungen zu sein, obgleich Erdogan selbst von der unmittelbar bevorstehenden Belagerung der Stadt redete.

Die Verlustzahlen allerdings, soweit sie bekannt wurden, gaben fast
gleich viele Verluste an Menschenleben für die verteidigenden Kurden wie für die angreifenden pro-türkischen und türkischen Soldaten. Das
Observatorium für Menschenrechte in Syrien, das in London ansässig
ist, zählte 250 Todesopfer unter den SFA-Kämpfern und 219 unter den
YPG-Verteidigern. Dazu kommen 102 Zivilisten aus Afrin. Ankara gab die Zahl von 32 Toten unter den eigenen Truppen. Die Türkei war mindestens zeitweise in der Lage, ihre Kriegsflugzeuge über Afrin einzusetzen. Zeitweise wurden jedoch die Flüge eingestellt. Es blieb unklar, ob dies der Fall war, weil die Russen den Türken die Flüge „verboten“, wie manche Quellen wissen wollten, oder einfach wegen Wetterbedingungen.

Die Russen hatten eigene Soldaten in den Grenzbereichen von Afrin
stehen. Sie befanden sich dort im Rahmen der De-Eskalationsverträge,
die in Astana ausgearbeitet worden waren. Doch als die türkische
Invasion begann, zogen die Russen ihre Soldaten ab. Dies kam einer
Erlaubnis für die Türkei gleich, das Vorgehen gegen Afrin zu beginnen.

Damaskus beansprucht die Hoheit über ganz Syrien

Was Damaskus angeht, so erklärten die syrischen Behörden sofort, die
Invasion syrischen Bodens durch türkische Truppen sei „illegal“. Und
die syrische Kriegspropaganda drohte, die syrische Luftwaffe werde die
türkische „abschiessen“, falls diese in Afrin eingreifen sollte. Kurz darauf riefen die kurdischen Sprecher der YPG in Afrin Damaskus dazu
auf, seine Verpflichtungen als syrische Regierung wahrzunehmen und die internationale Grenze zwischen Syrien und der Türkei abzusichern und gegen die türkische Invasion zu verteidigen.

Offiziell fordern die syrischen Kurden nicht Unabhängigkeit von Syrien, sondern nur Autonomie, und damit würden sie nach wie vor als Teile des syrischen Staates gelten. Die syrischen Kurden hatten es auch immer vermieden, in offene Rebellion gegen Damaskus einzutreten. Ihre Kämpfe hatten sich gegen den IS abgespielt – Terroristen und Rebellen auch in syrischen Augen.

Rebellen sind für Damaskus auch die syrischen Milizen, welche die Türkei im Kampf um Afrin vorschiebt. Zunächst schwieg Damaskus zu den Forderungen der Kurden von Afrin. Offenbar fanden im Hintergrund geheime Verhandlungen statt. Öffentlich erklärten YPG-Sprecher in Afrin, das Kurdengebiet sei bereit, weiter zu Syrien zu gehören. Jedoch natürlich unter bestimmten Bedingungen, die den dortigen Kurden Autonomie garantierten. „Autonomie“ ist ein sehr offener Begriff, er bezeichnet Selbstverwaltung, lässt aber unbestimmt, welche Teile des öffentlichen Lebens dieser Selbstverwaltung unterstellt werden sollen.

Pro-syrische Hilfstruppen erreichen Afrin

Am vergangenen Dienstag erklärte Damaskus, syrische Truppen würden demnächst Afrin erreichen. Kurz darauf gab Ankara bekannt, die türkischen oder pro-türkischen Truppen hätten syrische Hilfstruppen
beschossen, die nach Afrin hätten vordringen wollen, und sie zur Umkehr gezwungen. Dies war von türkischen Drohungen begleitet, nach denen Syrien für sein Vordringen Strafe erleiden werde. Doch am Mittwoch wurde bekannt, dass offenbar syrische Hilfstruppen doch in Afrin Stadt angekommen sind. Das Hizbullah-Fernsehen in Libanon zeigte Bilder davon.

Es scheint sich allerdings nicht um reguläre Armeeangehörige zu
handeln, sondern eher um die Hilfstruppen der syrischen NDF (Nationalen Verteidigungskräfte), die zusammen mit den syrischen Regulären zu kämpfen pflegen. Eine ihrer Brigaden, die Baqer Brigade, die aus Schiiten zusammengesetzt sein soll, erklärte auf Facebook, sie stehe im Kampf bei Afrin. Ob es nun wirklich zu Zusammenstössen zwischen ihnen und den türkischen Truppen oder den pro-türkischen Milizen kommt, bleibt abzuwarten. Erdogan hat in einer seiner Reden erklärt,die Syrer würden ihren Eingriff „teuer bezahlen“.

Den Russen wahrscheinlich willkommen

Wie immer sind die Russen die stärkste Macht, die im Spiel steht. Man
kann annehmen, dass ihnen die Handlung Asads in Afrin nicht ungelegen kommt. Sie erschwert es den Türken, ihre Ziele zu erreichen, sogar wenn sie es ihnen nicht gänzlich unmöglich macht. Sie verspricht auch, die Macht Asads in dem Kurdengebiet ganz oder teilweise wieder herzustellen. Und Asad ist und bleibt der Schützling Moskaus.

Über eine mögliche Autonomielösung für das syrische Kurdenproblem haben die Russen mehrmals „laut nachgedacht“. Sie läge in ihrem Interesse, weil sie verspräche, den Krieg wenigstens in diesem Teilasektor zu beenden. Russland sucht offensichtlich ein Ende des Konfliktes herbeizuführen, natürlich unter Bewahrung seiner Gewinne in Syrien.

Falls eine Kompromisslösung zwischen den Kurden und Damaskus zustandekäme, wäre dies auch ein Vorteil für Russland, weil die
kurdisch-amerikanische Achse dadurch für die Kurden unnötig würde und weil dann die Amerikaner ohne die kurdischen Kämpfer praktisch ohne Fusstruppen auf syrischem Boden stünden.

Die Amerikaner zwischen Kurden und Türken

Die Afrin-Kämpfe sind für die Amerikaner schon gegenwärtig eine
politische Belastung. Sie möchten einerseits nicht völlig brechen mit den Türken, brauchen aber andrerseits die YPG-Kämpfer, wenn sie in Syrien verbleiben wollen. Sie versuchten sich aus der Zwickmühle zu befreien, indem sie erklärten, sie arbeiteten bloss mit der YPG östlich des Euphrats zusammen, mit den Kurden von Afrin, westlich des Euphrats, hätten sie „nichts zu tun“. Doch diese Ausflucht dürfte
weder den Türken noch den Kurden genügen. Die Türken fordern ein Ende der amerikanischen Unterstützung aller syrischen Kurden, und die YPG-Kämpfer sind natürlich der Ansicht, dass alle ihre Kämpfer entweder Bundesgenossen der Amerikaner sind oder keine.

Ein kleiner Lichtblick liegt für Washington in der neuen Entwicklung
in Afrin: die syrische Präsenz dort dürfte bewirken, dass der türkische Vorstoss noch weiter verlangsamt wird, wenn nicht völlig gestoppt. Bevor sie Afrin eingenommen haben, werden die Türken jedoch schwerlich zum Angriff auf Membij übergehen, den Erdogan als das nächste türkische Ziel schon zu Beginn seiner „Oliven-Zweig“-Offensive angekündigt hatte.

Membij jedoch droht ein heisses Gelände zu werden, weil dort neben den YPG-Leuten der DSF auch amerikanische Truppen stationiert sind. Die Gefahr würde sich abzeichnen, dass sie direkt mit türkischen oder mit pro-türkischen Kämpfern zusammenstiessen.

Ruchlose syrische Bombardierungen in der Ghuta

Gleichzeitig mit dem Vorstoss ihrer Hilfstruppen nach Afrin hat die
syrische Armee in den letzten Tagen ihre Bombardierungen und
den Artilleriebeschuss der Widerstandsenklave von Ost-Ghuta noch einmal verschärft. Der Bombenhagel und die Beschiessung sollen pausenlos andauern seit den letzten 30 Stunden. Die dortigen Zivilisten
erklären, sie hätten sich mit ihrem bevorstehenden Tod abgefunden,
denn es gebe keine Zuflucht vor den Bomben. Sie sagen, zum ersten mal würden nun auch die berüchtigten Fassbomben aus syrischen Helikoptern gegen sie eingesetzt.

„Wir haben nichts mehr“, sagte ein Arzt, Dr. Bassam, über sein Telephon, „weder Luftschutzkeller, noch Brot, noch Medikamente. Jede Minute gibt es zehn oder zwanzig Bombenschläge. Sie zielen auf alles, Läden, Märkte, Spitäler, Moscheen. Es kommt vor, dass ich jemanden behandle und einen, zwei Tage später kommt er zurück mit neuen Verwundungen. Das Ausland tut nichts für uns, wo bleibt die Uno?“ In seiner Umgebung, sagte der Arzt, habe es in den letzten drei Tagen mindestens 300 Tote gegeben. Es ist auch die Rede von 60 getöteten Kindern und gegen 1400 Verwundeten.

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Gekünstelte Intelligenz

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Die Euphorie über die Computer und Roboter hat letztlich nicht lange gedauert. Jetzt, da jedermann seinen Computer, sein iPad oder Smartphone hat, und wir die Funktionen kaum richtig beherrschen (eher sie uns, was gewollt ist), wird uns schon wieder Angst gemacht. Und zwar von denselben, die uns ihre Produkte verkaufen und uns zwingen, sie alle zwei Jahre zu ersetzen – oder gnädigerweise fünf Jahre, falls die Selbstzerstörung noch derart grosszügig programmiert blieb.

Die Angstmache kommt von denselben Cyber-Freaks-Genies, die – damals noch in Jeans und Shirts – Google, Microsoft und Tesla erfunden haben – wie der Zauberlehrling von Goethe (wenn er das wüsste !) – und jetzt Almosen ans Humanitäre geben. Einmal mehr sind nicht sie die Schuldigen für einen sogenannten Fortschritt der Menschheit. Denn ihre Angst wird längst von anglophilen Universitätsprofessoren der Informatik verbreitet, die vom Missbrauch der Künstlichen Intelligenz durch die Militärs von Schurkenstaaten (oder anderen), von Terroristen (von wem haben diese das Wissen und die Mittel ?) und von Kriminellen warnen.

Diese Informatik, gennant Cyber, hat nichts zu tun mit unseren kleinen «bits », sondern ist organisiert, wie an der Münchner Sicherheitskonferenz (nomen est omen) vom ex-Generalsekretär der Uno, Gutierres (jetzt Bankenberater) angedeutet wurde, von einer neuen organisierten terroristischen Kriminalität. Frankreich und die USA, beide unterschiedlich betroffen, reagieren mit unterschiedlichen Methoden. In Paris ist jetzt ein Gericht zuständig, das 1200 Klagen jährlich behandelt (theoretisch).

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Arthur Schopenhauer, geboren heute vor 230 Jahren

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Natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand.

Der General

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Der heute 62 Jahre alte General Min Aung Hlaing müsste nach burmesischem Militärrecht längst in Rente gegangen sein. Doch daran denkt der erst 2011 zum General Beförderte nicht. Im Gegenteil. Kein Wunder, denn er wurde zum Zeitpunkt des Übergangs von der jahrzehntelangen Militärherrschaft zu einer zivilen Regierung vom damaligen General Nummer 1, Than Shwe, befördert. Than Shwe hatte einen Hintergedanken, der – wie sich heute zeigt – restlos aufgegangen ist. Than Shwe wollte nämlich sicher gehen, nach seinem Rücktritt rechtlich unangreifbar zu sein. So wurde General Min Aung Hlaing 2013 auch noch zum General Nummer 1 erhoben mit der Absicht, ihn bei den für 2015 anberaumten allgemeinen Wahlen formell zum vom Volk abgesegneten Staatspräsidenten zu machen. Diese Rechnung ging allerdings nicht ganz auf, weil die Nationale Liga für Demokratie von Friedens-Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi bei den Wahlen 2015 eine überwältigende Mehrheit errang.

