Am Fusse des Leuchtturms ist es dunkel.
Japanisches Sprichwort
Pflock zum Bau eines Hindu-Staats
„Schlag Mitternacht“, so hatte Indiens erster Premierminister Nehru am 14. August 1947 im Parlament erklärt, „wird Indien das uralte Versprechen der Vorsehung einlösen“ – die Erlangung seiner Unabhängigkeit. „India’s Tryst with Destiny“ wurde ein geflügeltes Wort, das für Generationen von Indern diese historische Zäsur fortan signalisierte.
„A Tryst with Bigotry“ sei das Parlament am Montag eingegangen, so lautete das Urteil von Nehrus Enkelin Priyanka Gandhi. Ebenfalls kurz vor Mitternacht hatte es eine historische Gesetzesänderung vorgenommen. Mit 311 gegen 80 Stimmen beschloss die Volkskammer, Flüchtlingen aus drei Nachbarstaaten – Afghanistan, Bangladesch und Pakistan – das Bürgerrecht zu erteilen, wenn sie einer religiösen und verfolgten Minderheit angehören.
Hindus, Buddhisten, Jains, Sikhs, Christen und Parsen sollen diese Vorzugsbehandlung erhalten. Das hört sich wie eine noble Geste an. Doch fehlte dabei ein Glaubensbekenntnis – der Islam. Es war diese Leerstelle, die klarstellte, dass es eigentlich um dessen Ausschluss, und nicht um das Gastrecht für die andern ging.
Impliziter Ausschluss der Muslime
Ebenfalls einsichtig wurde nun, warum nur die drei erwähnten Nachbarstaaten genannt wurden: Dort ist der Islam Staatsreligion – also kann es dort keine muslimischen Minderheiten und keine Verfolgung geben; ergo kann man ein Gesetz erlassen, das, erstmals in der Geschichte der Republik, Menschen einer bestimmten Religion ausschliesst.
Es ging bei dieser Änderung eines Gesetzes aus dem Jahr 1955 also nicht um den löblichen Schutz eines grundlegenden Menschenrechts, dem freien Bekenntnis zu einer Religion. In den Augen der Opposition war es das genaue Gegenteil – der Entzug dieses Rechtschutzes für Muslime.
Dass dem so ist, zeigt die sonderbare Auswahl der drei Nachbarn. Einer von ihnen, Afghanistan, grenzt nicht einmal an Indien. Mit einem Einschluss Myanmars, einem direkten Nachbarn, müsste Indien akzeptieren, dass dort die schutzbedürftige Minderheit der Rohingyas Muslime sind. Sri Lanka hat seinerseits eine muslimische Minderheit, die immer mehr die Tamilen als ethnischen Feind ersetzt – auch dieser Nachbar wurde ausgelassen. Und in Pakistan gibt es mehrere islamische Sekten, die vom Sunni-Staat erbarmungslos geächtet und verfolgt werden.
Verfassungsgrundsätze verletzt
Es ist eigentlich selbstverständlich für die Gesetzgebung eines demokratischen und säkularen Staats, dass die Vertreter aller Religionsgemeinschaften dieselben Grundrechte haben. Aber nun haben die Machthaber einen Weg gefunden, auch gesetzlich eine Bresche in dieses eherne Prinzip der Gleichheit zu schlagen.
Und bereits kommt der nächste Schlag. Ist die Gesetzesänderung einmal über die Bühne – die Rajya Sabha, der Senat, hat sie bereits einmal akzeptiert – wartet schon das National Registry of Citizenship. Es ist eine nationale Feststellung des Bürgerrechts aller Bewohner Indiens.
Mit dem neuen Bürgerrechtsgesetz können nun alle Nicht-Muslime, Bewohner oder Flüchtlinge, quasi als Bona-Fide-Inder angesehen werden. Damit bleibt nur die muslimische Gemeinschaft übrig, deren Mitglieder insgesamt zumindest legal dem Generalverdacht ausgesetzt sind, illegale Migranten zu sein. Sie müssen beweisen, dass sie und mindestens ein Elternteil in Indien geboren wurden und dass der andere Elternteil kein illegaler Einwohner ist.
Drittgrösstes muslimisches Land
Mit nahezu 200 Millionen Menschen ist Indien das drittgrösste muslimische Land der Welt. Die meisten von ihnen sind ohnehin ethnische Inder, deren Vorfahren zum Islam übergetreten sind. Viele werden keine Schwierigkeit haben, ihren rechtmässigen Status als gebürtige Inder mit Dokumenten zu beweisen.
