Quantcast
Channel: Journal21
Viewing all 14615 articles
Browse latest View live

Die Ephrussis und ihr Hase mit den Bernsteinaugen

$
0
0

2011 erschien ein Buch über das Schicksal der jüdischen Familie Ephrussi mit dem merkwürdigen Titel «Der Hase mit den Bernsteinaugen», das sogleich ein Weltbestseller wurde. Dabei ist sein Autor, der 1964 in England geborene Edmund de Waal, von Hause aus kein Schriftsteller, sondern ein international renommierter Professor für Keramik in London. Doch eine hochgradige Schreib-Begabung dazu.

Odessa, Wien, Paris, London, Tokio bis Meggen 

Was er zu Papier brachte, ist die Geschichte seiner Familie. Ihre Wurzeln hat sie in Odessa, wo sie im 19. Jahrhundert mit Getreidehandel zu Wohlstand und Ruhm gelangte, aber ihren Sitz bald nach Wien und nach Paris verlegte und ins Bankgeschäft einstieg – wenngleich nicht ganz so erfolgreich wie die Rothschilds. New York, die Slowakei, Tokio und das London unserer Tage hiessen die weiteren Stationen, oft genug Fluchtpunkt und Exilort. Auch Meggen, wo die Ephrussis von überall her einst zur Sommerfrische zusammenfanden, gehört in dieses internationale Tableau.

De Waals Weg zu dieser Geschichte löst das Rätsel des Buchtitels. Bei diesem Hasen handelte es sich um eine kleine japanische Netsuke-Figur aus Elfenbein aus der Sammlung, die Charles Ephrussi im 19. Jahrhundert in Paris begonnen hatte und die weitervererbt wurde nach Wien, später nach Tokio und schliesslich heute im Besitz von Edmund de Waal ist. Entlang ihrer Spur und der vielen Besitzerwechsel erzählt de Waal das Schicksal seiner Familie.

Jüdisches Grossbürgertum

Ihr nun widmet das Jüdische Museum in Wien eine Ausstellung. Im gehaltreichen Katalog sind es vor allem Wissenschaftler wie Kunst-, Wirtschafts- oder Zeithistoriker, die de Waals Erzählung mit einer Fülle von Informationen und Einordnungen ergänzen. 

In vielerlei Hinsicht waren die Ephrussis prototypisch für das jüdische Grossbürgertum (in Paris die «haute juiverie» genannt), das seine Mittel auch für weitverzweigte kulturelle Engagements, Sammelleidenschaften und Förderung der Künste nutzte. Die erste bedeutende dieser Gestalten war Charles Ephrussi (1849 in Odessa, bis 1905 in Paris). Dank des Reichtums seines Bankier-Bruders konnte er sich frei seinen Neigungen hingeben und wurde zum veritablen Kunsthistoriker, Sammler und Mäzen.

Vorbild für Prousts Swann?

Marcel Proust, so geht die Legende, soll sich Charles Ephrussi als Vorbild für die Figur des Swann genommen haben. Er verkehrte in den Malerkreisen von damals und wurde gleichwohl immer wieder Opfer von deren Antisemitismus. Stellvertretend seien Auguste Renoir und  Edgar Degas genannt, aber auch die Brüder Goncourt. Das alles gipfelte später in der Affäre Dreyfus.

Ein anderer Zweig der Familie hatte sich in Wien niedergelassen und gehörte dort ebenso zu den wohlhabenden, meist jüdischen Kunstkennern, ohne deren Leidenschaft und Sachverstand die künstlerische Moderne nie hätte reüssieren können. Blieb die alte Aristokratie in ihren angestaubten Innenstadtpalais auch dem Kunstgeschmack der Welt von gestern verhaftet, baute sich die neue Oberschicht prachtvolle neue Palais an der Ringstrasse, ausgestattet mit allen technischen Neuerungen und Finessen und zeitgenössischen Möbeln wie Kunst.

Nach Österreichs „Anschluss“

So auch die Ephrussis, in deren Palais am Schottenring heute die Casino Austria ihren Sitz hat. Im Zentrum dieses Teils der Ausstellung steht Viktor Ephrussi (1860–1945), der von Charles die Netsuke zur Hochzeit geschenkt bekam und ähnlich wie jener den Künstlern und vor allem Schriftstellern weit näher stand als der Bank. Arthur Schnitzler und das Café Griensteidl – das war seine Welt.

Wien, wo sie sich schon 1857 niedergelassen hatten, wurde auch der Schauplatz des letzten Kapitels dieser Familie nach dem „Anschluss“ von 1938 auf dem Kontinent. Man musste fliehen, erst in die Slowakei, von dort weiter nach England. Und die Nazis raubten den zurückgelassenen Besitz. Die Netsuke jedoch wurden gerettet und gelangten schliesslich in die Hand von Viktors Sohn Ignaz, der sich in Tokio niederliess. Mühsam nur kam die Rückerstattung nach dem Krieg in Gang. Umso bemerkenswerter, dass de Waal nun die Ausstellung in Wien nach Kräften förderte. Der Gang ins Jüdische Museum ist deshalb ein Muss für jeden Wien-Besucher, der sich für die Welt dieser grossen jüdischen Familien interessiert, die so unendlich viel getan hatten für die Allgemeinheit. 

Bis 8. März 2020, Jüdisches Museum, Dorotheergasse. *Das obige Bild zeigt Edmund de Waal mit der Netsuke-Sammlung

 

Category: 
Images: 
Media slideshow teaser: 

Die gekaperte Emanzipation

$
0
0

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kennzeichnet eine Standardisierung vieler Lebensbereiche, die ihre Wurzeln letztlich in der Arbeitswelt hat. Sie ist die Folge technischer Entwicklungen und der zweiten Industriellen Revolution. Spätestens Fords Fliessband erfordert eine weitere Aufsplitterung der Arbeitsabläufe sowie deren präzise Definition, welche die Beschäftigten gänzlich austauschbar macht. So erzwingen die industriellen Fertigungsprozesse letztlich die Anpassung der Menschen an die Maschinerie. Schlagend hat das Charlie Chaplin in «Modern Times» ins Bild gesetzt, indem er seinen Tramp in eine Fabrik steckte und dort vom Räderwerk verschlingen liess. 

Negation des Besonderen

Die Industriearbeit jener Zeit tilgt ihrem Wesen nach alles Individuelle; sie funktioniert nur reibungsfrei, sofern die Regel stets den absoluten Vorrang vor dem Besondern hat. Damit bildet sie ein Paradigma für das, was der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz in seinem Buch «Die Gesellschaft der Singularitäten» (2017) ((https://www.journal21.ch/gesellschaft-der-singularitaten)) als «Logik des Allgemeinen» bezeichnet hat. Diese Logik allerdings bleibt nicht auf die Arbeitssphäre beschränkt. Sie greift in den industrialisierten Gesellschaften über auf die Bereiche des Alltags wie etwa die Lebensplanung und sogar die Freizeitgestaltung.

Als Komplemente zur Arbeitsorganisation spiegeln diese Felder zumindest teilweise deren Eigenheit – nämlich weitgehende Berechenbarkeit – wider; zudem tragen standardisierte Produkte Gleichförmigkeit auch in den Konsum hinein, wo die Einzelnen eigentlich eine persönliche Wahl hätten. Und nicht zuletzt fördert die Disziplinierung am Arbeitsplatz innere Haltungen wie einen Hang zur Stereotypie oder das Bedürfnis nach möglichst engen Konventionen. Für Menschen, die damals im weiten Feld der Industriearbeit beschäftigt waren, zeigte sich der individuelle Spielraum also äusserst begrenzt – und das galt durchaus auch für die mit den weissen Krägen.

Der individualistische Einspruch

Doch das ist nicht die ganze Miete; denn die «Logik des Allgemeinen» herrschte auch damals nicht unwidersprochen. Kritik erwuchs ihr vor allem aus der Kultursphäre, wo Künstler, Literaten oder Philosophen Einspruch erhoben gegen die Anpassungszwänge bzw. gegen die Entfremdung, denen die Einzelnen unterworfen waren. Dieser Einspruch richtete sich im Übrigen nicht nur gegen die Verfügung über Menschen, sondern generell gegen rationale Kontrolle sowie den technischen Zugriff auf die Welt. Im Kern stand ein radikales Postulat: Letztlich zielte die Vision darauf, das Verhältnis von Regel und Fall von Grund auf umzukehren. 

Es war Nietzsche, der diesen individualisierenden Protest auf den Weg brachte. Bei Freud akzentuierte er sich zur Vorstellung vom Menschen als einem Wesen, das in den kulturellen Setzkästchen prizipiell nicht aufgeht. Und er bildet letztlich auch den gemeinsamen Nenner von so unterschiedlichen philosophischen Richtungen wie Heideggers Existenzialontologie oder der Kritischen Theorie. 

Beide Schulen entwerfen denn auch je ihren utopischen Fluchtpunkt: Heidegger mit der unverwechselbaren Einzigartigkeit des Einzelnen, Adorno mit der Vorstellung vom Nichtidentischen, einem Wirklichen, das sich der zweckrationalen Erfassung grundsätzlich entzieht. Inmitten einer flächendeckenden Standardisierung formiert sich also in der Kultursphäre ein Gegenentwurf, eine «Logik des Singulären» (Reckwitz), welche alternative Perspektiven auf die Welt eröffnet und sich insofern auch mit einem politischen Anspruch verbindet.

Reformpädagogik

Konkret fassbar wird diese utopische Perspektive vor allem in der Reformpädagogik. Dort geht es primär darum, von der Planierung der Einzelnen abzulassen, d. h. von Erziehungsformen, die alle über den gleichen Kamm scheren und durch permanenten Drill die individuellen Unterschiede auszumerzen versuchen. Ob in den Waldorfschulen nach Rudolf Steiner (1861-1925) oder bei Maria Montessori (1870-1952), in beiden Bildungskonzepten steht nicht mehr die finale Funktionalität der Zöglinge im Zentrum, sondern die freie Entwicklung von deren individuellen Anlagen. 

Aus reformpädagogischer Sicht ist die Verpflichtung auf allgemeinverbindliche Standards abzulehnen, denn sie verstümmelt die Menschen, erstickt ihre Kreativität, um sie als Rädchen ins Getriebe der bürgerlichen Gesellschaft einzufügen. Diese wird als erdrückender Monolith gesehen, ihre Anpassungszwänge erscheinen als Sinnbild für Unfreiheit schlechthin und die Individualisierung gilt als Mittel, die Macht des schlechten Allgemeinen zu brechen. So ist diese Pädagogik ein zutiefst emanzipatorisches Projekt, das antritt, einen neuen Menschen zu schaffen: einen Menschen, der sich nicht mehr hinter Konventionen verstecken muss, weil er sich in seiner Einmaligkeit und Besonderheit annehmen kann.

Vorspiel in der Romantik

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts prallen also in den Industriestaaten konträre soziale Logiken zusammen. Doch diese Konfrontation ist da keineswegs neu; sie hat sich vielmehr schon hundert Jahre zuvor abgezeichnet, nämlich in der romantischen Kritik am Anspruch der Aufklärer, die Welt ein für alle Mal in vernünftige Regie zu nehmen. Tatsächlich begriffen bereits die Romantiker das schöpferische Individuum als Gegenpol zu den Zwängen des Allgemeinen. Dementsprechend haben sie den Künstler gegen den Philister ausgespielt, den kreativen Einzelnen gegen den Herdenmenschen, der sich vernunftgeleitet dem Anpassungsdruck fügt, um schliesslich in der eigenen Nüchternheit zu versauern.

Schon hier ist in der Präferenz für das Individuelle ein emanzipatorischer Anspruch angelegt, auch wenn die romantischen Projektionen im Zeitalter der Restauration vorwiegend tröstlich-kompensatorischen Charakter hatten und zunächst einmal folgenlos blieben. Doch am Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie neu entdeckt, dabei entschieden radikalisiert und damit zum Antrieb einer Gegenkultur, welche in der Folge die Wertvorstellungen in den westlichen Gesellschaften von Grund auf umkrempeln sollte. War diese individualistische Rebellion anfänglich noch weitgehend Sache einer jeunesse doreé, so schwoll sie durch die Jahrzehnte zu einer Grundwelle an, die in der Generation nach 1945 eine kritische Masse erreichte und schliesslich die «Logik des Allgemeinen» vom Thron fegte. 

Das Muster des juvenilen Übergangs

Dabei trug diese Gegenkultur praktisch durchwegs die Züge einer Jugendbewegung; schon die Romantiker hatten sich in erster Linie an die Jungen gerichtet, in denen sich die sozialen Zwänge noch nicht verfestigt hatten und die entsprechend für neue Ideen offen waren. In der Tat ist die individuelle Absetzung ja ein notwendiges Stadium in der menschlichen Entwicklung. Alle müssen sich in der Adoleszenz von ihren Primärfamilien ablösen, um sich auf einen weiteren sozialen Rahmen hin zu orientieren. Dazu brauchen sie jedoch eine Phase der Selbstbezogenheit, in der sie die kindlichen Rücksichten zurückfahren und deutlich Abgrenzung markieren. Genau das ist es ja, was Eltern an den Teenagern nervt, die eben noch ihre braven Kinder waren.