Mord und Totschlag

In den Folgejahren musste General Nummer 1 Min Aung Hlaing nichts fürchten. Die Militärs hatten in der 2008 verabschiedeten Verfassung dafür gesorgt, dass auch bei voller Demokratie Macht und Privilegien der Militärs erhalten blieben. General Hlaing, der sich schon früher mit brutalen Militäraktionen einen Namen gemacht hatte, setzte nach 2014, besonders aber 2017 eine Politik fort, die seit Jahrzehnten in Myanmar üblich war: die Verfolgung der rechtlosen moslemischen Rohingyas im Rakhine-Teilstaat an der Grenze zu Bangladesh.

Die Rohingyas – von der überwiegenden Mehrheit der buddhistischen Bevölkerung als illegale bengalische Immigranten verunglimpft – wurden seit einem Angriff der Arakan Rohingya Salvation Army im August 2017 auf eine Polizeistation von Hlaings Soldateska gewaltsam vertrieben. Mord, Totschlag, Brandschatzung, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Die Militärs stritten alles ab, sprachen von Desinformation. Selbst Staatsrätin und Aussenministerin Aung San Suu Kyi wollte von nichts wissen und wiegelte ausländische Kritik ab.

Flüchtlingslager

Zwischen August 2017 und Anfang Februar 2018 sind rund 700`000 Rohingyas nach Bangladesh geflohen, seit Ende der 1970er Jahre gar weit über eine Million. Bangladesh selbst – ein armes, übervölkertes Land – hat bislang nur 32`000 Rohingyas offiziell den Flüchtlingsstatus zuerkannt. Alle andern gelten als «Unregistered Myanamar Nationals». Gleich jenseits der Grenze in Bangladesh leben sie in überfüllten, zum grössten Teil improvisierten Flüchtlingslagern unter extrem misslichen Verhältnissen. Zwar haben sich im November die Regierungen von Bangladesh und Myanmar im Grundsatz für eine Rückkehr der Rohingyas nach Burma ausgesprochen. Doch bis heute mangelt es an detaillierten Absprachen.

Rechtlos

Die meisten Rohingyas, die seit Generationen, teilweise seit über zweihundert Jahren in Arakan (dem heutigen Teilstaat Rakhine) ansässig sind, verlangen jedoch vor der Rückkehr weitgehende Zusicherungen. Vor ihrer Flucht waren sie nämlich weder Staatsbürger, noch konnten sie sich in Myanmar frei bewegen, Grundbesitz halten oder Ansprüche auf Erziehung und Gesundheit geltend machen. Die internationale Gemeinschaft hilft so gut es geht. Die Schweiz hat beispielsweise bereits insgesamt 20 Millionen Franken überwiesen. Doch ansonsten herrscht Hilflosigkeit.

«Friede und Stabilität für die Nation»

Der Uno, welche die Rohingya als die «am stärksten diskriminierte Minderheit weltweit» bezeichnet, sind im UN-Sicherheitsrat die Hände gebunden. China – mit massiven wirtschaftlichen Interessen in Öl- und Gas-Pipelines sowie Tiefseehäfen – verbittet sich unter Berufung der Assoziation Südostasiatischer Staaten Asean jede «Einmischung in innere Angelegenheiten» Burmas. Russland wiederum versucht, gegen die USA zu punkten. Bei seinem Besuch im vergangenen November liess sich sogar Papst Franziskus vom General Nummer 1 vorführen. Hlaing versicherte dem Papst, in Myanmar gebe es «keine religiösen oder ethnische Diskriminierung», und der Tatmadaw (Armee) wolle nur «Friede und Stabilität für die Nation». Franziskus, der das Wort «Rohingya» in Myanmar geflissentlich vermied, sagte dann immerhin in Bangladesh vor Flüchtlingen, «die Anwesenheit Gottes heisst heute auch Rohingya», und forderte «entscheidende Massnahmen in der Flüchtlingskrise». Von Massnahmen in Form von Spenden aus dem steinreichen Vatikan ist bislang nichts bekannt geworden….

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Die burmesischen Militärs haben von ihrem Standpunkt wohl richtig kalkuliert. Die einstige Demokratie-Ikone Aung San Suu Kyi ist wegen ihres weitgehenden Schweigens in der Causa Rohingya international als Friedens-Nobelpreisträgerin moralisch diskreditiert. General Nummer 1 hingegen ist national bei der buddhistischen Mehrheit äusserst beliebt, unter anderem mit 1,3 Millionen Likes auf Facebook und wird im Ausland stets auf oberster Ebene empfangen. Buddhistische Mönche können unterdessen unbehelligt weiter gegen Muslime im Allgemeinen und die Rohingyas im Besonderen auf übelste Art hetzen.

Komfortable Situation

General Hlaing befindet ich in eine komfortablen Situation. Die Militärs könnten unter dem Vorwand eines drohenden Staatsstreiches jederzeit mit einem Federstrich die Demokratie abschaffen. Doch das wird nicht nötig sein. Denn die Militärs verfügen über 25 Prozent der Parlamentssitze und können so jede Verfassungsänderung blockieren. Die Militärs bestimmen unter dem Kommando von General Nummer 1 auch die drei wichtigsten Ministerien des Innern, des Grenzschutzes und der Verteidigung und haben das Recht, die Beamten auf allen Ebenen zu ernennen.

Nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft haben die Militärs das Sagen. General Hlaing kommandiert die Union of Myanmar Economic Holding Ltd. und die Myanmar Economic Corporation. Diese beiden Konglomerate machen Geschäfte in Jade, Edelsteinen, Energie, Banking Telecom, Versicherungen, Transport, Tourismus und IT – vom Schmuggel gar nicht zu reden.

Doch noch Präsident?

General Nummer 1 Min Aung Hlaing wird bei den allgemeinen Wahlen 2020 wohl doch noch Präsident. Aung San Suu Kyi wird so zur tragischen Figur – sie, die sich so lange und unter schwierigsten Umständen für die Demokratie in Myanmar eingesetzt hat. Die internationale Gemeinschaft – Politik wie Wirtschaft – kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Sie hat den demokratischen Übergang von 2015 falsch eingeschätzt und überbewertet und die seit Jahrzehnten herrschenden Militärs sträflich unterschätzt.

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L’idéal de Katharine Graham

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En 1971, Katharine Graham, l’éditrice du « Washington Post », envoie balader un membre de son conseil d’administration, affolé à l’idée que la rédaction du quotidien puisse publier une enquête sur le vain engagement de l’armée américaine au Vietnam. Trois présidents américains ont tu une évidence, l’Amérique ne gagnerait jamais la guerre. Des milliers de GI’s sont morts pour rien, sur l’autel de la raison d’Etat et des ventes d’armes. Le quotidien de la capitale n’est pas encore celui qui déboulonnera un président américain. Sur la scène médiatique, il n’est que le faire-valoir du « New York Times » à qui sont réservés les plus grands scoops de l’Amérique. Mais cette fois il tient le bon filon. Katharine Graham, veuve du propriétaire du « WashingtonPost », a des scrupules, elle hésite sous la pression de ses administrateurs. La révélation de ce scandale, aboient-ils, coûtera très cher au journal, elle compromettra son entrée en bourse et finira carrément par le tuer. Ben Bradlee, le directeur du quotidien, flaire au contraire le coup qui sortira le Post de sa condition  de journal régional. Laissant parler son intuition, Katharine Graham lui donne courageusement le feu vert. Bien lui en prend. L’ensemble de la presse s’empare de l’affaire, cautionnant le Post dont la consécration trouvera sa genèse quelques mois plus tard dans les souterrains du Watergate.

En sortant de la salle projetant film on se dit que le monde a bien changé. Les Panama et autres Paradise Papers ne sont que de la poudre aux yeux. Instrumentalisées par le fisc, ces recherches n’ont rien à voir avec un journalisme trempé de ténacité et courage. Quel titre oserait publier aujourd’hui des documents démontant les prétextes des interventions américaines en Syrie ou en Afghanistan? En France, les journalistes n’ont plus accès aux lambris de l’Elysée, aux Etats-Unis le président Trump les accuse de propager des « fake news ». Et c’est bien cette évolution délétère au chapitre de la qualité de l’information qui a incité Spielberg à tourner Pentagon Papers, vite fait bien fait, l’an dernier. Un travail qui prend le relais d’autres initiatives entretenant la mémoire du patrimoine de l’information. Comme si elle devenait une espèce en voie de disparition, la presse inspire. Rien à voir avec le climat qui avait entouré le mythique « Les hommes du président », hymne à la gloire du journalisme d’investigation, relatant l’affaire du Watergate en 1976. Quarante ans après, les films sur le journalisme s’égrènent d’une année à l’autre sous le signe de la nostalgie, pire de la résignation. En 2015, “Spotlight” s’immergeait certes dans la cellule d’investigation du “Boston Globe” qui révéla une affaire de scandales sexuels au sein de l’Eglise catholique. Mais le pouvoir de conviction manquait. La même année, “Truth” racontait l’histoire malheureuse d’une réalisatrice de la chaîne américaine CBS, brutalement licenciée parce qu’elle voulut rendre public un document jetant une tache sur le patriotisme de George W. Bush à la veille de sa réélection en 2004. On est très loin de la grande période du Post et de l’idéal de Katharine Graham.

En Suisse, le cinéaste Frédéric Gonseth a tenté de prendre le contrepied de cette évolution avec son documentaire « Le printemps du journalisme », tourné en 2017. Mais à l’heure où Tamedia se prépare à d’autres restructurations et alors que l’ATS lutte pour sa survie, le titre paraît bien optimiste…

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La Méduse
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Alle Bildung kommt aus dem Tun

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„Warum war Wolfgang Amadeus Mozart ein Genie?“, fragt der amerikanische Physik-Nobelpreisträger Carl Wiemann rhetorisch. Der Hochschullehrer antwortet gleich selber: „Niemand werde als Genie geboren. […] Genial sei vor allem sein Vater Leopold gewesen, ein mittelmässiger Geiger, aber ausgezeichneter Musikpädagoge, der eines der ersten Bücher zur Musikerziehung für die Violine schrieb.“ (1) Und dieser väterliche Lehrmeister liess seinen Sohn Wolferl schon komponieren, als er ein kleiner Junge war – und schaute ihm dauernd über die Schulter, um jeden kleinsten Fehler zu korrigieren.

Absolute Fehlertoleranz heute

Kleinste Fehler verbessern und damit das Ganze optimieren! So Leopold Mozarts Methode. Welcher Unterschied zu Dogmatiken von heute, zum Beispiel zu Jürgen Reichens Alphabetisierungspraxis „Schreiben nach Gehör“, wissenschaftlich „Lesen durch Schreiben“ genannt. Die Kinder schreiben, wie sie die Wörtlein vom Klang her hören – lautgetreu. Auf die Orthografie müssen sie keine Rücksicht nehmen.

Die Freude am freien Fabulieren steht als oberstes didaktisches Prinzip. Dabei sollen die Kinder nicht gestört werden. Niemand darf eingreifen. Wortschatz und Grammatik werden nicht beachtet. Fehlerhafte Formen gehören dazu. Sie würden sich später selber korrigieren und das Korrekte käme automatisch, so Reichens Annahme. Auch das Lesen soll sich dann von alleine ergeben. Der Pädagoge Reichen forderte darum absolute Fehlertoleranz. Jedes Intervenieren und Korrigieren zerstöre die kindliche Kreativität.

Mythen im Bildungsdiskurs

Das Zauberwort ist eindeutig: Die Schüler arbeiten „aktiv“ und „selbstreguliert“. Sie können sich die Schriftsprache selber erarbeiten, ähnlich wie Kleinkinder das Laufen und Sprechen erlernen. Reichens Credo war unzähligen Pädagogen und Hochschul-Didaktikern heilig. Empirische Belege für eine Evidenz dieser Praxis lagen allerdings nicht vor; der Glaube genügte. Wissenschaftlich überprüft wurde diese angeblich „geniale“ Methode des Sprachenlernens erst nach Jahren. Sie müsste, so der emeritierte Zürcher Hochschullehrer Jürgen Oelkers, schon lange verboten werden. Nirgends halten sich Meinungen und Mythen so beharrlich wie im Bildungsdiskurs, auch wenn sie längst als überholt gelten.

Genial ist nicht immer genial

Genial war, so der Nobel-Preisträger Wiemann, Leopold Mozart; als genial galt auch Jürgen Reichen. Beide förderten das „aktive Lernen“. Doch worin liegt der Unterschied? Für Wiemann bedeutet „aktives Lernen": Studenten machen lassen, korrigieren, weitermachen lassen, wieder korrigieren, eine Art autodidaktisches Erfahren, aber unter Anleitung eines Lehrers – quasi nach dem Vorbild von Papa Mozart.

Unter Anleitung eines Lehrers, sagt Wiemann, nicht durch Rückzug der Lehrerin aus dem Lernprozess (2) – darin zeigt sich die Nuance! „Ohne intensive Lehrersteuerung ist hohe Lernwirksamkeit nicht zu erzielen; einmal ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, die schwächere Schüler mit der Selbstständigkeit haben,“ schreibt die Lernforscherin der ETH Zürich, Professor Elsbeth Stern.(3) Für viele Kinder sind offene und freie Lernformen eher Risiko als Chance.

Lerncoach? Nein: Lehrer! – Der Praxistest

Wem das zu akademisch klingt, für den kommt hier der Praxistest: An der berüchtigten Johannesskola im südschwedischen Malmö gab es vor einigen Jahren eine verschriene Problemklasse. Im neunten Schuljahr erhielt diese Klasse acht neue Lehrer – dies im Rahmen eines Dokumentarfilm-Experiments. Das Format stiess zwar auf heftigen Widerstand; die Lehrergewerkschaften liefen Sturm. Aber es lockte jede Woche magnetisch die Zuschauer vor die Bildschirme.

Für das weitere Fortkommen ist in Schweden die neunte Klasse sehr wichtig. Hier entscheidet sich, ob die Jugendlichen an eine weiterführende Schule übertreten können. Die acht neuen Fachlehrer wurden aus dem ganzen Land rekrutiert; es waren Pädagogen, die Preise gewonnen oder sich sonst als versiert erwiesen hatten. Ganz Schweden konnte Woche für Woche live beobachten, wie aus demotivierten Versagern Höchstleistungsschüler wurden: Fast alle erreichten eine weiterführende Schule; bei den nationalen Vergleichstests belegte die Klasse in Mathematik den ersten Rang.

Der Erfolg des aktiv angeleiteten Lernens

Man kann das Geheimnis dieses Erfolgs mit einem gesteuerten Unterricht und aktiv angeleitetem Lernen erklären. Die Lehrer deuteten den fulminanten Fortschritt ganz einfach: Entscheidend für ihr Wirken seien Respekt und Anspruch, Autorität und Zuneigung gewesen, Liebe zu ihrem Fach und Zuneigung zu den Schülern. Es waren Lehrpersonen, die Ansprüche setzten und steuern wollten.

Vor Jahren schon schrieb der Gründungsrektor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, Franz E. Weinert: „Nicht die äusseren Schulstrukturen sind letztlich entscheidend, sondern die Lehrperson und vor allem jene Lehrerinnen und Lehrer, die ein hohes Mass an themen- und sachbezogener Schüleraktivität mit einem hohen Mass an schülerorientierter Lehrersteuerung verbinden können.“ In Malmö war es so.

Direkte Instruktion, aber kein Revival des Frontalunterrichts

Auch der renommierte Bildungsforscher John Hattie kommt zu einem gleichen Ergebnis. Die „direkte Instruktion“ hat bei ihm einen hohen Wirkwert. (4) Leider wird der englische Ausdruck „Instructional Design“ mit dem verpönten Wort „Frontalunterricht“ übersetzt und so mit der alten Paukerschule wie in Thomas Manns „Buddenbrooks“ oder in Friedrich Torbergs Roman „Der Schüler Gerber“ konnotiert. Und schon ist die autoritäre Schule kreiert.

Doch Hattie meint nicht das alte Feindbild. Bei ihm führt der Lehrer wie ein Regisseur auf didaktisch geschickte Weise durch den Unterricht. Die Lehrerin legt dabei hohen Wert auf die Eigenaktivität der Schülerinnen und Schüler. Grundlage ist eine weitere wichtige Wirkgrösse: die Klarheit der Lehrperson. Sie vermittelt Orientierung und schafft so einen Lerneffekt.

Selbst Amadeus brauchte Instruktion

Wenn man Hatties Studien, dem amerikanischen Nobelpreisträger Wiemann und dem schwedischen Experiment für einen kurzen Moment Vertrauen schenkt, dann kommt man aus dem Wundern eigentlich nicht mehr heraus – dem Wundern, dass dem selbstregulierten und eigenverantwortlichen Lernen ohne Lehrer heute immer noch so viel Gewicht beigemessen wird. Alle drei kennen vor allem eine Botschaft: Gutes und aktives Lernen braucht Inspiration und Instruktion, Lenkung und Feedback. Das galt selbst für ein Ausnahmetalent wie Amadeus.

(1) Hilmar Schmundt, Wie (fast) jeder zum Genie werden kann, in: Spiegel Online, 12.2.2018.

(2) Vgl. Roland Reichenbach (2018), Ethik der Bildung und Erziehung. Essays zur Pädagogischen Ethik. Paderborn: Verlag Ferdinand Schönigh, S. 204f.

(3) Michael Felten, Elsbeth Stern (2014), Lernwirksam unterrichten. Im Schulalltag von der Lernforschung profitieren. Berlin: Cornelsen, S. 6.

(4) John Hattie, Klaus Zierer (2017), Kenne deinen Einfluss! „Visible Learning“ für die Unterrichtspraxis. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 91f.

 

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Zauberwort Referendum

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Eine Koalition aus Europäern, Amerikanern, Israelis und Arabern will den Einfluss des Iran in der Region zurückdrängen. Und alle reden von einem Referendum – doch jeder versteht etwas anders darunter.

Schicksalszahl

Die Vierzig gilt als Schicksalszahl – im Islam ebenso wie in vielen anderen Religionen. Sie ist die Zahl des Generationswechsels; die volle Vernunft erreicht man im vierzigsten Lebensjahr. Prophet Mohammed empfing erst im Alter von 40 Jahren Gotteseingebungen; jedes Verstorbenen gedenkt man am vierzigsten Tag seines Ablebens. Am sogenannten Arabiin, dem vierzigsten Tag der Ermordung von Imam Hussein im Jahre 680 bei der Schlacht von Kerbela, pilgern alljährlich Millionen Schiiten in diese irakische Stadt. Seiten liessen sich füllen mit Mythen und Mysterien, die sich um diese Zahl ranken. Selbst das Verbotene, der Wein, erreiche seine volle Reinheit erst am Vierzigsten, dichtete vor 700 Jahren Hafiz, der grosse persische Lyriker und berühmte und bekennende Weinliebhaber. Die Islamische Republik beginnt dieser Tage ihr vierzigstes Lebensjahr.

Ein Geburtstag unter Spannungen

Dass im vierten Jahrzehnt nach der Revolution die Menschen immer noch revolutionär seien, sei ein Gotteswunder, das in anderen grossen Revolutionen dieser Welt nicht vorgekommen sei, weder bei der französischen noch bei der russischen, sagte der iranische Revolutionsführer Ali Khamenei am vergangenen Sonntag.

Den 39. Geburtstag der Revolution hatte man genau eine Woche vorher gefeiert. An jenem Tag aber hatte Khamenei geschwiegen. Er musste abwarten und zusehen, wie der Tag ablief. Denn diesmal war der Jahrestag überschattet von inneren Spannungen und äusseren Unwägbarkeiten. Gerade waren vier Wochen lange landesweite Proteste brutal niedergeschlagen worden, Dutzende Demonstranten waren ums Leben gekommen. Mehrere Verhaftete wurden in Polizeiwachen oder Gefängnissen getötet. Sie hätten Selbstmord begangen, wird später ein Sprecher der Justizbehörde verkünden. All das begleitete wie Warnzeichen die staatlich organisierten Feierlichkeiten.

Khamenei musste sich deshalb gedulden, zumal einige User in den sozialen Netzwerke verkündet hatten, sie wollten in diesem Jahr die offiziellen Strassenaufzüge ummodeln. Die Sicherheitskräfte hatten ihrerseits demonstrativ wiederholt mitgeteilt, ein dichtes und umfassendes Überwachungsnetz werde die Feiernden schützen. Später lobte Präsident Hassan Rouhani sich selbst: Er habe verhindert, dass an diesem Tag zu viele Waffen zur Schau gestellt würden. Wie auch immer. Man brachte schliesslich den Tag weniger bombastisch als früher, aber ohne große Zwischenfälle über die Bühne. Für die internationalen Nachrichtenagenturen jedenfalls war das Ereignis des Tages im Iran in diesem Jahr nicht berichtenswert. Schon um drei Uhr nachmittags erklärte der Teheraner Polizeichef die Feierlichkeiten für beendet. Denn man fürchtete den Abend und die Dunkelheit. Das Geburtstagsfest war eher ein „Dienst nach Vorschrift“, eine Art Pflichterfüllung.

Staatlich organisierte Demonstration aus Anlass des 39. Jahrestag der Revolution in Teheran
Staatlich organisierte Demonstration aus Anlass des 39. Jahrestag der Revolution in Teheran

Der Mächtige, der weint

Eine Woche danach sah der Revolutionsführer die Zeit gekommen, eine Bilanz der vergangenen Jahrzehnte zu ziehen. Khamenei ist ein versierter Redner. Reden, Predigen ist sein eigentlicher Beruf. In schwierigen Situationen, in denen er schwach dasteht, versteht er sich persönlich und gefühlsbetont einzubringen. Wenn notwendig, weint er öffentlich, um seiner Rede etwas Persönliches und Emotionales beizumengen.

Der mächtigste Mann des Iran kann sich sogar als machtlos und selbst als Opfer darstellen. Eine Szene aus dem Jahr 2009 bleibt unvergesslich. Auf dem Höhepunkt der Grünen Bewegung, als Millionen auf den Strassen gegen Wahlbetrug protestierten und die ganze Welt mit Spannung auf eine angekündigte Reaktion Khameneis wartete, hielt er zunächst eine sehr harte, gar beängstigende Rede und kündigte das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte in den nächsten Tagen an. Doch am Ende sagte er weinend mit Verweis auf seine gelähmte rechte Hand, er werde „diesen beschädigten Restkörper Gott opfern“. Sein Publikum schluchzte laut und heftig mit. Am nächsten Tag landeten Hunderte hinter Gittern, Moussavi und Karrubi, die unterlegenen Präsidentschaftskandidaten, wurden unter Hausarrest gestellt, und die Justizmaschinerie begann unverzüglich mit ihren abschreckenden Schnellurteilen.

Es brodelt

Auch am vergangenen Sonntag wusste Khamenei genau, wie schwach und beschädigt er dasteht. Er verbringe Abende mit dem Lesen der Geheimberichte aus dem ganzen Land, berichteten Vertraute. Deshalb wusste er genau, dass es im Land brodelt. Er konnte auch nicht überhören, dass gerade seine Person Zielscheibe der Proteste war. Vier Wochen lang riefen die Demonstranten „Nieder mit Khamenei“, und immer noch haben die Sicherheitskräfte damit zu tun, diese ständig wieder auftauchende Parole von Häuserwänden zu tilgen.