Diese Abnabelung, sofern sie denn gelingt, erfahren Jugendliche als eine persönliche Emanzipation. Sie setzt nämlich Bindungsenergien frei, die plötzlich für eigene Projekte zur Verfügung stehen und deren Fliessen nicht selten einen fast manischen Rausch auslöst. Die hohe Intensität gerade dieses Gefühlszustands kann allerdings auch dazu führen, dass sich der junge Mensch an Gruppen und Meinungen fixiert, in die er mehr oder weniger zufällig hineingeraten ist.

So rufen eigentlich alle Bewegungen, die mit einem alternativen bis revolutionären Anspruch auftreten, das psychische Muster des juvenilen Übergangs ab, welches den Fokus vom Herkommen auf ein unbestimmtes Neues verschiebt. Und diesen Bewegungen braucht es keineswegs zwingend um die Emanzipation ihrer Anhänger zu gehen. Sekten tun es durchwegs, radikalisierte politische Gruppierungen sämtlicher Couleur ebenso, und die Faschisten in Italien und Deutschland waren Meister darin. Selbst die Rattenfänger der Konsumkultur setzen auf die Verführungskraft, die von der Vorstellung ausgeht, sich durch einen eigenen Akt von andern zu unterscheiden – selbst wenn es sich nur um die Wahl eines Markenartikels handelt.

Kulturrevolution im Westen

Seit der Aufklärung ist im Westen die Idee der Emanzipation mit dem Eintreten für individuelle Freiheit verknüpft. Wenn die Macht von einem eindeutigen Zentrum ausgeht und die Menschen im Namen eines gesellschaftlichen Ganzen zu homogenisieren versucht, dann bieten die mündigen Einzelnen dazu das natürliche Gegengewicht. 

Doch genau diese Bedingung ist seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts nicht mehr umstandslos gegeben; denn es kam – nicht zuletzt im Gefolge von 68 – zu einem Umsturz auf der Ebene der sozialen Logiken. Wie Reckwitz etwa aufzeigt, verlor da das Allgemeine seinen Vorrang, und die «Logik des Singulären», die als Gegenkonzept bisher underground war, übernahm das Zepter. 

Das heisst natürlich nicht, dass die «Logik des Allgemeinen» nun verschwunden wäre. In der Produktionssphäre sowie in den globalen ökonomischen Spielregeln bleibt sie weiterhin bestimmend. Aber auf der Oberfläche der Alltagskultur ging das Zeitalter von Konvention und Standardisierung zu Ende. Hier erhob sich der Individualismus selbst zu einer Art Norm, wodurch er allerdings die Funktion einer utopischen Alternative verlor.

Konvention mit negativem Vorzeichen

Unter der «Logik des Allgemeinen» wird der Einzelfall an einem gegebenen unveränderlichen Muster gemessen, und was dem nicht entspricht, ist zu verwerfen. Für die Menschen bedeutet das, sich den Konventionen anzupassen, alles Abweichende von sich wegzuschneiden und all jene auszugrenzen, welche das entsprechende Opfer verweigern. So entsteht eine Gesellschaft der konfektionierten Identitäten, in der Opportunismus und Duckmäusertum jede Eigenheit auslöschen. Das Schreckbild einer Welt, die unter der Knute eines mausgrauen «Man» steht und unter den Zwängen des Immergleichen erstarrt ist.

Davon versprach die individualistische Revolte über fast ein Jahrhundert hinweg Erlösung; doch genau die bleibt der real existierende, konkurrenzgetriebene Individualismus der Gegenwart schuldig. Und zwar darum, weil auch er die Einzelnen nicht wirklich zu sich selbst kommen lässt, sondern ihnen die permanente persönliche Differenzierung zwingend vorschreibt. So stellt er im Grunde nichts anderes dar als eine Konvention mit negativem Vorzeichen: Alle haben jetzt unausgesetzt ihre Eigenheit zur Schau zu stellen, um sich Respekt zu sichern – ein Programm, das seinem Wesen nach konsumistisch ist, weil es weitgehend über materielle Marker verläuft, über Produkte und Dienstleistungen nämlich, die einen vom Durchschnitt abheben sollen.

Das Perfide dabei: Diese allgemeine Jagd nach exquisiter Besonderheit lässt sich durchaus als lustvoll erfahren. Sie spricht nicht zuletzt das juvenile Abgrenzungsbedürfnis an und kann Freiheitsgefühle auslösen, die durch ihre Intensität rasch einmal süchtig machen. Der Spass ist allerdings nicht billig und dauert nur so lange an, als man ihn sich leisten kann. All denjenigen, deren ökonomische Spiesse zu kurz sind, bleibt ohnehin nur der Kater.

Teile und herrsche

Wirklich fatal ist aber etwas anderes: Unter der «Logik des Singulären» wird das Allgemeine an sich abgewertet. Das schlägt dann auch durch auf das Verhältnis, das wir zu Konzepten wie Objektivität, Faktizität oder Wahrheit unterhalten. Die heute verbreitete, teils obsessive Skepsis gegenüber der Wissenschaft ist von daher kein Zufall. Viele wollen vor allem eines: nicht mehr Durchschnitt sein, also nicht länger an gemeinschaftlichen Vorstellungen teilhaben. Da hilft es dann, in Schutzimpfungen übergriffige staatliche Zwangsmassnahmen zu sehen, obskuren Ernährungslehren oder neuesten Verschwörungstheorien anzuhängen. Auch alternative Fakten haben etwas Originelles. Hauptsache, man steckt nicht im Mainstream.

Sogar ein Grundpfeiler der demokratischen Ordnung kommt darüber ins Wanken: der Mehrheitsentscheid. Wer zur Mehrheit gehört oder sich contre coeur auf deren Meinung verpflichten lässt, hat nach der singularisierenden Logik immer schon seine Besonderheit verraten. Die lässt sich weit besser pflegen in Nischen, seien das politische oder private. Genau das führt in letzter Konsequenz zu zwei Phänomenen, die derzeit beunruhigen: zum Rückzug vieler aus dem öffentlichen Raum und zur Zersplitterung der Parteienlandschaft, welche den Handlungsspielraum der Parlamente verengt. Die könnten so – wie einst im Nazi-Jargon – als Schwatzbuden und damit überflüssig erscheinen.

Die verordnete Zwangsdifferenzierung, die uns aktuell als ultimative Freiheit verkauft wird, spielt in Tat und Wahrheit die Einzelnen gegeneinander aus und vereinzelt sie. Tief eingesenktes Konkurrenzdenken verhindert nicht nur die Bildung breiterer Solidaritäten, sondern zersetzt auch das Gespür für Verbindlichkeit, die den Augenblick überdauert. Beides wäre aber Voraussetzung für ein entschiedenes politisches Handeln, das sich zukunftsgerichtet den Herausforderungen der Gegenwart stellen könnte. So haben wir zwar einen Jahrmarkt der fast unbegrenzten individuellen Freiheiten, und trotzdem will kein rechtes Glück aufkommen. Denn über dem Tanz lastet für viele der Schatten realer Ohnmacht.

Ohne Alternative

Dass die traditionellen Volksparteien allerorts erodieren, wird einem Mangel an Visionen zugeschrieben, der Unfähigkeit, den Wählern Perspektiven aufzuzeigen. Für dieses Manko allerdings gibt es einen tiefen strukturellen Grund in der geistigen Verfassung der postindustriellen Gesellschaften, nämlich den Umstand, dass zentrale Konzepte der Gegenkultur von der marktliberalen Ideologie gekapert wurden. Über dieser unfreundlichen Übernahme ist die Differenz zwischen Realität und Utopie in sich zusammengebrochen, an der sich die Menschen über mehr als ein Jahrhundert hinweg orientieren konnten. Es gibt quasi kein Draussen mehr.

Ein Indiz für diese Verklumpung bildet die Leichtigkeit, mit der heute reformpädagogische Methoden in Bildungskonzepte integriert werden, welche junge Menschen für den Arbeitsmarkt fit trimmen sollen. Individualisierung ist zwar das Motto, doch es geht längst nicht mehr darum, die Einzelnen zu sich selbst zu bringen; Ziel ist vielmehr, durch eine Optimierung der individuellen Lernprozesse eine Effizienzsteigerung bei der Ausbildung zu erreichen. Was also einst emanzipatorisch angedacht war, dient aktuell der Funktionalisierung der Menschen.

In der herkömmlichen bürgerlichen Gesellschaft konnten alle, die unter den Anpassungszwängen litten, einen utopischen Leitstern finden, der Aufbruch versprach. Heute ist dieser Leitstern auf den Boden der Realität heruntergeholt, gewissermassen gebannt in die Virtualität einer Projektion, die den Besuchern des Planetariums täglich vorgespielt wird. Den Menschen, die sich in der «Gesellschaft der Singularitäten» als Verlierer fühlen, fehlt schlicht die Aussicht auf ein Anderes, welche Hoffnung wecken könnte. Wer aber keine Alternative sieht, wählt in aller Regel das ganz Falsche, in diesem Fall oft das Vorgestrige: autoritär-patriarchale Muster, religiöse Fundamentalismen oder die braunstichige Vorstellung von der Volksgemeinschaft. Es scheint in der Tat nur die Wahl zu geben zwischen einem perspektivlosen Status quo oder dem grossen Sprung zurück.

Der grüne Horizont

Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Ziemlich unerwartet ist zwischen den Fronten der Liberalen und der Reaktion eine neue Kraft aufgetaucht, die dazu beitragen könnte, das fatale Patt zu durchbrechen. Die Umweltbewegung steht dem selbstbestimmten Individuum grundsätzlich offen gegenüber, sieht es aber als Teil eines grösseren Ganzen und entsprechend zu Rücksichten verpflichtet. Es wäre zu wünschen, dass die grüne Welle die Potentiale der juvenilen Absetzung auf eine neue Richtung hin mobilisieren und die Menschen für einen Individualismus gewinnen kann, der nicht den Kampf aller gegen alle bedeutet, der auch nicht mehr auf der schonungslosen Ausbeutung von Menschen wie der Natur basiert.

Das zumindest wäre eine neue Utopie, die eines ernüchterten Individualismus, der sich nicht länger am Taumel des Augenblicks berauscht, sondern bereit ist, Grenzen zu akzeptieren, ohne aber die Gesellschaften gleich einer neuen Kollektivierung zu unterziehen. Dieser Individualismus liesse Empathie zu genau wie Solidarität. Vor allem aber würde er sein Handeln an vernünftiger Einsicht orientieren, d.h. auf Nachhaltigkeit ausrichten. Es wäre ein Dritter Weg, angelegt auf eine Balance zwischen dem Allgemeinen und dem Singulären. So wäre er vielleicht in der Lage, die globale Öffnung mit der Begrenztheit des Planeten in Einklang zu bringen.

Images: 
Media slideshow teaser: 

Heimweh kommt von Heimat

$
0
0

Im stotzigen Appenzellerland hat die ehemalige chinesische TV-Reporterin Yu Hao eine Heimat gefunden – und mit und dank ihr das Heimweh entdeckt. Davon erzählt ihr Dokumentarfilm „Plötzlich Heimweh“ (*), eine spannende, anregende Auseinandersetzung mit Identität, Nähe und Zugehörigkeit.

Heimweh

Glücklich der Mensch, der eine Heimat hat, weiss der Volksmund. Aber kann der Mensch vielleicht sogar überglücklich sein und zwei Heimaten haben? Heimaten? In seiner Mehrzahl ist das Wort eher ungebräuchlich. Das spricht schon mal gegen unsere These.

Yu Hao, heute 42, war jahrelang als Reporterin des staatlichen chinesischen Fernsehens unterwegs und ist zweifellos eine kosmopolitische Erscheinung. Bei einer ihrer Reportagen lernte sie den Appenzeller Ernst Hohl kennen, Innenarchitekt und Unternehmer, heute 76, als Geschäftsmann und als Kulturkenner ähnlich vielseitig unterwegs wie sie. Daraus wurde Liebe, und Yu Hao zog von Peking nach Urnäsch, aus dem endlos riesigen China ins abgeschlossene, eng begrenzte Appenzellerland. Die Alpen, Hügel und Täler um Säntis und Altmann wurden ihr zur Heimat.

Auf einer Reise mit Ernst Hohl durch Asien, so erzählt Yu Hao, zivilrechtlich inzwischen Hao Hohl-Yu, habe sie plötzlich ein ihr bisher unbekanntes neues Gefühl verspürt: Heimweh. Heimweh nicht etwa nach China, nein, Heimweh nach Urnäsch.

Wichtige Ausstellung

„Der Mensch hat nur eine Heimat“, folgert Yu Hao aus diesem Erlebnis, und sie habe sie erst im Appenzellerland gefunden, wo sie seit nunmehr 13 Jahren lebt. Als Reporterin sei sie nur „immerzu herumgereist“ und „nirgendwo zu Hause“ gewesen. Sie habe sich selber als Beobachterin empfunden, als Aussenseiterin geradezu, nicht als Zugehörige. Da stutzen wir dann doch. Warum soll nicht auch der Aussenseiter, die Aussenseiterin ein Bedürfnis nach Heimat haben – und einen Anspruch auf Heimat erst recht? Die selbsternannten Heimatbesitzer und Heimatverwalter allerorts, die gerne bestimmen würden, wer dazugehört und wer nicht – die kennen wir doch. Ihr Spiel wollen wir nicht mitspielen.