Zufall oder nicht: Wenige Stunden vor Khameneis Auftritt meldeten sich seine treuesten Sozialwissenschaftler von der Universität Teheran zu Wort – eine interdisziplinäre Gruppe, die nach eigenem Bekunden den „islamischen Dschihad“ wissenschaftlich vorantreiben will. ISPA (Iranian Study Polling Agency) heisst sie und betreibt Meinungsforschung. Ihre Auftraggeber sind hauptsächlich staatliche Einrichtungen, die Ergebnisse der Umfragen oft geheim. An diesem Tag sollte die ISPA die Hintergründe der wochenlangen Unruhen beleuchten. Auftraggeber war Rouhanis Innenministerium. „75 Prozent der Iraner sind mit ihren Lebensbedingungen unzufrieden“, war der wichtigste Fakt, den die regimetreuen Wissenschaftler vortrugen.

Selbsterniedrigung als Machtinstrument

Deshalb hielt sich Khamenei nicht lange damit auf, die „Errungenschaften der Revolution“ aufzuzählen. Er wolle nicht alles schönreden, sagte er statt dessen: „Wir haben in den letzten vierzig Jahren nicht alles erreicht, was wir wollten. Vor allem, was die Gerechtigkeit angeht, haben wir versagt“, sagte er und fügte entschuldigend hinzu, er müsse deshalb Gott und das Volk um Verzeihung bitten. Dann folgte Selbsterniedrigung: „Die Proteste der Menschen gegen die Regierung, gegen die Bürokratie, aber auch gegen meine Wenigkeit sind berechtigt“, sagte der mächtigste Mann des Landes.

Selbst die friedfertigen Sufis werden nicht geduldet

„Selbst dem Koch bereitet die Suppe Ekel“ – nach Khameneis Rede wurde dieses persische Sprichwort zum Renner in den sozialen Netzwerken.

Warum vielen Khameneis Beichte lächerlich erschien, zeigt eine Szene, die sich zeitgleich im Norden Teherans abspielte und in allen sozialen Netzwerken zu verfolgen war. Während Khamenei spricht, belagern Sicherheitskräfte und Paramilitärs einige Strassen weiter ein Haus, in dem ein 90-jähriger Sufi wohnt. Sie wollen das alte und kranke Oberhaupt des Gonabadi-Sufiordens festnehmen. Doch dessen Anhänger leisten Widerstand.

Die Szene hat etwas Surreales. Die Sufis, die Derwische, sind bekannt für ihre Friedfertigkeit. Dem Irdischen messen sie nicht viel Wert bei. Mit Politik wollen sie nichts zu tun haben, vor allem nicht mit jener, die die Geistlichkeit im Namen des Islam im Iran praktiziert. Sufi sind schiitische Mystiker, die die unmittelbare Nähe zu Gott suchen. Um eine Verschmelzung mit der Wahrheit zu erreichen, brauche man weder die Geistlichkeit noch ihre unterschiedlichen Rechtsschulen, glauben sie.

Ein mehr als 1000 Jahre alter Streit, auch eine alte Feindschaft. Doch ohne Sufis ist eine orientalische, islamische und iranische Literatur und Dichtung kaum vorstellbar. Seit Beginn der islamischen Republik waren die Sufi-Orden, die Derwische, in der islamischen Republik ohne Mystiker Repressalien ausgesetzt. Ihre Gebetshäuser wurden zerstört, bekannte Sufis verschwanden für Jahre hinter Gittern, keine staatliche Institution darf einen Sufi einstellen.

An diesem Abend gewannen die Derwische, die Sicherheitskräfte und die Basidjis – die Paramilitärs – zogen sich zurück, aber nur vorübergehend. Am Montagabend schon war die Friedfertigkeit vorbei. Mindestens fünf Menschen werden getötet, darunter drei Sicherheitskräfte, Dutzende schwer verletzt und mehr als 300 verhaftet.

Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den protestierenden Derwischen
Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den protestierenden Derwischen

Khamenei wittert Gefahren

Die Menschen mögen unzufrieden sein, sagt Khamenei in seiner Ansprache, aber niemand solle daran zweifeln, dass sie weiterhin hinter „Imamat und Velayat“ stünden. Das sind jene schiitischen Prinzipien, auf die sich die Herrschaft der Kleriker gründet. Das war ein Seitenhieb auf Hassan Rouhani. Der Staatspräsident war eine Woche zuvor Hauptredner der staatlichen Feierlichkeiten gewesen. Doch Rouhani hatte an diesem Tag nicht wie ein Regierungschef gesprochen, sondern wie ein Oppositionsführer. Er mahnte zur Toleranz und sagte wörtlich: „Leider haben wir viele Gläubige und Mitkämpfer in den letzten vierzig Jahren aus dem Revolutionszug hinausgeworfen.“ Ob er auch die Sufis meinte?

Rouhani und das Referendum

Rouhani benutzte ein Wort, das seitdem für allerlei Unruhe, Spekulationen und nicht enden wollende Debatten sorgt: „Warum schliessen wir uns gegenseitig aus? Wenn wir Streit haben, sollten wir die Verfassung in die Hand nehmen. Artikel 59 sieht für den Fall der Meinungsverschiedenheit ein Referendum vor.“

Dieses Wort kommt im heutigen Iran einer politischen Bombe gleich. Referendum reimt sich auf Mardum – das Volk. Wochenlang hatten die Demonstranten in Dutzenden Städten gerufen: „Referendum, Referendum. Das ist der Wille des Mardum.“ Übersetzt heisst das: Khamenei muss weg.

Doch Rouhani benutzte an diesem Tag das Wort Referendum keineswegs beiläufig. Es war absichtlich, durchdacht und geplant. Aber warum? Darüber wird seitdem heftig gerätselt. Der Präsident hat mit diesem Wort Kräfte wachgerüttelt, die den Gottesstaat friedlich überwinden wollen.

Jeder versteht, was er will

Was heisst Referendum in der islamischen Republik? Ist es nur eine Art Volksabstimmung? Weit gefehlt. Artikel 59 der iranischen Verfassung sieht zwar ein Referendum vor, aber nur für den Streit zwischen gesetzgebenden Organen. Seit zwei Wochen, seit Rouhanis Auftritt, wird in allen Zeitungen und Webseiten über den Begriff debattiert und gestritten.Was kann man mit einem Referendum erreichen? Ein Referendum kann ein Plan zu einem Regime-Change sein – oder umgekehrt: Gerade ein Referendum, wie Rouhani es formuliert, garantiert das Überleben des Regimes. Mit dem Referendum lässt sich das befürchtete Blutbad verhindern – oder im Gegenteil: Es endet erst recht in einem grossen Massaker.

Nicht nur Präsident Rouhani spricht von einem Referendum, auch die unterschiedlichen Gegner im In- und Ausland sprechen es an. Und jeder versteht unter diesem Wort, was er will. Freitagsprediger verdammen es allwöchentlich, Parlamentsabgeordnete, Revolutionsgarde, Medien und die Aktivisten der Auslandsopposition loben oder verfluchen es dieser Tage.

Referendum heisst Regime-Change

Es ist wie ein Zauberwort. Für die einen ist es ein Generalschlüssel, der alle versperrten Türen öffnet. Mit ihm will Präsident Rouhani seine alltäglichen Konflikte mit Revolutionsführer Khamenei lösen. Namhafte Gegner der Islamischen Republik aus dem In- und Ausland dagegen wollen mit einem Referendum den ganzen Gottesstaat aus den Angeln heben. Darin sehen sie die einzige Möglichkeit, die Islamische Republik friedlich zu überwinden. Und für den ganz harten Kern der Macht begeht dieser Tage jeder, der dieses Wort propagiert, einen Tabubruch, denn es ist zu einem Schlachtruf für den Umsturz geworden.

Dabei ist das Wort den Iranern nicht fremd. Es war ein Referendum, das der Islamischen Republik vor fast vierzig Jahren die formale Legitimation verlieh. Zwei Monate nach dem Sieg der Revolution organisierten die neuen Machthaber eine Abstimmung, bei der 98 Prozent der Wähler für die Islamische Republik votierten. Daher kommt ein Referendum im allgemeinen Bewusstsein dem Regime-Change gleich.

Mit Referendum Blutbad verhindern

Einen Tag nach Rouhanis Ansprache verlangten fünfzehn Oppositionelle und Menschenrechtler, allesamt anerkannte Persönlichkeiten, in einer gemeinsamen Erklärung ein Referendum unter UN-Aufsicht. Wollte man Leben, Leiden und Karrieren der Unterzeichner beschreiben, bräuchte man Bände. Unter ihnen befinden sich die zwei international bekannten Filmemacher Jafar Panahi und Mohassen Makhmalbaf, einer im Exil, der andere im Iran unter einer Art Hausarrest, die Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi ebenfalls aus dem Exil, die zwei Juristinnen Narges Mohammadi – aus einem iranischen Gefängnis – und Nasrin Setudeh, die zwei ehemaligen Gründer der Revolutionsgarden Ghadiani und Sazgara, einer aus dem Iran, der andere aus dem Exil, und der bekannte Kleriker und Autor Mohsen Kadivar ebenfalls aus dem Exil. Nur mit einem Referendum könne man den Zerfall der Gesellschaft, einen möglichen Bürgerkrieg oder einen äusseren Krieg verhindern, sagen die Oppositionellen in ihrer Erklärung. Seitdem beschäftigen sich die TV-Sender ebenso mit diesem Thema wie die Reformer im Lande selbst.

Manöver der Spezialeinheit der Revolutionsgarde „Nopo“ – Vorbereiten für den Ernstfall
Manöver der Spezialeinheit der Revolutionsgarde „Nopo“ – Vorbereiten für den Ernstfall

Druck aus dem Ausland nimmt zu

Es ist kaum anzunehmen, dass Khamenei und seine Männer in den Machtorganen je ein Referendum akzeptieren würden. Sie fühlen sich stark genug und im Besitz der ganzen Macht. Doch den Druck aus dem Inneren ebenso wie aus dem Ausland, der ständig zunimmt, können sie nicht ignorieren. Die Amerikaner, die Israelis und selbst die Europäer, jeder auf seine Art, wollen den Einfluss des Iran in der Region zurückdrängen.

Die Trump-Administration scheint entschlossen, normale Handelsbeziehungen des Iran mit der Aussenwelt zu verhindern. Die Islamische Republik soll ihre Geschäften im Untergrund, auf dem Schwarzmarkt oder mit den Russen und Chinesen treiben. Der Iran verkauft zwar sein Erdöl, aber das Geld dafür kommt nicht ins Land zurück. Auch jene Banken, die in der Türkei und den Emiraten am Persischen Golf bis jetzt bereit waren, mit dem Iran Geschäfte zu treiben, weigern sich inzwischen, Zahlungen aus dem und in den Iran zu tätigen.

Selbst Paketsendungen per DHL aus dem oder in den Iran wollten die USA verhindern, meldeten die Nachrichtenagenturen vergangene Woche.

Jedes Geschäft mit dem Iran sei ein Geschäft mit den Revolutionsgarden, sagte Herbert McMaster, nationaler Sicherheitsberater der USA, vergangene Woche auf der Münchner Sicherheitskonferenz. McMaster warnte die Europäer, die USA beobachteten genau, wer mit dem Iran Handel treibe: Jeder solle die Konsequenz seines Handelns tragen.

Was will Rouhani?

Je mehr der äussere und innere Druck zunehmen, um so härter reagieren die Hardliner in Teheran. Die Sufis, die für ihre Friedfertigkeit bekannt sind, werden inzwischen in der Presse mit dem „Islamischen Staat“ (Daesh) verglichen, um damit das brutale Vorgehen gegen sie zu rechtfertigen. Ob Khamenei je ein Referendum über sein eigenes Schicksal akzeptiert, zumal unter Aufsicht von UN-Beobachtern, wie die Oppositionellen es fordern, scheint ein unerfüllbares Wunschdenken zu sein.

Aber warum hat Rouhani dieses provokante Wort in den Mund genommen, und das in seiner Ansprache zum Jahrestag der Revolution? Er denke an die Zeit nach Khamenei, besser gesagt an sich selbst – er wolle Revolutionsführer werden, lautet seither eine der vielen Spekulationen. Aber Spekulationen, Gerüchte und Verschwörungstheorien bilden dieser Tage den Hauptteil der iranischen Politik – so wie es in Zeiten der Abwesenheit jeglicher Transparenz, Klarheit und Aufrichtigkeit immer ist.

Mit freundlicher Genehmigung IranJournal

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Heruntergekommene Spekulation

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Spekulation hat keinen guten Ruf. „Spekulant“ ist gar ein Schimpfwort. Dabei ist der Begriff von höchst ehrenwerter Abstammung. „Spekulation“ geht auf das lateinische „speculatio“ und dieses auf das griechische „theoria“ zurück und meinte einst die ordnende, systematisierende Betrachtung der Wirklichkeit auf der Grundlage von Begriffen. Die Spekulation war gewissermassen der krönende Abschluss beim Errichten philosophischer Gedankengebäude.

Einen letzten Höhepunkt seiner philosophischen Verwendung erfuhr der Spekulationsbegriff im deutschen Idealismus. Bei Hegel und Schelling stand er im Gegensatz zum Begriff der Reflexion. Diese meint das unterscheidende Denken, das immer an unaufhebbare Gegensätze gebunden bleibt. Demgegenüber erlaubt nach Hegel der kühne Erkenntnisweg der Spekulation – und nur dieser – die denkerische Erfassung des Absoluten.

Von solchen Höhenflügen ist das Spekulieren wahrlich heruntergekommen. Das Wort wird in der Geschäfts- und Finanzwelt verortet – und dies mit Unterton. Wer hier von Spekulation spricht, unterstellt eine zumindest anrüchige Gewinnabsicht. Spekulanten suchen vermutete Marktbewegungen für sich auszunützen: Sie kaufen Güter, Immobilien, Anteile, Schuldscheine, Währungen oder was auch immer in der Hoffnung auf Wertvermehrung. Da spekulativer Profit nicht auf der Schaffung von Werten beruht, bewirkt er stets jemandes Verlust oder Mehraufwand. Daher die üble Reputation.

Nun ist allerdings das Schimpfen auf Spekulanten (wo sind übrigens in der politischen Rhetorik die Spekulantinnen?) eine zweischneidige Sache. Wir gehören nämlich alle dazu, nur schon, indem wir unsere obligatorischen Pensionskassen für uns am Markt spekulieren lassen. Wer Erspartes nicht im Strumpf unter der Matratze verwahrt, sondern in irgend einer Form anlegt, ist ebenfalls am Spekulationsspiel beteiligt. Unausweichlich involviert sind wir alle ferner durch die enge Verflechtung von Real- und Finanzwirtschaft oder auch nur schon durch die Schulden des Staates, deren Zinsen spekulativen Schwankungen unterliegen.

Entspannung ist angesagt: Wir sind alle Spekulantinnen und Spekulanten, und wir brauchen uns dabei nicht schlecht zu fühlen. Allerdings auch nicht sonderlich gut. Denn das Zeitalter der noblen, hoch geistigen Spekulation ist seit dem Ende der idealistischen Philosophie unwiederbringlich vergangen.

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Karl Jaspers, geboren heute vor 135 Jahren

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Demokratie ist tolerant gegen alle Möglichkeiten, muss aber gegen Intoleranz selber tolerant werden können.

Henry Fonda, amerikanischer Filmschauspieler, 1905-1982

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Der Gipfel des Ruhms ist, wenn man seinen Namen überall findet, nur nicht im Telefonbuch.

Grosshistoriker mit „kurzen“ Geschichten

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Kurze Geschichten sind in. Stephen Hawking schrieb eine „Kurze Geschichte der Zeit“, Ken Wilber „Eine kurze Geschichte des Kosmos“, Bill Brysen eine „Kurze Geschichte von fast allem“, Harald Lesch und Harald Zaun „Die kürzeste Geschichte allen Lebens“ und so weiter. Man könnte vom Genre der Grossgeschichtsschreibung sprechen, die Zeitspannen von gewaltigem Ausmass ins Visier nimmt, allerdings in den Titeln ihrer Bücher kokett „kleine“ oder „kurze“ Geschichten ankündigt. Vom israelischen Historiker Yuval Harari gibt es neuerdings zwei Proben dieses Genres: „Sapiens: Eine kurze Geschichte der Menschheit“ und „Homo Deus: Eine (kurze) Geschichte der Zukunft“ (englisch: „A Brief History of Tomorrow“). Natürlich ist das ironisch gemeint. Keines der Bücher ist kurz. Und keines der Bücher liefert eine seriöse Geschichte, sondern ein als Geschichte aufgemachtes Fresko des Gegenwarts- und Zukunftsmenschen.

Der „Humanismus“ als Illusion

Grossgeschichtsschreibung bedient sich eines simplen Tricks: Suche ein Grossthema, bausche es auf und posaune eine möglichst dramatische Zukunftsprognose hinaus. Das Grossthema in Hararis zweitem Buch: der Algorithmus; das Aufbauschen: Alles ist Algorithmus; die Prognose: Algorithmen werden den Menschen überwinden. Das lieferte durchaus Stoff für einen konzisen Essay, aber das Konzise ist nicht Hararis Stärke und Stil, sondern das schlenkernde Erzählen – sagen wir es: das Flunkern.

Hararis Buch könnte den Untertitel tragen „Die Zukunft einer Illusion“. Nur ist der Titel bereits besetzt von Sigmund Freud, der 1927 in seiner fulminanten Schrift die Religion als Illusion entzauberte. Als Illusion des gegenwärtigen Zeitalters macht Harari den sogenannten „Humanismus“ aus, den Glauben an die Einzigartigkeit und intelligente Überlegenheit des Menschen. Naturwissenschaften und Künstlichen Intelligenz strafen diesen Glauben Lügen, und zwar mittels zweier Prinzipien:

1) Organismen sind Algorithmen.

2) Algorithmen funktionieren stoffunabhängig; das Material, in dem sie implementiert sind, kann auf Kohlenstoff, Blech, Silizium oder was auch immer basieren.

Die simple und falsche Konsequenz daraus:

3) Alles was Organismen können, können Algorithmen in anderen materiellen Medien simulieren oder emulieren. Und sie können es zunehmend besser als Organismen.

Abgang des Homo sapiens

Die These ist nicht neu, sie hat in einschlägigen Kreisen zu intensiven Disputen geführt und sie ist höchst umstritten. Harari verarbeitet sie im letzten Drittel seines Buches geschickt zu einer eingängigen Vision, die den Titel „Homo deus“ rechtfertigt (die ersten beiden Drittel handeln immer noch vom Homo sapiens, sind also in dieser Hinsicht redundant). „Homo deus“ meint ja den Abgang des Homo sapiens von der geschichtlichen Bühne, den Bruch mit der Hegemonie des „Fleisches“, der organischen Materie; das Abzeichnen einer posthumanen Zukunft nicht-organischer Materie, die den Ausnahmestatus des Menschen als Illusion entlarvt. Das ist eine dramatische Aussicht, gewiss, aber sie hängt entscheidend von den Prämissen ab. Und diese Prämissen sind schwachbrüstig.

Organismen als Algorithmen

Zunächst die erste Prämisse. Sie wurde von Daniel Dennett schon vor einiger Zeit mit Verve und Eloquenz vertreten (ein zumindest kursorischer Hinweis wäre angebracht gewesen). Dennett ist Philosoph, mit einem starken Hang zu darwinistischem Missionieren. Unter Biologen ist die Gleichung „Organismus = Algorithmus“ bestenfalls eine diskutierbare heuristische Analogie. Nichtsdestoweniger schlägt Hariri gewaltig auf die Pauke, mit dem Schlüsselbegriff des Dataismus:

„Am festesten verankert ist der Dataismus in seinen beiden Mutterdisziplinen: der Computerwissenschaft und der Biologie. Die wichtigere der beiden ist die Biologie. Es war schliesslich die biologische Überzeugung des Dataismus (sic), die aus einem begrenzten Durchbruch in der Computerwissenschaft eine welterschütternde Umwälzung machte, die womöglich die Natur des Lebens vollkommen verändert. Vielleicht lehnen Sie die Vorstellung ab, dass Organismen Algorithmen sind und Giraffen, Tomaten und Menschen nur unterschiedliche Methoden der Datenverarbeitung. Aber Sie sollten wissen, dass das die gängige wissenschaftliche Lehre ist“ (499).

Wirklich? - Was die Biologen auch tun mögen, so dürfte der kleineste Teil unter ihnen vom Dataismus infiziert sein. Gewisse physiologische und biochemische Prozesse lassen sich durchaus als Schrittfolgen interpretieren, wie wir sie von Programmen her kennen, aber es wäre eine masslose Übertreibung, die ganze biologische Arbeit aufs Erkennen von algorithmischen Abläufen einzudampfen. Zugegeben, das kann faszinieren. Wer aber den Mund voll nimmt mit Thesen wie „Homo sapiens ist ein obsoleter Algorithmus,“ müsste vor allem genauer abklären, ob und inwieweit in biologischen Systemen gleiche oder ähnliche Schritt-für-Schritt-Prozesse ablaufen wie in künstlichen Systemen.

Gehirn als Algorithmus – riskante Analogien

Die Frage stellt sich akut für das biologische System Gehirn. In den letzten drei Dekaden verzeichnen die Neurowissenschaften einen enormen Zuwachs an Wissen über die Vorgänge auf neuronaler Ebene. Leicht kann allerdings ein Analogie-Unfall passieren. Hier das Beispiel des Physikers Stephen Wolfram: „Die Operationen des menschlichen Gehirns oder die Entwicklung eines Wettersystems können im Prinzip die gleichen Dinge berechnen wie ein Computer.“ Bedeutet das, dass das Gehirn ein meteorolgisches System ist? Natürlich nicht. Das „im Prinzip“ bezieht sich auf eine hochabstrakte Ebene, und auf dieser Ebene, so hat Alan Turing gezeigt, kann man sehr viele Vorgänge als Operationen eines abstrakten Computers beschreiben: „im Prinzip“ als eine Berechnung. Wenn man aber sagt „Das Gehirn arbeitet WIE ein Computer“, heisst das nicht „Das Gehirn IST ein Computer“.

Hirnforscher – Esel am Berg

In Voltaires „Wörterbuch der Philosophie“ (Willensfreiheit) lesen wir den formidablen Satz: „Von der Entstehung der Ideen weiss ich ebensowenig wie von der Entstehung der Welt“. Noch heute stehen die Hirnforscher wie der Esel am Berg, wenn es um die Frage geht, wie die Neurophysiologie Bewusstseins erzeugt. In einem dunklen Raum, sagt das Bonmot, sind schwarze Katzen schwierig zu erkennen - besonders wenn es darin keine Katzen hat. Es kommt einem mitunter so vor, als befänden sich die Hirnforscher im dunklen Raum ihrer Disziplin und suchten nach der schwarzen Katze des Bewusstseins, ohne sich über deren Existenz sicher zu sein. Der Philosoph David Chalmers hat deshalb vom „harten Problem“ des Bewusstseins gesprochen: Wie entsteht Bewusstsein aus den komplexen Algorithmen unserer Gehirnprozesse? Handelt es sich überhaupt um Algorithmen? Denn wenn man dermassen Mühe bekundet, das Gehirn als Rechenmaschine zu begreifen, könnte das nicht daran liegen, dass es gar keine solche Maschine ist? Die Neurowissenschafter verwerfen die Hände. Niemand weiss es. Ganz am Schluss des Buches schreibt Harari verstohlen: „Vielleicht finden wir aber auch heraus, dass Organismen gar keine Algorithmen sind.“ Wer hätte sich das gedacht? Wie aber bringt Harari das in Einklang mit der vollmundigen Behauptung, dass „jedes Tier - einschliesslich Homo sapiens – eine Sammlung organischer Algorithmen ist, geformt durch natürliche Selektion über Jahrmillionen der Evolution“?