Also: Stimmt das denn wirklich, das mit der einen, ausschliesslichen Heimat? Kann der Mensch nicht auch zwei (oder mehr) Heimaten haben? Wenn wir bei Yu Haos Kommentar zu ihren stimmungsvollen, vorzüglich geschnittenen Bildern aus China und aus dem Appenzellerland genau hinhören – zum Beispiel dann, wenn sie ihre ehemaligen Schulfreundinnen in Peking trifft und mit ihnen über Nähe spricht und über Zugehörigkeit –, dann denken wir doch: Nicht allein Appenzell, auch China ist für Yu Hao wesentlich Heimat.

Für diese Vermutung spricht noch ein anderes, überaus starkes Indiz: Als Kuratorin des Museums Haus Appenzell, das Ernst Hohl seit Jahren mitten in der Zürcher City betreibt, schafft Yu Hao bei ihren Ausstellungen immer wieder Parallelen zu ihrer ursprünglichen Heimat, entdeckt Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den volkskundlichen Manifestationen der Schweiz und Chinas. Aktuell sind da, unter dem Titel „Zuckerschleck & Mehlgebäck“, gerade Lebkuchen und Biberfladen aus dem Appenzellischen und Teigfiguren aus China zu sehen, und damit sowohl Geissen, Bläss und Sennenchutte aus dem Alpstein als auch Fische, Tiger und Lotusblumen aus Asien. Das bestärkt uns doch sehr in unserer Überzeugung: Jemand, der einen so wachen, intimen Zugang pflegt zur Volkskultur zweier Länder, der hat wohl auch – mindestens – zwei Heimaten.

(*) „Plötzlich Heimweh“. Ein Film von Yu Hao, 79 Minuten

„Zuckerschleck & Mehlgebäck“. Teigfiguren und Zuckerkunst von Appenzell bis China. Ausstellung im Haus Appenzell, St. Peterstrasse 16, 8001 Zürich (bis 25. April 2020).

Category: 
Media slideshow teaser: 

Bertrand Russell

$
0
0

Menschen, die immer daran denken, was andere von ihnen halten, wären sehr überrascht, wenn sie wüssten, wie wenig die anderen über sie nachdenken.

Todesauffassungen im Wandel

$
0
0

Über Jahrtausende lebten die Menschen mit einem vertrauten, allgegenwärtigen Tod. Wie der Todesforscher Philipp Ariès schrieb, war lange Zeit eine naïve und spontane Fügung ins Schicksal und in den Willen der Natur vorherrschend. Der Tod gehörte als Teil des Alltagslebens immer dazu. Er wurde als ständig präsente Selbstverständlichkeit wenig reflektiert.

Der selbstverständliche Tod

Die Menschen fühlten sich früher nicht so sehr als Individuen, sondern viel mehr als Teil einer Familie, einer Sippe und eines Volkes. Eine stärker im Kollektiv und weniger im Einzelnen verankerte Identität war durch den Tod weniger bedroht. Das Verlöschen einer in der grösseren Gemeinschaft verwurzelten und von ihr durchdrungenen Identität wurde durch das Überleben der anderen aufgefangen. Der Tod des Einzelnen war die fraglos akzeptierte Voraussetzung für das Stirb und Werde der Gemeinschaft.

Feste, über Generationen entwickelte und gültige Rituale begleiteten Sterben und Tod, stützten die Beteiligten und stärkten das durch den Verlust geschwächte Netz der Gemeinschaft. Der Gemeinschaftskörper heilte so die Wunde, die ihm mit dem Tod eines Mitgliedes geschlagen worden war.

Die Tabuisierung des Todes im 20. Jahrhundert

Die fortschreitende Individualisierung und Säkularisierung der späten Neuzeit veränderten die Bedeutung des Todes. Der Tod des desintegrierten Individuums wurde nicht mehr durch das Fortbestehen der Gemeinschaft gemildert. Die Verankerung in der Religion lockerte sich und mit ihr der Glaube an das Weiterleben nach dem Tod. Das kleine Individuum stand dem grossen Tod zunehmend schutzlos gegenüber. Deshalb durfte es den Tod nicht geben. Im 19. Jahrhundert setzte langsam die Verdrängung und Tabuisierung des Todes ein. Leo Tolstois Novelle „Der Tod des Ivan Illich“ illustriert mit dem erschütternden Portrait eines einsam Sterbenden den Beginn dieser Entwicklung.

Die medizinische Wissenschaft erzielte gewaltige Fortschritte, und die Lebenserwartung stieg. Eine positivistische Wissenschaftsgläubigkeit ersetzte bei vielen die Religion. Das Bewusstsein, sterblich zu sein, wurde von den Bemühungen zugedeckt, das Leben durch medizinische Eingriffe zu erhalten. Mit der zunehmenden Medizinalisierung verlagerte sich das Sterben vom Zuhause in die Institutionen. Die Verantwortung für die Sterbenden ging von den Angehörigen auf die Ärzte, die Spitäler und die Pflegeheime über. Der Tod verschwand aus dem alltäglichen Leben und versteckte sich hinter den Mauern der Institutionen. Es war einfach, den Tod zu ignorieren und seine kollektive Verdrängung mitzumachen. Das Ausblenden der eigenen Vergänglichkeit wurde zur Norm. Im 20. Jahrhundert war der Tod so tabuisiert, dass er oft nicht einmal zwischen den Angehörigen und den Sterbenden thematisiert wurde. Viele Ärzte glaubten, ihre Patienten zu schützen, wenn sie ihnen verschwiegen, wie es um sie stand. Sowohl Patienten wie Ärzte verleugneten den Tod.

Die Tabuisierung des Todes, seine Verdrängung und der Versuch, ihn zu ignorieren, verstärkten seine dunkle Seite. Die Angst vor dem Tod wurde so gross, dass man ihn kaum beim Namen zu nennen wagte. Solange der Tod verdrängt wird, macht er Angst. Der verdrängte Tod reist im Hinterkopf mit und füllt ihn mit den bedrohlichen Todesbildern, die immer noch nachwirken.

Die Auflösung der Todesverdrängung im 21. Jahrhundert

Die Todesverdrängung des 20. Jahrhunderts löst sich gegenwärtig auf. Wir erleben in der Schweiz ein rasantes Umschwenken des gesellschaftlichen Konsenses, was Sterben und Tod anbelangt. Das öffentliche Interesse richtet sich auf den eben noch unsichtbaren Tod. Sterben und Tod treten aus dem Schatten der Tabuisierung hervor und werden breit diskutiert. Die Medien tragen eine Entwicklung voran, die einen neuen Umgang mit dem Sterben und dem Tod ermöglichen. Innert kurzer Zeit wandelte sich Undenkbares zu beinahe schon Selbstverständlichem. Die Auflösung der gesellschaftlichen Verdrängung des Todes öffnet das Feld für neue Sichtweisen. Aus der Todesverdrängung des 20. Jahrhunderts aufgewacht, suchen wir nach eigenen Zugängen.

Die Ausweitung der Selbstbestimmung

Seit der Neuzeit geht der Trend in Richtung Selbstbestimmung. Autoritäten verlieren ihre Macht, und der Einzelne beansprucht mehr Entscheidungsfreiheit. Früher war die Kirche für den Tod zuständig, dann die medizinische Wissenschaft. Unterdessen haben kirchliche Verhaltensanweisungen ihre Verbindlichkeit verloren. Zudem sind die Götter in weiss vom Olymp gestiegen und mehr als Informanten, und weniger als Entscheidungsinstanzen unterwegs. Die geburtstarken Nachkriegsjahrgänge nähern sich dem Tod. Diese Generation hat in jeder Lebensphase das Überkommene umgekrempelt und beginnt sich mit dem Tod auseinanderzusetzen. Sie beansprucht das Mitspracherecht. Heute stirbt eine steigende Zahl von Menschen aufgrund von medizinischen Entscheidungen. Eine Behandlung wird abgebrochen oder nicht eingeleitet. Jemand entscheidet. Und da sind immer häufiger die Betroffenen mitbeteiligt. Der Bereich der Selbstbestimmung hat sich ausgeweitet.

Die aktive Sterbehilfe

Ein neues kollektives Todesbewusstsein zeigt sich am deutlichsten bei der aktuellen Diskussion um die aktive Sterbehilfe. Für das Jahr 2018 registrierte die Schweizer Mediendatenbank 1’200 Beiträge mit den Stichworten „Sterbehilfe“ und „Suicide assisté“. Das sind gut doppelt soviele Beiträge wie vor 15 Jahren.

Die aktive Sterbehilfe rückt gegenwärtig in den Bereich des ungehindert Denkbaren. Sterbewillige Menschen können in der Schweiz zunehmend ihre jeweiligen Umstände abschätzen und dementsprechend handeln. Die aktive Sterbehilfe am Ende des Lebens ist mittlerweile eine von vielen Menschen akzeptierte Option geworden.

Unter dem Druck der Patienten, die aktive Sterbehilfe forderten, kam es im Jahre 2018 in der Schweizer Ärzteschaft zu einer Auseinandersetzung über die Rahmenbedingungen für den begleiteten Freitod. Die Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) hatte der Ärztekammer des Berufsverbandes der Schweizer Ärzte (FMH) eine Lockerung der Auflagen für die aktive Sterbehilfe vorgeschlagen. Das wurde von der FMH zwar abgelehnt, aber die Diskussion ist im Gange. Die Rolle des Arztes verändert sich. Ein partnerschaftlicheres Arzt-Patienten-Verhältnis bezieht zunehmend den Patienten soweit möglich in die Entscheidungsfindung mit ein. Es steht eine grundsätzliche Neudefinition der Aufgabe der Ärzte an. Leben zu erhalten, reicht nicht mehr. Auch die Kunst der Sterbebegleitung gehört im 21. Jahrhundert zum ärztlichen Pflichtenheft. Das Ziel wäre eine humane Sterbekultur, die Sterbehilfeorganisationen überflüssig macht.

Entlastung durch Selbstbestimmung

Selbstbestimmung führt kaum jemals zur aktiven Sterbehilfe. Der Freitod als extremer Pol des Selbstbestimmungskontinuums wird sehr selten gewählt. Von den 120’000 Mitgliedern der Sterbehilfeorganisation „Exit“ gehen weniger als ein Prozent mit aktiver Sterbehilfe aus dem Leben. Eine Option ist noch keine Wahl. Die beruhigende Begleitung durch diese Option auf dem oft langen Weg zum Tod mildert das Leiden und die Angst vor dem kommenden Sterben. Alle hoffen auf einen guten und natürlichen Tod, aber es ist tröstlich zu denken, dass man soweit wie möglich selbst entscheiden kann. Die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe verbessert die Lebensqualität im Alter.

Selbstbestimmung und Loslassen

Sterben bedeutet letztlich Verlust und Aufgabe jeglicher Kontrolle, ist also das Gegenteil von Selbstbestimmung. Und doch ist das selbstbestimmte Sterben kein Widerspruch in sich selbst. Selbstbestimmung am Lebensende heisst nicht, den Tod verfügbar machen zu wollen. Manchmal muss das eigene Sterben gegen Übergriffe verteidigt werden. Die Selbstbestimmung ermöglicht die Partnerschaft mit dem Tod. Der Sterbende spürt, wann er die Grenze zum Land des Todes erreicht hat. An diesem Punkt heisst es, das Steuer aus der Hand zu geben, um sich dem Tod zu überlassen. Die Selbstbestimmung am Lebensende dient mehrheitlich dem Schutz des inneren und des äusseren Raumes, in welchem das Loslassen des Selbst geschehen kann.

Zur Ethik der Selbstbestimmung

Der Fokus der ethischen Diskussion um die Selbstbestimmung hat sich bewegt. Während es früher um ihre Rechtfertigung ging, verlangt heute die sich etablierende Selbstbestimmung am Lebensende nach einer ethischen Einbindung. Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht, das wie alle Rechte auch Pflichten in sich birgt, sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft. Wird selbstbestimmtes Sterben selbstverständlicher, entsteht die Gefahr, dass alte Menschen unter Druck kommen könnten, zu gehen. Parallell zur Liberalisierung braucht es eine gesellschaftliche Sensibilisierung für Missbrauchsmöglichkeiten und Massnahmen dagegen. In der Schweiz schützt die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) die Schwachen und verhilft ihnen zu ihrem Recht.

Selbstbestimmung am Lebensende muss verantwortungsvoll ausgeübt werden. Es geht dabei um Selbstverantwortung, um Rücksichtnahme gegenüber Angehörigen und um gesellschaftliche Solidarität. Dazu gehören ganz konkret das Gespräch mit den Angehörigen, die Regelung der Nachfolge und das Erstellen von Testament, Patientenverfügung und Vorsorgeauftrag. Der verdrängte Tod verführte zur Verantwortungslosigkeit. Solange es der gesellschaftliche Konsens erlaubte, den Tod zu ignorieren, musste man sich mit ihm nicht auseinandersetzen – auch nicht mit den Konsequenzen des eigenen Todes für andere. Das sieht heute anders aus. Wer in reiferen Jahren seinen Nachlass nicht an die Hand nimmt, verdrängt zuviel. Verantwortung erfordert rechtzeitiges Handeln. Verantwortungsvolle Selbstbestimmung verhilft zu guten Entscheidungen.