Neuronale Netzwerke – zuviele Verheissungen

Damit sprechen wir die zweite Prämisse und die Konklusion an. Wir können immer mehr menschliche Kompetenzen an künstliche Systeme delegieren, welche uns in begrenzten Bereichen auch schon übertreffen. Künstliche Intelligenz ist eine hochgradig beschränkte, eine „autistische“ Intelligenz. Seit über einem halben Jahrhundert suchen Computerwissenschafter, Informatiker und Kognitionstheoretiker nach dem „General Problem Solver“, einem universellen Lern-Algorithmus, der künstliche Systeme befähigen würde, wie Kleinkinder auf der Basis vorgängiger Erfahrungen Neues zu lernen. Dabei nehmen sie sich auch das organische Gehirn zum Muster. Zurzeit sind Deep Learning und neuronale Netzwerke die Hotspots. Was sie auch schon zustande bringen, ihre Algorithmen sind beschränkt lernfähig, ihre Lösungen sehr aufgabenspezifisch. Einer der heute führenden Forscher auf diesem Gebiet, der Informatiker Michael Jordan, schreibt:

„Es gibt durchaus Fortschritte in den untersten Stufen der Neurowissenschaften. Aber was das Thema höherer Kognition betrifft – Wahrnehmung, Erinnerung, Handeln - , so haben wir keine Idee, wie die Neuronen Information speichern, berechnen, repräsentieren (..), welche Algorithmen im Spiel sind (..). Wir befinden uns also noch nicht in einer Ära, in der das Verständnis des Gehirns uns in den Konstruktionen künstlicher Intelligenz leiten könnte.“

Ein verführerischer Plot

Ich stelle mir vor, Harari hatte die Eingebung für ein Szenario: Was wäre, wenn die Methoden der Computerwissenschaften und Statistik zu erkenntnistheoretischer Hegemonie gelangen und uns als Forschungsdogma beherrschen würden? Es ist eine fesselnde Eingebung, die bestehende Tendenzen extrapoliert. Für einen Erzähler also ein reizvolles Fressen, einen fiktiven Plot in die Zukunft zu verfolgen. Aber Harari geht es nicht einfach um eine Fiktion, er schreibt – so paradox das klingen mag – eine noch nicht geschehene Geschichte der Zukunft. Einem Historiker aber, der um der Überzeugungskraft seiner Vision willen so viel festmacht am Schlüsselbegriff des Algorithmus, stünde die kritische Frage gut an, wie weit denn die Metapher des Algorithmus überhaupt tragfähig sei.

Die neue „Religion“

Man weiss bei Hariri nicht so recht, ob er selber nun an die Verheissungen des Dataismus glaubt. Er warnt vor der „Religion“ des Dataismus, scheint aber dessen Maulheldentum unkritisch für bare Münze zu nehmen:

„Für viele Wissenschaftler und Intellektuelle verspricht (der Dataismus) (..) den Heiligen Gral zu liefern, der uns seit Jahrhunderten versagt bleibt: eine einzige übergreifende Theorie, die alle wissenschaftlichen Disziplinen von der Musikwissenschaft über die Ökonomie bis zur Biologie vereint. Glaubt man dem Dataismus, so sind Beethovens Fünfte Symphonie, König Lear und das Grippevirus nur drei Muster des Datenstroms, die sich mit den gleichen Grundbegriffen und Instrumenten analysieren lassen. Diese Vorstellung ist ungeheuer attraktiv. Sie verschafft allen Wissenschaftlern eine gemeinsame Sprache, überbrückt akademische Gräben und erleichtert den Export von Erkenntnissen über Fächergrenzen hinweg. Musikwissenschaftler, Ökonomen und Zellbiologen können sich endlich gegenseitig verstehen.“

Dataismus ist keine Theorie, sondern eine konfuse Verheissung

Wenn das nicht satirisch gemeint ist, dann fragt man sich, aus welcher Quelle des Dataismus Hariri solchen Unsinn denn abzapft. Und der Verdacht richtet sich auf eine ganz bestimmte Quelle: Hariri selbst. Als Historiker hätte er besser daran getan, einen Blick in die letzten fünf oder sechs Jahrzehnte intensiver wissenschaftstheoretischer Diskussion und wissenschaftshistorischer Forschung zu werfen; einen Blick, der ihn schnell aufgeklärt hätte, dass der Traum einer einheitlichen Theorie doch eher „ungeheuer“ naiv als attraktiv ist, selbst unter Physikern, wo er nach wie vor seine Anhänger hat. Natürlich finden sich heute praktisch in allen Disziplinen „dataistische“ Ansätze – in den einen ausgeprägter als in den anderen. Daraus die Entwicklung eines universellen „Paradigmas“ zu folgern, verrät wenig Verständnis für die Vielfalt wissenschaftlicher Disziplinen. Dataismus ist nicht der Heilige Gral (wer sapperlot hat Hariri diesen Floh ins Ohr gesetzt? ). Zudem ist Datenanalyse eine Methode, nicht eine Theorie.

Historiker, bleib bei deinem Leisten

„Homo deus“ weist auf ein tiefes Grundproblem unserer Ära hin: das Überhandnehmen des rechnerischen Geistes – eine Epidemie der Beschränktheit. Eine Kritik der algorithmischen Vernunft wäre deshalb an der Zeit. Gewiss, Dataismus ist nur ein mögliches Zukunftsszenario, und Harari beeilt sich am Schluss, dies zu betonen. Aber vielleicht ist es hier schon zu spät. „Statt unsere Horizonte durch die Prophezeihung eines einzigen definitiven Szenarios einzuengen, will dieses Buch sie erweitern und uns vor Augen führen, dass es ein viel breiteres Spektrum an Möglichkeiten gibt.“ - Ach ja? Und welche Möglichkeiten? Wenn man uns über 500 Seiten lang das Szenario vom unaufhaltsamen Vormarsch der Algorithmen ausgemalt hat, dann klingt eine solche Bemerkung einigermassen verwedelnd, um nicht zu sagen widersprüchlich. Hariri ist Historiker, nicht Naturwissenschafter, Informatiker oder Philosoph. Aber mit seinem Thema bleibt er unweigerlich in den verzwicktesten Problemnestern dieser Gebiete hängen. Und er hätte sich besser von den wirklich ernstzunehmenden Denkern informieren lassen, statt von Big-Data-Grossmäulern. Aber dann wäre sein Popanz des Dataismus schnell in sich zusammengefallen. – Und aus der Traum eines Bestsellers.

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Italien im Caravaggio-Fieber

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Er gilt als bisexuell, gewalttätig und wird wegen Totschlags aus Rom verbannt. Die Ewige Stadt wimmelt zu seiner Zeit von Prostituierten. Immer wieder sind es Dirnen, die ihm Modell stehen – auch für seine Heiligenbilder. Das hindert die Adligen, die Bischöfe und Kardinäle nicht, ihn zu verehren. Sie erkennen sein Genie und lassen sich von ihm porträtieren. Die homoerotischen Szenen in einigen seiner Gemälde stören niemanden, ebenso wenig die Tatsache, dass manche seiner gemalten Jünglinge offenbar seine Lustknaben waren.

Seit jeher ist Italien verrückt nach ihm. Über keinen Maler des 17. Jahrhunderts gibt es so viele Legenden, Biografien und Dokumentarfilme. Jetzt hat das Caravaggio-Fieber das Land wieder voll im Griff. Wieder ist er der Superstar.

Poseidon vergewaltigt die schöne Medusa

Im wichtigsten italienischen Museum, den Uffizien in Florenz, wurden am vergangenen Montag acht neugestaltete Säle eingeweiht. Sie sind vor allem Caravaggio gewidmet. Schon am ersten Tag standen Besucherinnen und Besucher bis zu drei Stunden Schlange.

Wichtigste Ikone der Ausstellung ist Medusa. Sie war von Poseidon vergewaltigt worden. Die Göttin Athene, neidisch auf die Schönheit der Medusa, sah der Tat zu. Sie bestraft nicht etwa Poseidon, sondern verwandelt die Schöne in ein hässliches Ungeheuer mit Schlangenhaaren. Perseus, der Göttersohn, schlägt ihr schliesslich das Haupt ab. Auf einem Schild präsentiert er den Kopf mit seinen aufgerissenen Augen.

Caravaggio malte Ovids Szene 1597/98 auf ein Stück Pappelholz, das mit einer Leinwand überzogen wurde. Auftraggeber war Kardinal del Monte. Er schenkte das Bild dem Grossherzog der Toskana, Ferdinando I de’ Medici. Der kunstbegeisterte Kardinal del Monte war der erste grosse Förderer Caravaggios.

Neben dem „Haupt der Medusa“ sind in den neu eingerichteten Sälen unter anderem der „Jüngling, von einer Eidechse gebissen“, „Il Sacrificio di Isacco” und „Bacchus“ zu sehen.

„Bacchus“ in einem der neugestalteten Säle der Uffizien (Foto: Keystone/EPA/Maurizio degl'Innocenti)
„Bacchus“ in einem der neugestalteten Säle der Uffizien (Foto: Keystone/EPA/Maurizio degl'Innocenti)

Die Uffizien sind zwar eines der berühmtesten Museen der Welt, doch Caravaggios Werke fristeten ein eher kümmerliches Dasein. Das ist jetzt anders. „Dank einer Mischung aus natürlichem und künstlichem Licht kommen die Meisterwerke besonders gut zur Geltung“, sagt Eike Schmidt, der Direktor des Museums. Dank der neuen Gestaltung der Säle würden die Besucher „in die Atmosphäre des 17. Jahrhunderts versetzt“. Auch bei grossem Besucherandrang, seien Caravaggios Werke gut zu sehen.

Die umgestalteten Säle, die bereits in den ersten Tagen überrannt werden, sind eine Art Abschiedsgeschenk von Eike Schmidt. Er verlässt die Uffizien im kommenden Jahr und wird Direktor des „Kunsthistorischen Museums“ in Wien (KHM). Er hatte offenbar genug von der italienischen Bürokratie und der Tatsache, dass ihm italienische Kunsthistoriker ständig dazwischenfunkten. Dass er kein Italiener ist, machte seine Arbeit auch nicht leichter.

Uffizien-Direktor Eike Schmidt bei der Eröffnung der neuen Caravaggio-Säle (Foto: Keystone/EPA/Maurizio degl'Innoncenti)
Uffizien-Direktor Eike Schmidt bei der Eröffnung der neuen Caravaggio-Säle (Foto: Keystone/EPA/Maurizio degl'Innoncenti)

Caravaggio, der eigentlich Michelangelo Merisi heisst, wurde 1571 geboren und stammt aus dem Ort Caravaggio nahe von Bergamo. Und als Caravaggio geht er in die Kunstgeschichte ein. Mit 38 Jahren starb er in Porto Ercole am Fusse des Monte Argentario in der Toskana.

420'000 Besucher in vier Monaten

Doch nicht nur die Uffizien würdigen Caravaggio. Dieser Tage wurde in fast 200 italienischen Kinos – von Como bis Syrakus – ein neunzigminütiger Dokumentarfilm gezeigt. „L’anima e il sangue“ ist eine emotionale Reise durch das Leben und das Werk des grossen Malers. Der Film entstand in jahrelanger Arbeit unter Mitwirkung namhafter italienischer Kunsthistoriker, so Claudio Strinati. Allein am ersten Tag spielte der Film 300'000 Euro ein.

Doch das neue Caravaggio-Fieber war schon letztes Jahr ausgebrochen. Die Ausstellung „Dentro Caravaggio“ im Palazzo Reale in Mailand wurde in vier Monaten von 420'000 Besucherinnen und Besuchern gesehen. Der zweieinhalb Kilogramm schwere Katalog, der 40 Euro kostete, wurde 150'000 Mal verkauft. Vor dem Museum bildeten sich Schlangen von über einem Kilometer. Wo gibt es das sonst?

Das Fieber ist ansteckend

Nicht genug: Die „Gallerie d’Italia di Milano“ erreicht einen neuen Besucherrekord. Bis zum 8. April wird dort Caravaggios letztes Werk gezeigt: „Il Martirio di Sant’Orsola“.