Category: 
Media slideshow teaser: 

Filmkritik ohne Happy End?

$
0
0

Das jetzt erschienene Buch «Freie Sicht aufs Kino – Filmkritik in der Schweiz», herausgegeben von Philipp Brunner, Tereza Fischer und Marius Kuhn, könnte als Zusammenfassung des Inhalts auch heissen «Versperrte Sicht aufs Kino – Filmkritik in der Krise».

Pflichtlektüre für Ignoranten

Jedenfalls handelt es sich um eine Pflichtlektüre für alle jene, die dies für eine Zumutung halten, nämlich die der überwunden geglaubten Tradition anhängenden Medienchefs, der Film sei Jahrmarkt, weshalb die kritische Auseinandersetzung in den Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehprogrammen an den Rand und schliesslich völlig aus dem Angebot gekippt werden dürfe.

Aus Kostengründen und zur vermeintlichen Freude des Publikums, das den Kinos mehr und mehr fernbleibe, weil von den Mobilgeräten gefesselt. Dass dort auch Filme geschaut werden, entgeht dem verengten Blick auf die Realität.

Als Gegenbeispiele ragen DRS 2 und SRF 2 Kultur heraus, die dem Film journalistisch treu bleiben und damit den Service public glaubwürdig konkretisieren.

«Den Leser bereichern»

Selbstverständlich ist das Buch, aus Anlass des 60-Jahr-Jubiläums der Zeitschrift «Filmbulletin» publiziert, auch ein Gewinn für jene, die sich mit höher geschraubten Ansprüchen für Filme interessieren, und insbesondere, last but not least, für Kritikerinnen und Kritiker, die in der audiovisuellen Sintflut sachkundig bewertend für Übersichtlichkeit sorgen und nach Perlen suchen.

Diese Tätigkeit besteht nach André Bazin, Mitbegründer der legendären «Cahiers du Cinéma», darin, «dem Leser zu helfen, sich im Kontakt mit dem Werk intellektuell, moralisch und in seiner Sensibilität zu bereichern». Der fast siebzig Jahre alte Satz ist noch aktuell.

Plädoyer für eine umfassende Geschichte

Geändert haben sich die Bedingungen der filmkritischen Arbeit. Sie entwickelt sich hin zur brotlosen Kunst, die unter dem wachsenden Druck der Produzenten, Regisseure und Verleiher mit immer geringerem Platz und weniger Personal ausgeübt werden muss und konfrontiert ist mit einer formal explodierenden Audiovision.

«Freie Sicht aufs Kino» schildert die Anfänge der Filmkritik in der Schweiz, analysiert die gegenwärtige Situation, mutmasst über die Zukunft, befasst sich mit den beruflichen Standards und Qualitätskriterien und den Auswirkungen des von den klassischen Medien zu den Online-Medien wechselnden Filmjournalismus.

Zahlreiche Themen und Probleme werden gestreift. Das genügt, um Fragen aufzuwerfen, aber mangels Vertiefung lediglich skizzenhaft beantworten zu können. Das Buch betont selbstkritisch seine Vorläufigkeit und versteht sich als anregendes Plädoyer für die Notwendigkeit einer umfassenden Geschichte der Schweizer Filmkritik. Sie wäre übers Fach hinaus kultur- und gesellschaftshistorisch wichtig.

Betulichkeit ist langweilig

Allerdings nährt «Freie Sicht aufs Kino» auch die Vermutung, die Filmkritik könnte ihre Krise mitverschuldet haben. Was sich Kritik nennt, ist oft eine unreflektierte Lobhudelei. Filme werden mit Samthandschuhen angefasst, obwohl ein kräftiges Zupacken geboten wäre. Vor allem Schweizer Filme sind die Begünstigten eines Gefälligkeits-Journalismus, der Schwächen verschweigt, dies als Fürsorge begreift und den gegenteiligen Effekt ausblendet. Mit Streicheleinheiten werden aus Dilettanten keine Genies.

Auch eine Filmkritik, die sich bloss auf Pressemappen stützt, Inhalte raffend nacherzählt, für die Beurteilung im moralischen Schrebergarten der Schreibenden verharrt und sprachlich schlottert, verfehlt ihre Aufgabe. Betulichkeit ist überdies langweilig.

Freude an Kontroversen

Die Messlatte liegt höher. Spezialkenntnisse, die Orientierungsfähigkeit in der umstürzenden Filmszene, die produktionell und inszenatorisch Kreativschub um Kreativschub erlebt, eine Neugier offenen Geistes und die Berücksichtigung veränderter Informationsgewohnheiten des Publikums sind unerlässlich. Gekoppelt mit dem Standvermögen gegen ökonomische Pressionen, die den Journalismus zur Unterwerfung unters PR-Diktat zwingen wollen.

Gerade darum ist eine kompetente und unabhängige Filmkritik erforderlich. Eine, die weder säuselt noch im Mainstream mitschwadert, sondern Meisterwerke und Machwerke beim Namen nennt und mit der Freude an Diskussionen beflügelnden Kontroversen Klartext redet. In dieser Richtung vermittelt das Buch ebenfalls wertvolle Impulse.

«Freie Sicht aufs Kino – Filmkritik in der Schweiz», herausgegeben von Philipp Brunner, Tereza Fischer und Marius Kuhn, mit Beiträgen zahlreicher Autorinnen und Autoren, Schüren Verlag GmbH, Marburg 2019, 176 Seiten

Category: 
Tags: 
Media slideshow teaser: 

Gustav Heinemann, 3. deutscher Bundespräsident, 1899–1976

$
0
0

Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.

Schneckenpost und Omifon

$
0
0

Bislang gilt die Regel, dass Briefe innerhalb von einem, maximal von zwei Tagen nach Aufgabe vor der letzten Tagesleerung ausgeliefert werden müssen. Dies sei, so der zustände Vorstand der Deutschen Post, Tobias Mayer, auch ökologisch nicht mehr zu rechtfertigen. Denn um diese Vorgaben einzuhalten, würden viele Briefsendungen nachts mit Flugzeugen transportiert. Das wolle man künftig vermeiden.

Die politisch Verantwortlichen in Berlin schalteten sofort auf Empörung. Die Post sei eh schon zu schlecht und zu teuer und jetzt wolle sie noch langsamer werden. Diese vorhersehbare Reaktion entspricht ganz der Kurzatmigkeit des gegenwärtigen Politikbetriebes. Doch dürfte sie bei der Post für ziemliche Aufregung sorgen.

Das wäre vermeidbar gewesen. Während manche Minister in Berlin mit Beraterhonoraren nur so um sich werfen, haben die Verantwortlichen bei der Post daran wohl allzu sehr gespart. Und so ist ihnen entgangen, dass die langsamere Briefbeförderung eigentlich eine geniale Marketingidee sein könnte.

Neudeutsch würde ein Marketingberater vom USP sprechen. Hinter der Abkürzung verbirgt sich der „Unique Selling Point“, der ein Produkt unwiderstehlich machen soll. Demnach ist die Langsamkeit der Briefe ihr „Alleinstellungsmerkmal“. In einer Zeit der immer schnelleren elektronisch versandten Nachrichten sind Briefe so etwas Ähnliches wie die unberührte Natur, nach der sich alle Pauschalreisenden sehnen. Denn sie enthalten etwas ähnlich Unberührtes: Zeit, die nicht im hektischen Jetzt kleingehackt wurde.

Man sollte allerdings unterscheiden zwischen Briefen und anderen Postsachen wie Rechnungen, die wie Briefe versandt werden. Rechnungen sind keine Briefe, auf die der Empfänger sehnsüchtig wartet. Der Brief aber hat seine eigene Magie. Wer einen Brief schreibt, befindet sich in einem anderen Modus als beim Tippen von Nachrichten. Er übt grössere Sorgfalt und er weiss, dass der Empfänger nicht unmittelbar erreicht wird. Die Zeit schafft Distanz und zugleich Intimität.

Dafür ist die gute alte Post unverzichtbar – ob mit kürzeren oder etwas längeren Zustellzeiten. In Frankfurt haben sich jetzt Schriftsteller mit dem Wahn auseinandergesetzt, grundsätzlich das Neue und das Schnellere für das Bessere zu halten. So fragte Jochen Schmidt, der den Roman „Schneckenmühle“ geschrieben hat, warum ein funktionierender Wasserkocher unbedingt gegen ein Gerät voller anfälliger Elektronik eingewechselt werden müsse, das sich dann noch mit „dem Internet der Dinge“ verbinde. Und warum muss das alte Festnetztelefon, Schmidt nannte es „Omifon“, unbedingt gegen ein Handy mit Überwachungssoftware ausgewechselt werden? Vielleicht sollte die Post einmal ein paar Schriftsteller zu sich einladen.

Category: 
Media slideshow teaser: 

Schwarze Wolken

$
0
0

An diesem Sonntag nehmen Ursula von der Leyen und ihr Team ihre Arbeit auf. Die EU strotzt zur Zeit nicht gerade vor Stärke. Da und dort herrscht eine schwelende Europamüdigkeit. Da gibt es Polen und Ungarn und die Europafeindlichkeit der Rechtspopulisten. Da gibt es die grossen Sprüche der Politiker und ihr letztlich fehlender Wille, in der Klimapolitik und bei anderen wichtigen Themen wirklich weiterzukommen. Und es gibt Donald Trump, die Chinesen und die Russen, die alles tun, um Europa zu schwächen. In solchen Zeiten wäre es überlebenswichtig, zusammenzustehen, die europäische Idee neu zu beleben, ihr Wind in die Segel zu blasen. Doch nichts geschieht. Von Macron hört man ab und zu ein laues europäisches Bekenntnis. Und das war’s dann. Die 28 EU-Staaten sind mit sich selbst beschäftigt und kümmern sich kaum noch um Europa.

Jetzt droht eine neue, tiefgreifende Gefahr: Der italienische Rechtspopulist Matteo Salvini hat zwar eine Schlacht verloren und wurde aus der Regierung geworfen. Doch die Gefahr ist gross, dass er den Krieg gewinnen wird. Die jetzige Regierung in Rom ist schwach. Die Regierungspartner, die Sozialdemokraten und die Cinque Stelle liegen sich immer mehr in den Haaren und blockieren sich. Der Sieg Salvinis bei den Regionalwahlen in der „roten“ Region Umbrien war für die Regierung Conte ein psychologischer Tiefschlag. Er gilt vielen als Anfang vom Ende der Römer Regierung. Bald finden wieder Regionalwahlen statt, und zwar am 26. Januar in der Emilia Romagna, der wichtigsten „roten Hochburg“ Italiens. Sollte Salvini auch dort gewinnen, würde die Römer Regierung wohl bald zerbrechen. Dann gäbe es Neuwahlen, wie der Staatspräsident angekündigt hat. Und dann gewinnt Salvini. Die Wahlen in der Emilia Romagna (mit der Hauptstadt Bologna) sind also nicht nur von regionaler, sondern auch von nationaler Wichtigkeit. Und mehr noch: sie sind auch für Europa von höchster Bedeutung. Doch selbst wenn Salvini in der Emilia Romagna noch ganz knapp verlieren würde – kaum jemand glaubt in Rom, dass die jetzige Regierung lange überleben wird.

Salvinis Europafeindlichkeit ist bekannt. Seine Freunde sind Putin, Marine Le Pen und Viktor Orbán. Berüchtigt sind seine anti-demokratischen, fast „mussolinesken“ Sprüche („ich will die ganze Macht“). Italien ist für Europa wichtiger als Polen und Ungarn. Die Italiener gehörten zu den ersten feurigen Pro-Europäern. Das Land ist Gründungsmitglied der EU und viertgrösste europäische Volkswirtschaft. Man stelle sich vor, dieses Italien würde ins „illiberale“ rechtspopulistische Lager abrutschen und mit Orbán, Kaczyński, Le Pen, der AfD (und Putin) eine europakritische, anti-europäische Phalanx bilden. Das wäre ein schwerer Schlag für das freie Europa und würde die EU noch weiter zerreissen. Und Ursula von der Leyen hätte ein echtes Problem.

Category: 
Media slideshow teaser: 

Karl Marx

$
0
0

Alle Revolutionen haben bisher nur eines bewiesen, nämlich, dass sich vieles ändern lässt, bloss nicht die Menschen.

Was nun, Herr Khamenei?

$
0
0

Zwei Wochen nach dem Beginn der Unruhen kehrt im Iran langsam die Normalität zurück. Die Führung der Islamischen Republik zelebriert wie üblich ihren „Sieg über die Agenten der ausländischen Feinde“, Staatsoberhaupt Ali Khamenei und der Kommandeur der Revolutionsgarden, Hossain Salami, sprechen von „Ohrfeigen“ für die USA, Israel, Grossbritannien und Saudi-Arabien.

„Vom Ausland verführt“

Kein Anzeichen von Verständnis oder Mitleid für die Opfer der landesweiten Proteste, die wegen der Rationierung und Verteuerung von Benzin begonnen hatten und in regimekritische Proteste mündeten.

Die staatlichen Stellen widersprechen sich über den Umfang der Proteste und die Zahl der Teilnehmer*innen daran. Während Staatsoberhaupt Ali Khamenei und Staatspräsident Hassan Rouhani von „wenigen vom Ausland Verführten“ reden, gesteht der stellvertretende Kommandeur der Revolutionsgarden, Ali Fadawi, ein, dass die Unruhen 28 der 31 Provinzen und 100 Städte des Landes erfasst hatten. Der Chef der Agitationsabteilung der paramilitärischen Basidj-Milizen, Salar Abnoosh, spricht von „einem Wunder“, dass man die Unruhen habe kontrollierten können: „Es war wie ein Weltkrieg!“, so Abnoosh.

Zahlen, die sich ändern

Es gibt auch keine zuverlässigen Informationen über die Zahl der getöteten, verletzten und festgenommenen Personen. Amnesty International erhöht fast täglich die Angaben – zuletzt sprach die Menschenrechtsorganisation von 143 identifizierten Toten. Es soll mehr als 3’000 Verletzte gegeben haben. Der Sprecher des parlamentarischen Sicherheitsausschusses gab am Mittwoch die Zahl der Verhafteten mit 7’000 an. Doch all diesen Zahlen wird von den Beteiligten an den Protesten widersprochen. Niemand wisse, wie viele Protestler verhaftet wurden – und noch täglich verhaftet werden.

Das Internet

Mit dem Beginn der Proteste am 15. November wurde das Internet im Iran lahmgelegt, um die Verbreitung von Informationen über das Ausmass der Proteste und das Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstrierenden zu verhindern. Immer noch ist das mobile Internet nicht in Betrieb, und über das Festnetz haben die Bewohner der meisten Unruheprovinzen nur sporadischen Internetzugang.

Erst jetzt wird es möglich, Videoclips zu veröffentlichen, in denen die Proteste und das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte zu sehen sind.
Die Angehörigen mancher Getöteten berichten, dass sie immer noch die Leichen der Opfer nicht bekommen haben. Von anderen Familien haben die Behörden verlangt, keine öffentlichen Trauerfeiern zu veranstalten und über die Todesursache zu schweigen.

Wie soll es weitergehen?

Die Unruhen waren die Folge der Rationierung und Preiserhöhung für Benzin, denn der Staat braucht Mehreinnahmen. Die iranische Wirtschaft ist durch Missmanagement und Sanktionen schwer angeschlagen. Der Export von Erdöl ist um 90 Prozent gesunken. Hinzu kommt, dass der Transfer von Devisen aus dem Ausland in den Iran fast unterbrochen ist. Selbst die Überführung der Einnahmen aus dem Verkauf von kleinen Mengen Erdöl ist erschwert.

Laut Rouhani beträgt der Haushalt für das nächste iranische Kalenderjahr, das vom 21. März 2020 bis zum 20. März 2021 dauert, 450’000 Milliarden Tuman – das sind etwa 38 Milliarden US-Dollar. Die voraussichtlichen Steuereinnahmen des Staates liegen bei 150’000 Milliarden Tuman, also nur einem Drittel des Jahresbudgets; zwei Drittel sind damit ungedeckt.

Der Direktor der staatlichen Organisation für die Planung des Staatshaushaltes gab bekannt, dass der Iran zur Zeit zwar in der Lage sei, den eigenen Bedarf an Kraftstoff zu decken. Der niedrige Benzinpreis habe aber dazu geführt, dass grosse Mengen in die Nachbarländer geschmuggelt werden und der Benzinverbrauch auch im Inland zunimmt. Die Regierung habe mit der Preiserhöhung hauptsächlich zu vermeiden versucht, dass der Iran von importiertem Benzin abhängt.

Jugendarbeitslosigkeit 30 Prozent

Doch in einem Land, in dem nach offiziellen Angaben der staatlichen Arbeitergewerkschaft (Haus des Arbeiters) etwa 90 Prozent der Arbeiter*innen unter der Armutsgrenze leben und nach Angaben der Lehrergewerkschaft auch viele Lehrer*innen nach Schulschluss mit ihren PKW als Taxifahrer arbeiten, in einem Land mit einer Jugendarbeitslosigkeit von 30 Prozent und einer schwindelerregenden Inflationsrate ist die Erhöhung des Benzinpreises eine riskante Massnahme. Die Menschen fürchten – zurecht -, dass dadurch die ohnehin lähmende Teuerungsrate ins Unermessliche steigt.

Die Unruhen wurden brutal unterdrückt, haben aber der Zukunft der Islamischen Republik ihren Stempel aufgedrückt. Wenn bisher ein Teil der Jugendlichen und einige Teile der Gesellschaft ein kleines Licht für Reformen am Ende des Tunnels sahen, haben mit diesen Protesten, die für viele eine Fortsetzung derjenigen im Jahr 2017 waren, noch mehr Menschen ihre Hoffnung auf die Reformierbarkeit des Systems und eine Verbesserung der Situation im Iran aufgegeben.

Suche nach Möglichkeiten zur Auswanderung

Die Hoffnungslosigkeit treibt Tausende dazu, das Land zu verlassen. Iranische Medien berichten, dass seit der Wiederfreigabe des Internet-Zugriffes per Festnetz eine Erhöhung der Online-Suche nach Asylmöglichkeiten im Ausland und möglichen Wegen zum Verlassen des Landes zu beobachten ist.

Die Zahl der Unzufriedenen nimmt ständig zu und die Islamische Republik wird bei den nächsten zu erwartenden Protesten zu noch mehr Gewalt greifen müssen.

Oder sie wird, um sich aus der Krise zu retten, einen Krieg in der Region anzetteln. Schliesslich haben die heutigen Machthaber die Erfahrung gemacht, dass der Irak-Iran-Krieg in den Jahren 1980 bis 1988 zur Etablierung des islamischen Systems erheblich beigetragen hat. Alle innerstaatlichen Probleme wurden durch den äusseren Feind vertuscht. Nicht ohne Grund sagte der damalige Revolutionsführer Ruhollah Khomeini: „Der Krieg ist ein Segen.“

Diesen Beitrag publizieren wir mit freundlicher Genehmigung des Iran-Journals 

 © Iran Journal

Category: 
Location: 
Javad Kooroshy, Iran Journal
Media slideshow teaser: 

Le Corbusier in Zürich

$
0
0

Mit Ausnahme des Frühwerkes in La-Chaux-de-Fonds und Le Locle, das er in seinem Oeuvre complète mit Ausnahme der Villa Turque verschwieg, hinterliess Le Corbusier lediglich zwei bedeutende Bauten in der Schweiz: die Maison Clarté in Genf (1930/32) und den von Heidi Weber initiierten Pavillon in Zürich, der erst 1967, zwei Jahre nach seinem Tod, vollendet wurde. Nun wurde das Gebäude sorgfältig restauriert. Eine Monografie legt davon Zeugnis ab.

Wer den Pavillon besuchen möchte, sollte den Weg vom Bahnhof zum Chinagarten zu Fuss zurücklegen. Geht es zunächst lärmig und hektisch zu, betritt man am rechten Seeufer nach der belebten Strandpromenade eine grüne Oase, die mit verschiedenen kleinen Gebäuden und Skulpturen bestückt ist, darunter eine monumentale Skulptur von Henry Moore sowie die für die Expo 64 konstruierte Tinguely-Maschine «Heureka». Den Pavillon Le Corbusier muss man schon fast mit der digitalen Karte suchen, denn er steht zwar inmitten eines grosszügigen Rasens, ist jedoch von den Hauptwegen durch Bäume und Brüstungen abgeschirmt. 

1960 erteilte die Zürcher Innenarchitektin, Verlegerin und Galeristin Heidi Weber Le Corbusier den Auftrag für ein Gebäude, worin sie einerseits dessen Gesamtwerk mit Ausstellungen dokumentieren, andererseits ihre Privatsammlung zeigen wollte. Die Institution erhielt den Namen «Heidi Weber Museum – Centre Le Corbusier» und hielt den Betrieb – abgesehen von zwei Unterbrüchen – bis 2016 aufrecht. 2014 endete das Baurecht, und der Pavillon wurde von der Stadt Zürich übernommen, deren Amt für Hochbauten die Renovation beaufsichtigte. Unter der Leitung von Arthur Rüegg und Silvio Schmed fand eine sorgfältig ausgeführte Instandstellung statt. 

Seit Mai 2019 wird das Gebäude als Bestandteil des Museums für Gestaltung in den Sommermonaten wieder für Ausstellungen genutzt. Aus Anlass des Abschlusses der Renovationsarbeiten erschien im Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess eine schmale Monografie, die mit ausgezeichneten Fotos, Plänen und verdaubaren Texten ein etwas in Vergessenheit geratenes Juwel sozusagen wieder auferstehen lässt.

Innenansicht des Pavillon Le Corbusier in Zürich (KEYSTONE/Christian Beutler)
Innenansicht des Pavillon Le Corbusier in Zürich (KEYSTONE/Christian Beutler)

Das Werk nimmt in Le Corbusiers Gesamtschaffen eine Sonderstellung ein. Mit ihm verbindet man eher den schalungsroh belassenen Beton oder die Zurschaustellung von verputzten und mit den von ihm speziell entwickelten Salubra-Farben bemalten Fassaden. In Zürich jedoch wird der Beton lediglich für den massiven Aufgang zur Dachterrasse verwendet, doch dieser Block enthüllt sich einem erst, nachdem man die Schauseite umschritten hat. Der zweigeschossige und unterkellerte Kern – gedacht als ein Modell für ein Wohnhaus – setzt sich aus einem filigranen Stahlskelett zusammen, das mit Glas und mit monochromen Emailleplatten ausgefacht ist. Le Corbusier holte ein schon 1950 entwickeltes und patentiertes System für vorfabrizierte Ferienhäuser aus der Schublade, das bis anhin noch nie bei einem Bau erprobt wurde. Als Elemente für das zuerst aufgestellte Dach, das auf drei dünne Stahlrohrsäulen und sechs Kastenstützen gesetzt ist, dienten doppelquadratische Metallüberdachungen, die 1950 in Paris als Schutz für die Werke einer Künstlergruppe gedient hatten. Insgesamt lässt der Pavillon eher einen Vergleich mit der Architektur von Mies van der Rohe zu, oder anders formuliert: Im Gesamtwerk von Le Corbusier ist er mit keinem anderen Bau verwandt und somit im wörtlichen Sinne einzigartig.

Die Übergabe des «Heidi Weber Museum» an die Stadt verlief nicht in Minne, im Gegenteil. Die Gründerin streitet seither juristisch um die nach ihrer Ansicht von der Stadt mit ihr vereinbarten Punkte in Bezug auf eine zu gründende Stiftung sowie auf die Integration ihres Namens in die offizielle Bezeichnung des Pavillons. Demnächst muss sich sogar das Bundesgericht mit der Angelegenheit beschäftigen. Die Stadt Zürich beharrt auf der Etikette «Pavillon Le Corbusier», was für Aussenstehende, die sich allerdings nur durch Medienberichte über den Fall informieren können, nicht nachvollziehbar ist.

Pavillon Le Corbusier Zürich. Restaurierung eines Architektur-Juwels, Scheidegger & Spiess 2019, 88 S., CHF 39.00

Category: 
Images: 
Media slideshow teaser: 

Henri Cartier-Bresson, französischer Fotograf, Mitbegründer der Agentur „Magnum“, 1908–2004

$
0
0

Deine ersten 10'000 Fotos sind deine schlechtesten.

Operatives vom Prinzipiellen her denken

$
0
0

„Wenn wir im Prinzipiellen nicht einig sind, ist es sinnlos, Pläne – oder Konzepte – zu schmieden“, soll der chinesische Philosoph Lao Tse gesagt haben. Und geschweige denn ins Operationelle hinunterzusteigen, sei beigefügt.

Kongruenz im Prinzipiellen ermöglich Freiheit im Operativen

Im Prinzipiellen einig sein, damit sich das Operative, das Konkrete, die Alltagsarbeit an etwas Übergeordnetem orientieren kann: Das ist der Grundsatz, um wirksame Ergebnisse zu erhalten. Kongruenz im Prinzipiellen lässt zudem Freiheit im Operativen zu. Nur so kann der Einzelne an der Basis situativ richtig reagieren. „Make maximum use of principles!“ hiess darum die Maxime von Peter Drucker, dem US-amerikanischen Ökonomen und originellen Managementdenker. 

Wie eng Prinzipielles und Operationelles zusammenhängen, zeigt sich am Beispiel des Frühfranzösisch im „Passepartout“-Raum. Es wird ab der dritten Klasse unterrichtet. Die sechs Kantone Bern, Basel-Stadt, Baselland, Solothurn, Freiburg und Wallis einigten sich auf ein gemeinsames Prinzip: Die Kinder tauchen in die neue Fremdsprache ein; sie nehmen – metaphorisch gesprochen – ein „Sprachbad“. Auf das systematische Erlernen von Wortschatz und grammatikalischen Strukturen wird bewusst verzichtet, obwohl gewisse Lerntypen damit gezielter vorwärtskämen. Im Sprachbad lernt man es en passant – beim Zuhören und Sprechen. Korrigieren sollen die Lehrer nur zurückhaltend. So will es die Strategie der Bildungsverantwortlichen.