Viele andere italienische Museen – und auch Kirchen –, die Bilder des rätselhaften Genies zeigen, verzeichnen stark steigende Besucherzahlen.

Samstagmorgen, die französische Kirche an der Piazza San Luigi de’ Francesi in Rom. In einer Nische hinten links hängen drei grosse Gemälde, jedes etwa drei Meter hoch. Sie zeigen „die Berufung des Heiligen Matthäus“, das „Martyrium des Evangelisten Matthäus“ und die „Niederschrift des Evangeliums mit dem Engel“. Mehr als 50 Besucherinnen und Besucher scharen sich vor den Bildern. „Früher waren zwei, drei Personen da“, sagt ein dunkelhäutiger Wächter, der auch Postkarten verkauft. „Jetzt sind es bis zu 100.“ Das Caravaggio-Fieber ist ansteckend.

„Martyrium des Evangelisten Matthäus“ in der französischen Kirche
„Martyrium des Evangelisten Matthäus“ in der französischen Kirche

Vom „Mythos Caravaggio“ profitiert jetzt auch die Römer „Galleria Doria Pamphilj“. Das Museum liegt am Corso, einen Steinwurf von der Piazza Venezia entfernt. Caravaggio ist hier unter anderem mit der heiligen „Reuigen Magdalena“ vertreten. Für das Gemälde sass Caravaggios Freundin Anna Bianchini Modell, eine rothaarige Prostituierte.

„Die reuige Magdalena“
„Die reuige Magdalena“

Vom neuen Caravaggio-Boom profitiert natürlich auch die Römer „Galleria Nazionale d’Arte Antica“. Dort hängt eines der phantastischen Bilder des Künstlers: „Judith und Holofernes“. Im zweiten Stock des Museums, hinten rechts wurde eine eigene Wand für das Meisterwerk reserviert. Im letzten Sommer noch stand man fast allein vor diesem Meisterwerk. Heute drängen sich hier 40, 50 Personen.

„Judith und Holofernes“
„Judith und Holofernes“

Das Gemälde erzählt die Geschichte des assyrischen Feldherrn Holofernes, der die Israeliten belagert. Judith, laut Altem Testament „eine schöne Gestalt mit blühendem Aussehen“, suchte zusammen mit ihrer Magd Holofernes auf. Sie bezauberte ihn durch ihre Schönheit und gab ihm Wein, viel Wein. Als er betrunken war, schlug sie ihm den Kopf ab und rettete so ihr Gottesvolk.

Das Bild gehört zu den berühmtesten Werken Caravaggios. Wieder: Aufgerissene Augen, verzerrtes Gesicht, Gewalt.

Beatrice, die geliebte Mörderin

Das Bild hatte Caravaggio kurz nach der Hinrichtung der Vatermörderin Beatrice Cenci gemalt. Selten hatte eine Mörderin ein solche Sympathie genossen wie sie. Zusammen mit ihrer Stiefmutter hatte sie ihren gewalttätigen und sadistischen Vater mit Hammerschlägen töten lassen. Breite Bevölkerungskreise und viele Adlige setzten sich für Beatrice ein. Vergebens. Papst Clemens VIII. lehnte eine Begnadigung ab.

So wurde am 11. September 1599 unter dem Geschrei einer riesigen Menge zunächst die Stiefmutter und dann Beatrice vor der Engelsburg enthauptet. Giacomo, der Bruder von Beatrice, wurde mit glühenden Zangen gequält und gevierteilt. Die Menge war so riesig, dass eine Tribüne zusammenbrach und vier Menschen starben.

Unter den Zuschauern befand sich Caravaggio. Er liebte solche Szenen. Laut dem italienischen „Cultor college“ wird „allgemein angenommen, dass er die Hinrichtung von Beatrice vor Augen hatte, als er die biblische Judith malte“.

Die Römer Zeitung „La Repubblica“ nennt jetzt Caravaggio „die Ikone unserer Zeit“. (Links ein Porträt Caravaggios von Ottavio Leoni, um 1614, Bibliotheca Marucelliana, Florenz) Die italienische Kunsthistorikerin Francesca Cappelletti, Professorin in Ferrara, bezeichnet ihn als den ersten „Rockstar“, der die Malerei revolutionierte. Seine ausdrucksvollen Bilder hätten die heutige Zeit vorausgesagt.



Er zeigte als einer der ersten nicht nur das Schöne, Liebliche, Edle und Heilige – so wie es Botticelli, Raffael und viele andere taten. Mit voller Wuchte malte Caravaggio die Abgründe des Lebens, den Hass, die Gewalt, das Leiden. Die Eindringlichkeit seiner Szenen machten ihn zu dem, was der 1866 geborene britische Maler und Kunsthistoriker „den ersten modernen Künstler“ nannte.

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Rom/Florenz
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Gegen den Faschismus

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An der Kundgebung auf der Römer Piazza del Popolo nahmen auch Ministerpräsident Paolo Gentiloni und sein Vorgänger Matteo Renzi teil. Die Grosskundgebung ist eine Reaktion auf die immer aggressiver auftretenden Neofaschisten der „Forza Nova“.

In einer Woche finden in Italien Parlamentswahlen statt. Es ist das erste Mal seit Monaten, dass die gespaltene Linke gemeinsam auftritt und gemeinsam demonstriert. Gentiloni und Renzi, beide Sozialdemokraten, umarmten sich gar zur Überraschung vieler vor den Fernsehkameras. Gentiloni möchte Regierungschef bleiben und Renzi möchte wieder Premierminister werden.

In Mailand demonstrierten auf dem Domplatz zehntausende Anhänger der rechtspopulistischen „Lega“ und der postfaschistischen Partei „Fratelli d’Italia“ unter dem Slogan „Prima gli Italiani“ („Zuerst die Italiener“). Angeführt wurde die Mailänder Demonstration von Lega-Chef Matteo Salvini und der „Fratelli d’Italia“-Vorsitzenden Giorgia Meloni.

Ende Januar hatte ein Afrikaner im Städtchen Macerate in der Region Marken eine 18-jährige Drogenabhängige getötet und die Leiche zerstückelt. Danach schoss ein 28-jähriger Rechtsextremer wahllos auf Dunkelhäutige und verletzte sechs Menschen. Anschliessend fuhr er zu einem Kriegsdenkmal, warf eine italienische Fahne um sich, rief „Italien den Italienern“ und streckte die Hand zum Faschistengruss.

Die Frage ist, wieweit die Rechtspopulisten bei den Wahlen vom Mord in Macerate profitieren können. An der Kundgebung in Mailand nahmen auch mehrere Vertreter von Berlusconis „Forza Italia“ teil.

In Meinungsumfragen liegt das Rechtsbündnis von Berlusconi, dem auch die Lega und die Fratelli d’Italia angehören, vorn. Die jetzt regierenden Sozialdemokraten von Gentiloni und Renzi landen abgeschlagen zurück.

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Mark Twain

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Ein Dutzend verlogener Komplimente ist leichter zu ertragen als ein einziger aufrichtiger Tadel.

Wie man einen Währungsraum verlässt

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Während der ganzen Krise waren sich Griechenland und seine Partner uneinig, wie dieser zu begegnen sei. Das hätte im Juli 2015 fast zum chaotischen Austritt Griechenlands aus der Eurozone geführt.

1993 trennten sich die Tschechen und die Slowaken. Beim Entscheid, zwei Länder zu bilden, waren Differenzen über die Wirtschaftspolitik ein wichtiger Faktor. Zum Glück sind beide Länder heute erfolgreiche Volkswirtschaften – wenn sie auch auf unterschiedlichen Wegen zum Erfolg gekommen sind.

Václav Klaus versus Vladimír Mečiar

Nach der politischen Wende von 1989 hatte es in der Tschechoslowakei Differenzen über das richtige Vorgehen beim Übergang zur Marktwirtschaft gegeben. Der tschechoslowakische Finanzminister Václav Klaus wollte schnell und radikal privatisieren, während viele slowakische Politiker Massenarbeitslosigkeit fürchteten.

Klaus siegte im tschechischen Teil bei den Wahlen im Juni 1992 und wurde dort Ministerpräsident. In der Slowakei übernahm der Nationalist Vladimír Mečiar das Ruder.

Bei der friedlichen Trennung der beiden Länder spielte eine grosse Rolle, dass das Vermögen des Staates bereits während des Prager Frühlings 1968 weitgehend zwischen beiden Teilrepubliken aufgeteilt worden war. Erstaunlicherweise einigten sich Tschechen und Slowaken, dass die tschechoslowakische Krone zunächst auch in den beiden eigenständigen Staaten weiter gültig bleiben sollte.

Einigung auf Währungstrennung

Nationalbankgouverneur Josef Tošovský ahnte aber, dass dies nicht klappen konnte, weil die wirtschaftspolitischen Vorstellungen zu unterschiedlich waren und die Länder wirtschaftlich schnell voneinander wegdriften würden. Er konnte Klaus umstimmen. Dieser wiederum vereinbarte in Geheimgesprächen mit Mečiar die Währungstrennung.

Am 1. Januar 1993 wurden Tschechien und die Slowakei eigenständige Staaten – zunächst mit einer gemeinsamen Währung. Erst am 2. Februar wurde die Währungstrennung bekanntgegeben – völlig überraschend, ohne dass vorher etwas durchgesickert war. Um Spekulationen zu verhindern, wurden kurzzeitig Kapitalverkehrskontrollen eingeführt. Beide neuen Staaten hatten im Ausland bereits neue Banknoten drucken und Münzen prägen lassen. Ein paar Tage später begann der Übergang; in vier Tagen war das alte Geld eingezogen und das neue verteilt. Der Wille, die unvermeidliche Scheidung gesittet und zivilisiert zu vollziehen, hatte gesiegt.

Drohender Absturz und Aufholjagd der Slowakei

Tatsächlich drifteten dann die beiden Länder auseinander. Als tschechischer Premier setzte der ultraliberale Ökonom Klaus die schnellen und radikalen Privatisierungen fort. In der Slowakei privatisierte Mečiar Betriebe, wenn überhaupt, indem er sie günstig an Freunde und Parteifreunde verkaufte. 1998 hatte sich die Wirtschaftslage aber derart verschlechtert, dass der Premier die Wahlen verlor. Ausserdem war das Land nicht gemeinsam mit Tschechien in die Nato aufgenommen worden, und es drohte ein Abseitsstehen auch beim EU-Beitritt.

Die neue christdemokratische Regierung von Mikuláš Dzurinda schwenkte auf einen umso radikaleren Reformkurs ein. Diese beeindruckende Aufholjagd sorgte selbst beim früheren Brudervolk für Anerkennung. Noch heute beneiden tschechische Ökonomen die Slowakei um einige Reformen der Regierung Dzurinda. Durch sie erhielt die slowakische Wirtschaft Impulse, von denen sie heute zehrt. Das Land wurde zeitgleich mit Tschechien in die EU aufgenommen, und während in Böhmen und Mähren heute noch mit Kronen gezahlt wird, nahm die Slowakei ohne zu zögern den Euro an.

Dieses Beispiel zeigt nicht nur den Wert von pragmatischen Kompromissen. Es zeigt auch, dass mit entschlossenen und richtigen Reformen ziemlich schnell eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation erzielt werden kann. Griechenland, aber auch seine Geldgeber, könnten an diesem Beispiel viel lernen. Mit gut 6 Prozent weist die Slowakei im Moment die niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Unabhängigkeit auf. Und in Tschechien herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Mit 2,9 Prozent ist das Land wohl innerhalb der EU an der Spitze und hat still und leise bereits die Schweiz überholt.

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Bürgerkrieg in der Phase zwei

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Nachträglich sind mehr und wichtige Einzelheiten über den blutigen Zusammenstoss bekannt geworden, der sich in der Nacht des 7. Februars zwischen DSF-Truppen, entscheidend unterstützt durch die amerikanische Luftwaffe, und pro-syrischen Einheiten im Euphrat Tal, östlich des Stromes, ereigneten.