Viele Schüler erreichen nicht einmal „elementares Niveau“

Fürs Operative, für den konkreten Schulalltag entwickelten Bildungsstäbe und Experten das Lehrmittel „Mille feuilles“. Es kam 2011 auf den Markt und ist Teil des 50 Millionen teuren Fremdsprachenkonzepts „Passepartout“. Das Unterrichtsmedium setzt die Strategie des Sprachbads um. Es ist obligatorisch. Schon bald wurden Kritiken und Klagen laut. Der Tenor von Lehrer- und Elternseite: Mit „Mille feuilles“ lernten die Kinder viel zu wenig. Das Lehrmittel sei unübersichtlich, unstrukturiert und wenig praxistauglich, ein systematisches Arbeiten nicht möglich.

Die Vorwürfe wirkten: Die Lehrmittel-Autoren besserten operativ nach, schufen Zusatzmaterialien und Übungsunterlagen, doch die Lernresultate verbesserten sich kaum. Die Studie des Instituts für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg förderte gravierende Defizite zutage. Am besten schneidet Hörverstehen ab. In diesem Bereich erreichen 57 Prozent der Sechstklässler die Lernziele, beim Leseverstehen sind es knapp 33 Prozent und beim Sprechen, dem wohl wichtigsten Bereich einer Fremdsprache, nicht einmal 11 Prozent. [1] Das Fazit der Studie: Ein beachtlicher Teil der Schülerinnen und Schüler kommt nicht einmal auf ein „elementares Niveau“.

Warum nicht die Strategie ändern?

Die Resultate lagen seit Mai 2019 vor. Sie wurden aber nie publiziert. Die Bildungsbehörden wollten die deprimierenden Ergebnisse verschweigen. [2] Stattdessen liess die grüne Berner Erziehungsdirektorin Christine Häsler zur gleichen Zeit verlauten, man befände sich beim Frühfranzösisch auf dem richtigen Weg. Auf die Kritiken an „Mille feuilles“ und die ernüchternde Evaluation angesprochen, meinte sie nun: „Das ist keine Überraschung. Die Probleme sind erkannt und das neue Lehrmittel wird laufend verbessert.“ [3]

Die Verantwortlichen optimieren im Operativen, reagieren auf Lehrmittelebene. Warum überdenken sie nicht die Strategie? Ist das „Sprachbad“ allein zielführend? Und warum denken sie nicht auch an jene Schülerinnen und Schüler, die einen analytischen Sprachzugang haben? Doch davon spricht niemand.

Warum wartet man so lange?

Es ist sinnlos, im Strukturellen zu schrauben und zu bohren, wenn die Strategie nicht stimmt, wenn der Fehler im Prinzipiellen liegt. Klaffen Bildungsidee und Wirklichkeit auseinander, leidet nur die Wirklichkeit. Und das sind die Kinder und Jugendlichen – und mit ihnen die Lehrerinnen und Lehrer und auch die Eltern.

„Wir haben jetzt eine Generation Schüler, die schlicht keine Sprachkompetenz in Französisch hat», schreibt ein Vater und fragt vorwurfvoll: „Wieso hat man nur so lange zugschaut und keine notwendigen Massnahmen ergriffen?“ Das fragen sich in der Zwischenzeit viele.

Totalschaden abwenden – Freiheit geben

Im Kanton Baselland hat das Stimmvolk am vergangenen Sonntag mit 84,8 Prozent Ja eine Initiative angenommen: Sie lockert die Lehrmittelpflicht. Damit muss an den Baselbieter Schulen nicht mehr zwingend nach dem umstrittenen interkantonalen Fremdsprachenkonzept „Passepartout“ unterrichtet werden. Das Lehrmittel-Obligatorium fällt. Die Verantwortung geht damit ein spürbares Stück zurück an die einzelne Lehrperson. Sie muss wissen, was sie will und wie sie es mit ihren Kindern erreicht. Das Prinzipielle und das Operative wirksam verbinden und die Ziele erfüllen, dafür zeichnen Lehrerinnen und Lehrer verantwortlich. Dazu brauchen sie methodische Freiheit – allerdings im Rahmen vom Prinzipiellen.

Genau das fordert der „Bund“-Redaktor Christoph Aebischer, wenn er schreibt: „Dem Kanton Bern läuft beim Französisch-Lehrmittel „Mille feuilles“ die Zeit davon, um einen Totalschaden abzuwenden. Es ist Zeit, den Lehrerinnen und Lehrern mehr Freiheit zu geben.“ [4]

[1] Eva Wiederkeller, Peter Lenz (2019), Kurzbericht zum Projekt ,Ergebnisbezogene Evaluation des Französischunterrichts in der 6. Klasse (HarmoS 8) in den sechs Passepartout-Kantonen’, durchgeführt von Juni 2015 bis März 2019 am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität und der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Auftrag der Passepartout-Kantone. Freiburg.

[2] Stefan von Bergen, Die geheime Frühfranzösisch-Studie, in: Berner Zeitung, 27.09.2019, S. 3.

[3] https://www.srf.ch/news/regional/bern-freiburg-wallis/mille-feuilles-in-der-kritik-schlechte-noten-fuer-das-fruehfranzoesisch

[4] Christoph Aebischer, Probezeit für „Mille feuilles“ ist abgelaufen, in: Der Bund, 26.11.2019.

Category: 
Tags: 
Media slideshow teaser: 

Hans Baldung Grien in Karlsruhe

$
0
0

Das Unheilige zuerst, und es ist eines der berühmtesten Bilder von Hans Baldung Grien (1484/85–1545): Wir sehen zwei junge Frauen, links eine stehend und mit hoch erhobener Hand, mit der sie ein langes Tuchband hochhält, das wohl kurz zuvor die sitzende Frau rechts noch bedeckte. Auch sie hält triumphierend eine Hand hoch und präsentiert eine mit einem roten Zapfen verschlossene Glasflasche. Darin ist ein kleiner Drache zu sehen. Der Maler zeigt die beiden Frauen in provozierender Nacktheit. Wer sind sie? Hexen? Was tun sie? 

Hans Baldung Grien: Zwei Hexen.1523. Städel-Museum Frankfurt
Hans Baldung Grien: Zwei Hexen.1523. Städel-Museum Frankfurt

Da gibt es ja noch einen Ziegenbock (nur der Kopf ist zu sehen), auf dem die Frau rechts reitet, und da ist ein Knabe, der eine lodernde Fackel hochhält. Der Himmel über dem Geschehen ist von einem Feuer rot und giftig gelb beleuchtet – ein Weltenbrand?

Das kleine Bild (es gehört dem Städel-Museum Frankfurt) entstand 1523. In Karlsruhes Strassen prangt es riesengross auf Fahnen als Hinweis auf die Ausstellung „Hans Baldung Grien – heilig – unheilig“ in der Staatlichen Kunsthalle. Das Bild ist in seiner Zeit einmalig. Die  dreist auftretenden jungen Frauen erfahren ganz unterschiedliche Interpretationen. Sie reichen von verschlüsselter Warnung vor der damals neuen Seuche der Syphilis (in der Ampulle soll sich eine Quecksilberlösung befinden) bis zur witzigen Polemik gegen Henrich Institoris’ „Hexenhammer“, dessen Veröffentlichung im Jahr 1485 die grausamen Hexen-Verfolgungen einläutete.

Wer ist der Maler?

Hans Baldung Grien war als junger Künstler Mitarbeiter in Dürers Werkstatt in Nürnberg, wo er, im Kontakt mit dem Meister und in aus Italien importierter Druckgrafik, mit der modernen Kunst ersten Ranges konfrontiert wurde. Wegen seines malerischen Hauptwerkes, des Altars des Münsters, verbrachte er einige Jahre in Freiburg i. Br. Ab 1517 lebte und arbeitete er mit grossem Erfolg in Strassburg. Er bediente sich mit Könnerschaft und Erfolg aller Medien (Zeichnung, Druckgrafik, Glasmalerei, Malerei, dabei Heiligenfiguren, Allegorien, Mythologisches, aber auch Porträts bedeutender Persönlichkeiten), liebte, wie das Hexenbild zeigt, die Provokation und war weit entfernt von aller Harmlosigkeit und Schönheit um ihrer selbst willen. Sein Werk spiegelt wie kaum ein anderes die Spannungen der Zeit der beginnenden Reformation. Als Künstler des Übergangs von spätgotischer Frömmigkeit über die Raffinessen der Renaissance im Geist Dürers bis hin zum exzentrischen Manierismus ist er eine faszinierende Ausnahmeerscheinung.

Erste Retrospektive seit 60 Jahren

Die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe ist, als Besitzerin vieler seiner Gemälde und Arbeiten auf Papier, prädestiniert, einen Überblick über sein weit verstreutes Schaffen zu zeigen. Holger Jacob-Friesen, Leiter dieses Grossunternehmens, löst mit der Ausstellung hohe Ansprüche ein. Er zeigt 62 Gemälde Baldung Griens und damit zwei Drittel des Gesamtbestandes, dazu Zeichnungen und Druckgrafik und erst noch, als Vergleichsmaterial, viele Werke von Zeitgenossen. Die Ausstellung ist damit umfassend. Sie ist klar gegliedert nach Chronologie, aber auch nach Themen. Der Katalog mit rund 500 Seiten und Kommentaren zu allen Exponaten gibt einen guten Überblick über das Schaffen Baldung Griens und über die von Unrast geprägten geistigen Strömungen seiner Wirkungszeit.

Das Unternehmen mit dem auf Prestigegewinn zielenden Titel „Grosse Landesausstellung Baden-Württemberg 2019“ ist verdienstvoll, denn 60 Jahre sind seit der letzten Baldung-Ausstellung (ebenfalls in Karlsruhe) verstrichen. Seither gab es nur kleine Kabinett-Ausstellungen zu Einzelthemen wie „Hexen“ oder „Baldung Grien in Freiburg“.

Ein Meister der Zeichnung

Die Ausstellung ist reich an Facetten. Eine Abteilung ist dem Zeichner gewidmet und zeigt unter anderem ein Skizzenbuch – nach dem Tod des Künstlers zusammengefasste Silberstift-Zeichnungen – mit Detailstudien zu Gemälden. Das Material bietet faszinierenden Einblick in Baldung Griens bildnerisches Denken, in die Qualität seines Naturstudiums, in seine Präzision in der Darstellung jedes Details des menschlichen Körpers. Ein anderes Thema ist die Zusammenarbeit mit Dürer. Da lässt sich vergleichen, wie beide Künstler gleiche Themen ähnlich und doch verschieden behandelten. Oder die Druckgrafik Baldung Griens: Ein exzentrischer Höhepunkt ist die Holzschnitt-Serie, welche der absurd und frustrierend ausfallenden Begegnung eines Hengsts mit einer rossigen Stute gewidmet ist.

Virtuosität fürs Kunstkabinett

In diesen Kontext gehört auch der wohl bekannteste und zugleich rätselhafteste Holzschnitt des Künstlers mit dem Titel „Der behexte Stallknecht“ (um 1534).

Hans Baldung Grien: Der behexte Stallknecht. Holzschnitt. Um 1534. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.
Hans Baldung Grien: Der behexte Stallknecht. Holzschnitt. Um 1534. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

Da kommen manche der Themen Baldung Griens zusammen – die Hexe rechts im Bild, das nervöse und triebhafte Pferd, Eros und Thanatos im tot oder wie tot daliegenden Mann mit überdimensionierter Schamkapsel. All das ist mit Meisterschaft gezeigt, bis hin zur extremen Verkürzung des liegenden Mannes. Und doch findet keine der vielen Fragen, die man sich vor dem Blatt stellt, eine Antwort: Der Holzschnitt ist bestens geeignet für einen gelehrten Disput unter gebildeten Herren im Kuriositätenkabinett. Tatsächlich unterhielt Baldung Grien Beziehungen zu gelehrten Humanisten-Kreisen in Strassburg.

Auch das eingangs erwähnte kleine Bild mit den beiden Hexen passt dazu – wie auch die Hexenzeichnungen und -Grafiken generell, die als kostspielige Drucke einer breiten Öffentlichkeit kaum zugänglich waren und eher in exklusiven Kreisen (oder gar Geheimbünden?) gehandelt und diskutiert wurden. Dass es sich dabei um Männerzirkel gehandelt hat, ist zu vermuten. Da läge heute wohl der Vorwurf des Sexismus nahe. Bestes Beispiel für all das ist eine Federzeichnung, die drei nackte Frauen in ekstatischen, höchst lasziven Posen zeigt. Das Blatt von 1514 ist, wie die Inschrift besagt, ausgerechnet einem Kleriker als Neujahrsgruss gewidmet.

Revolutionäre Ikonografie

Diese profanen Sujets sind die eine, oft irritierend undurchschaubare Seite von Hans Baldung Griens Schaffen. Eine andere Seite sind seine religiösen Bilder, die ihn sein Leben lang beschäftigten – auch in den eher bilderfeindlichen Zeiten der beginnenden Reformation, in denen er sich als Künstler geschickt zu behaupten verstand. Er widmete sich konventionellen Bildthemen, zum Beispiel im Hochaltar von Freiburg i. Br., der in Karlsruhe nur in einer interaktiven Visualisierung zu sehen ist. Einen eigentlichen Schwerpunkt in seinem Schaffen spielen auch die Marien-Bilder.

Er trieb aber die traditionelle  Ikonographie weit über das damals Übliche hinaus in neue visionäre Dimensionen. In „Die Geburt Christi“ von 1530 etwa sehen wir unten das schlafende Christkind, das zwei Engel bewachend in den Armen halten.

Hans Baldung Grien: Die Geburt Christi. 1539. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.
Hans Baldung Grien: Die Geburt Christi. 1539. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

Das wird oft gedeutet als Hinweis auf den Tod Jesu. Das Werk gleicher Thematik, das sich im Städel-Museum in Frankfurt befindet und 1539 entstanden ist, zeigt uns ein in grellem Weiss gemaltes Jesuskind, von dem ein so intensives Licht ausgeht, das sich der heilige Josef schützend die Hand vor die Augen halten muss. Baldung Grien fand hier ein griffige und völlig neue Visualisierung des Jesus-Wortes „Ich bin das Licht der Welt“.

Der Sündenfall

Eine für die Entstehungszeit extreme Ausweitung der Ikonographie erfuhr im Werk Baldung Griens das Thema des Sündenfalls Adams und Evas im Paradies, zu dem traditionell Adam, Eva, die Schlange und der Apfel gehören. Dürer zeigt in seinem berühmten Kupferstich von 1504 noch alle diese Elemente in einer paradiesischen, harmonisch ausgeglichenen Landschaft, doch richtet er sein Interesse vor allem auf die perfekte Schönheit der beiden Akt-Figuren, die wohl einander zugewandt sind, aber doch eigenständig nebeneinander stehen. Baldung Grien setzt schon 1511 in einem Holzschnitt  neue Akzente: Die Schlange ist noch sichtbar, doch den Apfel entdecken wir kaum.

Hans Baldung Grien: Adam und Eva. Um 1513. Museo Nacional Thyssen-Bornamisza, Madrid
Hans Baldung Grien: Adam und Eva. Um 1513. Museo Nacional Thyssen-Bornamisza, Madrid

Adam schmiegt sich seitlich an die in attraktiver Schönheit gezeigte Eva und liebkost ihre Brust. Auf einer Steintafel ist zu lesen „Lapsus Humani Generis“ (Der Sündenfall des menschlichen Geschlechts.) 1531 malt er das Stammelternpaar lebensgross. Der liebkosende Zugriff Adams ist intimer. Eva bezieht die Betrachter augenzwinkernd ins Geschehen ein. Die Malerei strahlt eine unterkühlte und geheimnisvolle Erotik aus. Der Bedeutungswechsel ist unverkennbar: Die erotische Spannung zwischen Mann und Frau führt zum Sündenfall. Dabei überlässt es der Künstler uns, das Geschehen zu werten.

Es ist sicher kein Zufall, dass die Komposition mancher Vanitas-Darstellungen Baldung Griens diesen „Sündenfall“-Bildern gleicht, auch wenn der Künstler die Bilddramatik ins Extreme steigert. Drastisches Beispiel: Auf einer Tafel des Kunstmuseums Basel, einem kleinen Kabinettstück von höchster Raffinesse, schmiegt sich der Tod von hinten an die entblösste junge Frau und raubt sich von der Widerstrebenden einen Kuss: Ein Bild von zweifellos provozierender Direktheit, das die Gegenpole Eros–Thanatos auf die schauerliche Spitze treibt.

Hans Baldung Grien: Der Tod und die Frau. Um 1520/25. Kunstmuseum Basel
Hans Baldung Grien: Der Tod und die Frau. Um 1520/25. Kunstmuseum Basel

Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Bis 8. März. Katalog 40 Euro.
Category: 
Images: 
Media slideshow teaser: 

Die Sardinen sind los

$
0
0

Jede Woche versammeln sie sich nun, in vielen italienischen Städten. Das Bild stammt von der Kundgebung in Florenz am Samstagabend. Laut Angaben der Organisatoren waren es 40’000. Journalisten am Ort sprechen von mindestens 25’000 bis 30’000.

Die Sardinen protestieren gegen Lega-Chef Matteo Salvini und seine rechtspopulistische Politik. „Wir haben genug von dieser souveränistischen Politik des Hasses“, hiess es auf Spruchbändern. Die Demonstranten sagen, sie seien so viele, dass sie auf den Plätzen zusammengepfercht seien – wie Sardinen in der Büchse. 



Die Demonstranten versammeln sich meist spontan nach Aufrufen in den sozialen Medien. Die Polizei steht plötzlich vor vollendeten Tatsachen. Meist kommt es zu einem Verkehrschaos, so am Samstagabend im Zentrum von Florenz.

Die Sardinen-Bewegung hatte landesweit als junge, linke Protestaktion gegen die Rechtspopulisten begonnen. Inzwischen schliessen sich dem Flashmob immer mehr ältere Menschen auch aus dem bürgerlichen Lager an.

Begonnen hatte die Bewegung in Bologna, der Hauptstadt der Emilia-Romagna. Dort finden am 26. Januar Regionalwahlen statt. Die Emilia-Romagna gilt neben der Toscana und Umbrien als linke Hochburg Italiens. In Umbrien hatte die Lega im Oktober die Wahlen überraschend gewonnen. Viele Italienerinnen und Italiener fürchten nun, dass die Lega auch die „rote“ Region Emilia-Romagna erobern könnte.

Sollte Salvini dies gelingen, wäre dies ein schwerer Schlag für die Römer Zentralregierung, die aus Sozialdemokraten und Cinque Stelle besteht. Viele spekulieren, dass bei einem Sieg der Rechtspopulisten in der Emilia-Romagna die Römer Regierung zerbrechen wird. In diesem Fall hat Staatpräsident Sergio Mattarella Neuwahlen in Aussicht gestellt. Diese würde laut Meinungsumfragen Salvini klar gewinnen.

Laut letzten Umfragen liefern sich in der Emilia-Romagna die Linke und die Lega ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Der linke Kandidat, der bisherige Regionalpräsident Stefano Bonaccini und die Lega-Kandidatin Lucia Borgonzoni liegen fast gleichauf. Je nach Umfrage liegt der linke Kandidat oder die Lega-Kandidatin leicht vorn.

An diesem Sonntagabend findet auf der Piazza Mercanti in Mailand nahe beim Dom eine Anti-Salvini-Kundgebung statt.

(J21)

Category: 
Tags: 
Images: 
Media slideshow teaser: 

SPD auf dem Weg ins Weiss-nicht-wohin?

$
0
0

Die Genossen haben gewählt, ist damit die Sache erledigt? Nach dem zunächst schier grenzenlosen Hochjubeln und anschliessendem – mitunter fast genüsslich erscheinenden – Abmurksen dreier Parteifreunde (Sigmar Gabriel, Martin Schulz und Andrea Nahles) sowie einer darauf folgenden, über Monate gehenden, Job-Ausschreibung und Vorstellungs-Tournee hat die Partei mit einem Mehrheitsvotum zugunsten eines Duos jetzt ihre Sehnsüchte für den Start in eine neue, glorreiche sozialdemokratische Zukunft kundgetan. Nicht das allgemein favorisierte, aus dem Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz sowie der Brandenburgerin Klara Geywitz bestehende, „Doppel“ fand ausreichend Zustimmung in der bundesdeutschen Genossenschaft, sondern dessen als Herausforderer angetretenes Paar mit den Namen Norbert Walter-Borjans und Saskia Eskens.

Stimmung gegen ein „Weiter so“

Kurz zusammengefasst kann man das so werten: Der frühere Hamburger Bürgermeister ist der prominenteste SPD-Befürworter für ein Verbleiben der Partei in der Koalition mit der CDU/CSU unter Führung von  Angela Merkel. Der frühere nordrhein-westfälische Finanzminister Walter-Borjans (Nowabo) und seine Mitstreiterin hingegen haben in den Vorstellungs-Veranstaltungen während der zurückliegenden Wochen immer wieder die Bereitschaft anklingen lassen, das Berliner Regierungsbündnis platzen zu lassen. Nämlich dann, wenn sich die Union nicht bereitfände, noch einmal über den bestehenden Koalitionsvertrag zu verhandeln und dabei (natürlich) zusätzliche sozialdemokratische Forderungen zu erfüllen.

Nun ist die am Wochenende vollzogene Auszählung der Mitgliederbefragung zunächst einmal nur eine Zwischenetappe. Denn die endgültige Entscheidung über die künftige Parteispitze muss der bevorstehende Berliner Parteitag (6.–8. Dezember) fällen. Allerdings ist kaum anzunehmen, dass die – zu grossen Teilen ja das „Fussvolk“ vertretenden – Delegierten das vorliegende Votum beiseiteschieben. Mehr noch, angesichts der im Zuge verheerender Niederlagen bei Bundes- und Landtagswahlen erkennbar zunehmenden Stimmung in der Partei gegen ein „Weiter so“, ist überhaupt nicht auszuschliessen, dass der Parteitag sogar einen Ausstieg aus der Berliner Koalition beschliessen könnte. Und dann? Vorgezogene Neuwahlen zum Bundestag?

„Selbstmord aus Angst vor dem Tod“

Nüchtern denkenden Sozialdemokraten treibt gerade der Gedanke daran den Schweiss auf die Stirn. Kein Wunder. Die einstmals stolze Volkspartei SPD, die älteste Partei Deutschlands, die Ende des 19. Jahrhunderts Bismarck die Einführung einer Sozialversicherung abtrotzte, die als einzige Hitler im März 1933 die Zustimmung zum „Emächtigungsgesetz“ verweigerte, die Partei von Kurt Schumacher, Willy Brandt und Helmut Schmidt – diese Partei kann sich, laut Umfragen, gerade noch auf etwa 15 Prozent der Bevölkerung stützen. Während gleichzeitig die rechtsaussen grasende Alternative für Deutschland (AfD) bei mindestens 20 Prozent liegt! Nicht wenigen Genossen erscheint daher die Forderung nach einem Platzenlassen der Berliner Regierung im Verein mit dem Ruf nach Neuwahlen wie der Gedanke an Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

Keine Frage, die SPD befindet sich zur Zeit in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Es stellt sich, zudem, die Frage, ob man überhaupt noch von  einer einzigen Partei sprechen kann. Denn die Spaltungstendenzen bei den Sozialdemokraten sind unübersehbar. Das manifestiert sich unter anderem in dem Ausgang des Mitgliedervotums. 53 Prozent stimmten für das Gewinnerpaar Walter-Borjans/Esken, 45 Prozent für Scholz und dessen Ko-Pilotin Klara Geywitz. Allerdings und wohlgemerkt: Die Zahlen gelten nur für die abgegebenen Stimmen, nicht für die rund 425’000 stimmberechtigten SPD-Mitglieder. Denn die Wahlbeteiligung lag bei gerademal nur rund 50 Prozent. Mit anderen Worten: Die Hälfte der deutschen Genossen blieben einer Entscheidung fern, bei der es möglicherweise um Sein oder Nichtsein der Partei gehen könnte. Und damit können sich die beiden „Gewinner“ auf lediglich etwa ein erklärtes Viertel Unterstützung berufen.

Die eigenen Leistungen madig gemacht

Vor diesem Hintergrund ist es gar nicht so leicht, das (wahrscheinlich) künftige Partei-Chefduo als „Sieger“ zu bezeichnen. Sie sind gewählt worden nicht wegen ihres persönlichen Chrismas oder ihrer politischen Programmatik. Ihr „Erfolg“ basiert vielmehr in erster Linie auf der weithin verbreiteten Stimmung gegen das mit dem Namen Scholz verknüpfte „Weiter so“. Das muss man sich einfach einmal auf der Zunge zergehen lassen – sowohl Walter-Borjans als auch Saskia Eskens ernteten bei den zurückliegenden öffentlichen Veranstaltungen den meisten Beifall, wenn sie das kritisierten, was die Koalition (und damit natürlich auch die SPD-Bundestagsfraktion) als ihre Erfolge verkündeten. Es bedarf daher schon besonderer tiefenpsychologischen Weisheiten, um zu erkennen, wie die Wähler von politischen Leistungen überzeugt werden sollen, die von den eigenen Leuten madig gemacht werden …

Der SPD-Parteitag am kommenden Wochenende dürfte es also in sich haben. Sollte er, zum Beispiel, der basisdemokratischen Stimmung folgen, würde dies das Ende der klein gewordenen Grossen Koalition bedeuten. Die SPD müsste dann ihre Minister- und Staatssekretärsriege abberufen. Aber wer sollte die Lücken füllen im eigenen Führungsbereich?  Und was wäre mit den von der SPD gestellten Länder-Ministerpräsidenten, die sich vehement für Scholz und Co. und die Berliner Koalition eingesetzt hatten? Im Grunde müssten die doch auch ihre Hüte nehmen. Schliesslich ist ein wirklicher „Neuanfang“ doch nur mit neuem Personal und nicht mit der alten Riege denkbar. Die nun an die Spitze gewählten „Neuen“ haben jedoch weder die Erfahrung, noch die Kontakte, um ernsthaft Verhandlungen zu führen.