Was damals zuerst bekannt gegeben wurde, kam von amerikanischer Seite und beschränkte sich auf die Aussagen: Eine Basis der DSF (Democratic Syrian Forces) auf der Ostseite des Euphrat, nahe beim Flecken Khursham, sei des Nachts angegriffen worden. Dort hätten sich auch amerikanische „Berater“ befunden, die mit den DSF zusammenarbeiteten. Als die Angriffskolonne so nah an diese Basis herangekommen sei, dass ihre Geschosse nur 500 Meter entfernt von der Basis einschlugen, sei die amerikanische Luftwaffe eingeschritten und habe gemeinsam mit den DSF-Truppen die Angreifer unter schweren Verlusten für diese zurückgeschlagen. Auf Seiten der DSF habe es nur einen Verwundeten gegeben.

Diese ersten Berichte erklärten auch, die Amerikaner seien während dieser Aktionen in Kontakt mit den Russen gestanden, und diese hätten gewusst, was vorgehe, noch während des Geschehens. Von russischer Seite verlautete zunächst einzig, die angreifende Kolonne pro-syrischer Truppen habe ihre Aktion nicht mit den Russen koordiniert. 

Amerikanisch-russische Koordination

Um diese Erklärungen zu verstehen, muss man in Rechnung stellen, dass es Übereinkünfte zischen russischen und amerikanischen hohen Offizieren gibt, nach denen der Euphrat die Grenze sein soll zwischen den Einflussgebieten beider Seiten: westlich des Stroms die regulären Truppen und Pro-Asad-Milizen, die Unterstützung durch die russische Luftwaffe erhalten; östlich des Stroms die DSF (aus kurdischen und arabischen Kämpfern zusammengesetzt), denen die amerikanische Luftwaffe als Verbündeter dient und die auch mit amerikanischen Spezialtruppen auf dem Boden zusammenarbeiten.

Um zu vermeiden, dass Russen und Amerikaner in der Luft oder auch auf dem Boden zusammenstossen, gibt es eine Koordination zwischen den Militärs dieser beiden Mächte. Sie wird über Qatar gehandhabt, wo sich eine amerikanische Einsatzbasis für die Luftwaffen der amerikanischen Koalition befindet. Die russische Gegenstelle dürfte in Khneymin, bei Lattakiya liegen, der russischen Luftbasis in Syrien. 

Russische Söldner beteiligt

Was seither zuerst gerüchteweise, aber dann immer deutlicher zutage trat, war der Umstand, dass bei der angreifenden Kolonne der pro-syrischen Truppen russische Söldner dabei waren. Wieviele dies waren, und ob diese Kolonne hauptsächlich aus ihnen bestand oder hauptsächlich aus syrischen Pro-Regierungsmilizen, die von den Söldnern verstärkt worden waren, ist auch bis heute nicht klar. Doch dass es solche Söldner gab und dass eine grössere Zahl von ihnen bei dem Zusammenstoss umkam, kann als gesichert gelten.

Im Internet erschienen Nachrufe auf russische Gefallene von Seiten ihrer Freunde und Familien. Westlichen Agenturen und Korrespondenten in Russland gelang es, mit einigen dieser Familien und Freunden Kontakt aufzunehmen, und schlussendlich räumten auch russische Sprecher ein, dass „einige Dutzend Russen“ gefallen waren oder Verletzungen erlitten. 

Die herumgebotenen Zahlen gehen weit auseinander. Manche angebliche Gewährsleute wollen wissen, es seien mehr als hundert Gefallene gewesen. Andere sprechen sogar von zweihundert. Die bekannt gewordenen Namen und Photos im Internet dokumentieren nur sechs oder sieben namentlich bekannte Fälle.

Mehr Details aus den USA

Amerikanische Militärsprecher haben ihre Aussagen im Nachhinein etwas präzisiert. Am 13. Februar gab das Zentralkommando der amerikanischen Armee bekannt, im Hauptquartier bei Khursham hätten sich neben den dortigen SDF-Mannschaften und Offizieren auch amerikanische „Berater“ befunden. Als es von einer Kolonne von 300 bis 500 Kämpfern mit Panzern angegriffen wurde und das Feuer dieser Panzer bis auf 500 Meter an das Hauptquartier herangekommen war, habe der kommandierende amerikanische Offizier Hilfe von der amerikanischen Luftwaffe angefordert, und die angreifende Kolonne sei rund drei Stunden lang unter intensives Feuer aus Drohnen und B52-Bombern gekommen. Über die Zusammensetzung der Angriffskolonne wollte der Sprecher nicht spekulieren.

Auf der russischen Seite erklärte der Sprecher Putins am 13. Februar, der Kreml verfüge über keine Informationen über den Tod von russischen Söldnern. „Wir haben nur Angaben über reguläre russische Armeeangehörige“, sagte er. „Wir wissen nichts über andere Russen in Syrien.“

Moskau prangert USA an

Der russische Aussenminister, Sergey Lavrov, ging am gleichen Tag in die Offensive. Er erklärte, die Amerikaner unternähmen „gefährliche unilaterale Schritte, die immer deutlicher wie Versuche aussehen, einen Quasi-Staat in einem grossen Teil des syrischen Territoriums zu errichten, vom Ostufer des Euphrats die ganze Strecke hinab bis an die irakische Grenze.“ Schon zuvor hatten russische Sprecher mehrmals erklärt, die Amerikaner befänden sich „illegal“ auf syrischem Boden. 

Trotz diesen Versuchen, die Angelegenheit zu ignorieren und von ihr abzulenken, indem man Klage gegen die Amerikaner erhebt, ist inzwischen aus den Aussagen von Freunden und Familienmitgliedern der Söldner klargeworden, dass russische Söldner aus den Reihen der sogenannten Wagner-Gruppe an dem Angriff beteiligt waren. Es stellte sich als wahrscheinlich heraus, dass das eigentliche Ziel der Angriffskolonne Öl- und Erdgasfelder waren, die etwas hinter dem Ort Khursham in der Wüste liegen. Sie befanden und befinden sich noch im Besitz der SDF-Kräfte.

Russische Söldner

Über die Wagner-Söldner, benannt nach dem Namen ihres kommandierenden Offiziers, sind ziemlich viele Details bekannt, weil sie in der Ukraine und bei der Besetzung der Krim eine Rolle spielten. Man weiss zum Beispiel, dass sie in Ausbildungslagern der russischen Streitkräfte ausgebildet werden und dass sie über russische Waffen verfügen. Bezahlt werden sie nach den Erkenntnissen des amerikanischen Finanzministeriums von einem – oder über einen – Finanzmagnaten, der Putin nahe steht: Yevgeny Prigoschin, den die Amerikaner im Zusammenhang mit der vermuteten Interferenz russischer Internet-Trolls in die amerikanischen Präsidentschaftswahlen zusammen mit 13 anderen auf eine Boykottliste gesetzt haben. Er soll bei der Errichtung und Betreibung der russischen Internet-Troll-Fabrik in St. Petersburg mitgewirkt haben. 

Prigoschin gilt auch als der Besitzer einer russischen Gesellschaft, welche einen Vertrag mit Syrien für die Beschützung der syrischen Gas- und Ölfelder abgeschlossen habe gegen die Zusage von 25 Prozent der Produktion dieser Felder. Diese angebliche Entlöhnung ist so substantiell, dass man vermuten kann, mit „Schutz“ der Erdöl- und Gasfelder könnte auch ihre Rückeroberung aus den Händen der Amerikaner und Kurden zu verstehen sein. Es gibt syrische Ölfelder in der Wüste westlich des Euphrat, die sich bereits in syrischen Händen befinden, aber eben auch solche östlich des Stroms, wo zurzeit die kurdisch-arabischen SDF und die Amerikaner das Sagen haben.

Putins Koch

Der Spitzname Prigoschins ist „Putins Koch“, weil er nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft, beginnend mit einem Hot-Dog-Stand, Geld im Ernährungssektor gemacht haben soll. Von dort stieg er auf in den Sektor der Luxusrestaurants. Heute soll er für Teile der Nahrungslieferung an die russische Armee zuständig sein sowie auch für Gastmahle Putins selbst. 

Die Wagner-Söldner dienen Russland für Aktionen, die offiziell abgestritten werden können, wie es ja auch die anfänglichen Äusserungen aus Russland zu der „Schlacht, die nicht stattfand“ in der Nähe von Khurshan deutlich gezeigt haben. 

Fünf Mächte auf syrischem Boden

Der russisch-amerikanische Zusammenstoss in Ostsyrien ist nur eine von mehreren beinahe gleichzeitigen Entwicklungen, die vor sich gehen und dadurch bestimmt sind, dass fremde Armeen oder Milizen auf syrischem Boden oder im syrischen Luftraum gegeneinander kämpfen.

Die türkische Armee steht direkt und zusammen mit einer mit ihr verbündeten syrischen Miliz, der FSA, auf syrischem Boden im Kampf gegen die Kurden von Afar und droht in einem nächsten Schritt weiter im Osten, in Membij, auch mit den Kurden sowie mit den Amerikanern, die dort mit den Kurden verbündet sind, zusammenzustossen. Damaskus hat eine Miliz nach Afar entsandt, um den dortigen Kurden zu helfen, den Türken zu widerstehen. 

An der Südgrenze Syriens ist Israel kurz aber heftig aktiv geworden, nachdem die Israeli eine offenbar iranische Drohne, die nach Israel eingedrungen war, abgeschossen hatten und daraufhin einen Luftangriff tief nach Syrien hinein in die Region von Palmyra durchführten, wo sich die Basis für die iranische Drohne befunden haben soll. Als Israel bei dieser Gelegenheit ein Flugzeug verlor, das von einer syrischen Rakete getroffen wurde, schritt die israelische Luftwaffe als Antwort zu einem offenbar schwerwiegenden Gegenschlag gegen die syrischen Luftabwehrbatterien und einige iranische Positionen. Danach trat Ruhe ein. 

Doch ist vorauszusehen, dass das Kräftemessen zwischen Iran und Israel im syrischen Luftraum und möglicherweise auch auf syrischem Boden weitergehen wird. Auf der einen Seite gedenken die Iraner nicht, auf die israelische Forderung einzugehen, ihren teuer erworbenen Einfluss und ihre militärische Position als Helfer von Asad aufzugeben und Syrien zu räumen. Auf der anderen wollen die Israeli nicht zulassen, dass Iran – in erster Linie nicht nah an der israelischen Grenze, jedoch auch generell nicht in Syrien und in Libanon – militärisch und im militärischen Rüstungsbereich tätig bleibt.

Aasgeier über dem Leichnam Syriens 

Damit tritt der syrische Krieg in Phase zwei ein. Es geht nun nicht mehr darum, ob das Asad-Regime geht oder bleibt. Dank der russischen Unterstützung und dank dem Umstand, dass die westlichen Mächte sich in Phase eins nicht entscheidend in Syrien einmischen wollten, ist Asads Herrschaft in Damaskus gesichert.

Doch der Diktator ist dermassen geschwächt, dass er seine Herrschaft schwerlich lückenlos über ganz Syrien wird ausdehnen können. Es entstehen Hohlräume, die seine Macht nicht ausfüllen kann. Was dazu geführt hat, dass sich die beiden Supermächte, Russland und USA, sowie die drei Nachbarstaaten, Türkei, Israel und Iran, auf syrischem Boden miteinander darüber streiten, wer diese Hohlräume ausfüllen darf. 

Die Rolle, welche Saudi-Arabien anfänglich in Syrien gespielt hatte, scheint nun reduziert, weil die Saudis allzu viele andere Aufgaben lösen müssen. Iran ist natürlich kein direkter Nachbar Syriens. Doch durch seinen Einfluss im Irak auf die dortigen Schiitenmilizen und in Libanon auf Hizbullah ist Iran machtstrategisch sogar ein doppelter Nachbar Syriens geworden.

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