Neuwahlen sind nicht zwingend

Doch noch ist Schwarzmalerei nicht angesagt. Zwar ist nicht erkennbar, wie sich „Nowabo“ und Esken „Nachverhandlungen“ vorstellen. Bei der Union, jedenfalls, tendiert die Bereitschaft dazu gegen Null. Weite Teile von CDU und CSU knirschen ohnehin schon seit Langem mit den Zähnen, weil sie – nach ihrer Meinung – als Seniorpartner in der Koalition „den Sozis“ in der Vergangenheit  viel zu oft und viel zu weit entgegengekommen seien. Ausserdem ist gerade soeben mit den Stimmen von Union und SPD der neue Bundeshaushalt verabschiedet worden, so dass die Kanzlerin zunächst weitgehend unbesorgt mit einer Minderheitsregierung arbeiten und dabei auch versuchen könnte, bis zum Schluss der Wahlperiode vielleicht doch Kooperationen mit Grünen und Liberalen zustande zu bringen. Und der Weg der einst so stolzen SPD? Das Richtungsschild zeigt nach „Weiss-nicht-wohin“.  Nein, nach dem Mitgliedervotum ist die Sache noch längst nicht erledigt.

Category: 
Media slideshow teaser: 

Wie Roland B. den Hilfswerken half

$
0
0

Hier die Erfahrungen eines treuen Spenders, der aus naheliegenden Gründen nicht länger angeschrieben werden wollte.

Als er immer deutlicher erkannte, dass sein Leben zeitlich begrenzt war, wollte Roland B. (Name der Redaktion bekannt) nicht nur seine Hinterlassenschaft geregelt wissen, sondern auch sonst einiges in Ordnung bringen, um den Hinterbliebenen die Beschäftigung mit allerhand Kleinkram zu ersparen. So setzte er, von der letzten gesundheitlichen Attacke halbwegs genesen, ein Schreiben auf, in dem er die Empfänger bat, ihn per sofort von ihren Mailing- und Adresslisten zu streichen, ihm aber gleichwohl noch drei Einzahlungsscheine für die möglicherweise verbleibende Zeit zuzustellen. Dieses Schreiben, im Wortlaut identisch, ging an mehr als ein Dutzend Hilfswerke, die Roland B. in seinen letzten Lebensjahren regelmässig unterstützt hatte. Wo immer möglich, war es an eine bestimmte Person gerichtet, in der Regel die, die zuletzt namentlich um Hilfe gebeten oder sich für seine Hilfe bedankt hatte.

Drei der Angeschriebenen – die Hilfswerke Caritas, Medico International Schweiz und Solidar Suisse – antworteten mit einem persönlichen Brief, in dem sie ihr Verständnis bekundeten für die besondere Situation des Roland B. und sich gleichzeitig für die jahrelange Unterstützung bedankten. Zwei der Hilfswerke – Helvetas und Terre des Hommes Basel – reagierten auf den Brief überhaupt nicht, als ob sie gar nicht existierten, auch wenn die Spenden an sie über all die Jahre ja wohl irgendwo angekommen sein mussten. Dafür meldeten sich in der fraglichen Zeit aber neue, Roland B. bisher unbekannte Hilfswerke – so die „Tierärzte im Einsatz“ und eine „Stiftung für Menschen mit seltenen Krankheiten“ –, was ihn einmal mehr in seinem Verdacht bestärkte, mit den Adressen von Hilfswilligen werde ein flotter Handel betrieben. Die Reaktion der Schweizerischen Flüchtlingshilfe hatte derweil schon fast satirische Qualität: Sie schickte umgehend eine „Persönliche Einladung“ zu einer Informationsveranstaltung mit dem Titel „Erbfolge, Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung geregelt – ein gutes Gefühl“ und verschaffte sich damit wohl selber das gute Gefühl, die eventuelle Teilhabe an einer möglichen Hinterlassenschaft gerade noch rechtzeitig aufgegleist zu haben.

Die übrigen acht Hilfswerke – und damit die Mehrheit der von Roland B. angeschriebenen – beschränkten sich auf eine Antwort im distanzierten Ton eines unpersönlichen Geschäftsbriefes: „Wir danken für Ihr Schreiben vom ... und lassen Ihnen in der Beilage wunschgemäss gerne drei Einzahlungsscheine zukommen.“ Die waren dann in ihrer Mehrzahl unadressiert, also ohne die bei regelmässigen Spendern üblicherweise vorgedruckte Adresse des Einzahlers, und lauteten zudem mehrheitlich auf ein anderes Bankkonto als das, das Roland B. bisher jeweils bedient hatte.

Spätestens jetzt realisierte Gönner Roland B., dass er selbst als regelmässiger Spender den Hilfswerken im Grunde mindestens so egal war wie die Hilfsbedürftigen in aller Welt wohl der Mehrheit der potenziellen Spender und Spenderinnen und dass viele Hilfswerke offenbar vollauf damit ausgelastet sind, Nebenkosten zu sparen und auf diese Weise den eigenen Umsatz zu optimieren.

Category: 
Media slideshow teaser: 

Konrad Zuse, Erfinder, Computer-Pionier, 1910–1995

$
0
0

Bisher war der Bürger durch die Trägheit der Bürokratie vor vielen Übergriffen des Bürokratismus geschützt. Jetzt kommt der Computer und macht das alles in Millisekunden.

Steuertricks, Whistleblower, Datenlecks

$
0
0

Die OECD sagt den globalen „Steueroptimierern“ unter den Konzernen den Kampf an. Pauschalsteuern in der Schweiz geraten erneut unter Druck. Edward Snowden enthüllt Spionagekrimis. Recherchier-Journalisten bauen auf Datenlecks. Das Gemeinsame dieser vier Ankündigungen: Der Trend nach mehr Transparenz (Durchsicht) hält an. Die Schweiz tut gut daran, diese Entwicklung zu akzeptieren, statt sie zu bekämpfen.

Die Schattenwelt der globalen Konzernbesteuerung

Die Idee, dass Grosskonzerne, die in allen Ländern der Welt tätig sind, ihre Steuern nicht länger „optimieren“ dürfen, erhält immer mehr Zuspruch. Optimieren steht bekanntlich für reduzieren, wenn möglich vermeiden. Stattdessen sollten jene Länder zukünftig profitieren, in denen diese Unternehmen ihre Umsätze erzielen. Dass die Schweiz keine Freude an diesem Anliegen der OECD zeigt, ist nachvollziehbar, doch der Widerspruch letztlich kontraproduktiv. Nicht vergessen ist das Trauerspiel um das Schweizerische Bankgeheimnis. Dieses ging sang- und klanglos unter, niemand hat sich „daran die Zähne ausgebissen“ (Bundesrat Merz vor zehn Jahren).

Dass die Schweiz gesuchter Standort für eben solche Konstrukte ist, spricht für clevere Steuerattraktivität – nach über 100 Jahren kommt jedoch auch diese Tradition ins Wanken. Transparenz ist auf dem Vormarsch, dank digitaler Assistenz. Es stehen für die Schweiz tatsächlich Milliarden an Steuerausfällen auf dem Spiel. Dass dieses Land darum „auf Konfrontation gehen muss“ ist doch eher lächerlich. Denn es wird letztlich ein Privileg verlieren, ob es will oder nicht. Gegen eine fairere Lösung ist langfristig kein Kraut gewachsen.

Dubiose Pauschalsteuern für Super-Reiche

Vermögende Ausländerinnen und Ausländer mit Steuertricks ins Land zu holen ist eine weitere „Spezialität, made in Switzerland“. Dass ein solches Vorgehen den Richtlinien des Bundes widerspricht, interessiert da und dort die lokalen Behörden wenig. Wieder einmal sorgen Datenlecks dafür, dass kommunale Steueroasen (wie z. B. Gstaad) entlarvt werden, wenn sie der Steuerverwaltung zuwiderlaufende Einschätzungstricks aufdecken. Indem bei der Steuerfestsetzung nur der in der Schweiz anfallende Lebensaufwand (anstelle des weltweiten) berücksichtigt wird, zeigt, dass Unehrlichkeit zum Prinzip erhoben wird. Sobald – zum besseren Verständnis – den Schweizern die Frage gestellt wird: „Wie würden Sie reagieren, wenn die reichsten Schweizer Milliardäre ihr Einkommen in, sagen wir Monaco, versteuern würden und der Schweiz dadurch happige Steuerausfälle entstünden? Eben.

Aufgrund von Daten, die dem Recherchierdesk der Tamedia im Frühling 2019 vorlagen, wurde  am Beispiel des Milliardärs Ecclestone minutiös aufbereitet, dass Letzterer vom Kanton Bern auf rund eine knappe Million Franken Lebensaufwand veranschlagt worden war. Apropos Lebensaufwand: Ecclestone besass u. a. eine 40-Millionen-Jacht … Ist es noch zeitgemäss, reichen Ausländern mit solchen Tricks in der Folge mit völlig unzureichenden Steuern entgegenzukommen? Warum regt sich dagegen kein Widerstand?

Amerikanische Geheimdienste spionieren in Genf

In seinen Memoiren deckte der wohl bekannteste Whistleblower Edward Snowden auf, wie die USA in unserem Land spionieren. Ziele waren der Sitz der UNO, aber auch Schweizer Banken. Und wie reagiert die Bundesanwaltschaft (BA) auf die Frage der Sonntagszeitung? „In Anbetracht der Sensibilität der von Ihnen aufgeworfenen Thematik […] äussert sich die BA diesbezüglich nicht weitergehend.“ Im Klartext: „Das geht euch nichts an!“ Da stellen sich dann die berechtigte Fragen, ob nicht auch die WHO, Das Rote Kreuz oder ganz generell die Schweiz ausspioniert werden?

Vielen Menschen dürfte inzwischen klar geworden sein, dass die amerikanischen Geheimdienste (wohl andere auch?) auf die internationale Digitalkommunikation zugreifen können, wann, wo und wie sie wollen. Noch immer werden indessen in der Schweiz Whistleblower verfolgt und verurteilt, ungeachtet dessen, dass durch ihr Verhalten Unrechtmässigkeit, Geldwäscherei, Gesetzesverstösse publik gemacht werden. Zwar werden da und dort in Behörden und Konzernen Ombudsstellen eingerichtet, um jene Menschen zu schützen, die den Mut beweisen, Unrecht aufzudecken und anzuprangern.

Illegale Preisabsprachen in der Schweiz

Hinter dem unscheinbaren Namen „Dienst Bau“ versteckt sich die Spezialabteilung der Wettbewerbskommission des Bundes (Weko), die der Sache auf den Grund geht, dann, wenn Verdacht auf illegale Preisabsprachen zum Nachteil der Steuerzahlenden aufkommt. Solche Preisabsprachen zwischen Unternehmen waren vor 1996 gang und gäbe in unserem Land. Dann kam das neue Wettbewerbsrecht und erst seit 2004 kann das Weko überhaupt Bussen gegen straffällige Firmen aussprechen.

Nach ersten Untersuchungen gegen Unterengadiner Baufirmen hat das Weko seit 2012 gegen weitere zehn Baufirmen im Kanton Graubünden wegen Verdachts auf illegale Preisabsprachen ermittelt. Jene hatten Hunderte von Strassenbauprojekten im Werte von 190 Millionen Franken untereinander aufgeteilt. Gleichzeitig hatten sie die Preise um knapp 10 Prozent erhöht und auf diese Weise Kanton und Gemeinden einen Schaden von 19 Millionen Franken zugefügt. Gemäss TA dürfte der Fall ein Nachspiel haben, denn es sei schwer vorstellbar, dass niemand bei den kantonalen Behörden etwas von den Absprachen gemerkt hätte.

Helvetische Dunkelkammer „Politikfinanzierung“

Dass Schweizerinnen und Schweizer nach wie vor nicht wissen dürfen, wer die politischen Parteien finanziert oder z. B. die ausufernden Werbekampagnen im Vorfeld der nationalen Wahlen (Oktober 2019) berappt, ist ein veritabler Skandal. Mit anderen Worten: die Frage, wieweit die grössten politischen Financiers in unserem Land die ihnen genehme Politik mit Millionenbeträgen „einzukaufen“ versuchen, ist unseres Landes unwürdig. Immerhin gibt es Anzeichen, dass im Ständerat neue Regeln zur Parteienfinanzierung angedacht werden, wenn allerdings die Offenlegungspflicht erst bei Beträgen von über Fr. 250’000.—beginnt – was soll das?

Kürzlich hat das digitale Magazin „Republik“ einen eigentlichen Krimi publiziert mit dem Titel Wahlkampffinanzierung. Die Bemühungen der Recherchierjournalisten, Licht ins Dunkel dieser seit Jahrzehnten andauernden Skandalgeschichte zu bringen, stiessen überall auf Hindernisse, „Ich-weiss-von-nichts“-Antworten, eisernes Schweigen. Dass trotzdem Dokumente aufgelistet werden wie „Es wäre gut, wenn Sie 2 x Fr. 500’000.— bar übergeben könnten“ oder „Bitte überweisen Sie Fr. 1’500‘000.— an Nationalrat T. B.“ lassen zumindest erahnen, wie es bei dieser Partei mit ihren „Extrablättern“, Propagandafilmen und Plakaten zu und her geht.

Im Parlament in Bern wird zwar viel über Transparenz diskutiert – die gleichen Protagonisten verhindern dann aber anschliessend mehrheitlich Versuche, wenigstens da und dort einem zeitgmässen Transparenz-Verständnis zum Durchbruch zu verhelfen.

Media slideshow teaser: 
Viewing all 14615 articles
Browse latest View live