Für die meisten gibt es ohnehin kein Land, in das sie zurückgeschickt werden könnten. Aber das ist auch nicht die Absicht. Es geht vielmehr darum, den Muslimen klarzumachen, dass sie suspekt sind und dass sie diesen Verdacht dokumentarisch entkräften müssen.
Im Fadenkreuz der Hindutva-Bewegung findet sich die muslimische Elite, die diesen Namen gar nicht verdient. Denn sie ist so hauchdünn, dass sie sich kaum als soziale Gruppe wahrnimmt. Deren Mitglieder gehören anderen sozialen Formationen an – Politiker, Akademiker, Sportler, Filmstars, Geschäftsleute, Anwälte, Ärzte. Ausser den Politikern können die meisten von ihnen mit der Religionsetikette wenig anfangen. Doch dieses Kainszeichen soll nun an ihnen haften bleiben.
Die wenigsten von ihnen werden Probleme haben, ihre indische Herkunft zu beweisen. Es ist die grosse Mehrheit der armen Muslime, die hart getroffen werden. Sie zählen zu den Ärmsten der heutigen indischen Gesellschaft, mit Sozialindikatoren, die noch tiefere Werte anzeigen als jene für Dalits und Ureinwohner. Es sind – neben den Flüchtlingen – typischerweise die Armen, die überdurchschnittlich viele Sans-Papiers aufweisen, dank ihrer zerrütteten Lebensverhältnisse. Für die Regierung sind sie vermutlich nicht mehr als ein Kollateralschaden.
Unsichere Umsetzung
Wird sich dieses zynische Drehbuch umsetzen lassen? Es gibt Beobachter, die dem Plan einer separaten Kategorisierung und Behandlung der Muslime keine Chance geben; „dead on arrival“ nannte der Journalist Shekhar Gupta die Gesetzesänderung. Sie verweisen auf den kleinen Bundesstaat Assam im Nordosten des Landes, wo eine solche Bevölkerungszählung soeben durchgeführt wurde.
Obwohl sich dort nur eine Bevölkerung von 33 Millionen ausweisen musste, war es eine massive administrative Anstrengung mit über 50’000 Beamten und Kosten von 1,2 Mia. US-Dollar. Zahllose Menschen unternahmen wochenlange Reisen, um Dokumente aufzutreiben, die ihren Bürgerstatus – Geburt, Herkunft der Eltern, Migrationshintergrund – beweisen würden. Zahlreiche Tribunale wurden eingerichtet – mit dubiosen personellen Besetzungen – die abgewiesene Anträge nochmals überprüften; in jedem Bezirk machte man sich an den Bau von Ausschaffungslagern.
Die Erwartung war, dass möglichst viele muslimische Migranten aus Bangladesch im Netz hängenbleiben würden. Doch es kam anders. Von den 1,9 Millionen als illegal bezeichneten Einwohnern waren rund sechzig Prozent Hindus. Die Regierung war konsterniert – und versprach gleich eine Wiederholung der ganzen Übung.
Auch ein zweiter Umgang wird aber nicht daran rütteln können, dass eine grosse Zahl sogenannt illegaler Einwohner vermutlich nicht aus Bangladesch, sondern aus anderen Teilen Indiens stammen, namentlich aus dem benachbarten Westbengalen.
Das soeben verabschiedete veränderte Bürgergesetz soll dieses Dilemma nun lösen: Hindu-Migranten (und solche anderer Minderheiten) sollen legalisiert werden, so dass am Ende nur Muslime im Netz zappeln werden.
Religionszugehörigkeit nicht allein entscheidend
Umso erstaunter nimmt man aber nun zur Kenntnis, dass die einzigen grossen Proteste gegen das neue Gesetz ausgerechnet in Assam stattfinden, dem nächstgelegenen Flüchtlingsstaat für Muslime aus Bangladesch. Sie machen klar, dass für die Grosszahl der gebürtigen Assamer, selbst die Hindus unter ihnen, nicht die Religionszugehörigkeit zählt, sondern generell die massive Einwanderung, ob von Hindus oder Muslimen. Und eine Lockerung der Einbürgerung für Hindus, Buddhisten und anderen wird Assams Attraktivität für diese nur noch erhöhen.
Innenminister Amit Shah, der Architekt der ethnischen Säuberungskampagne, bemühte sich im Vorfeld der Abstimmung um Schadensbegrenzung. Er fügte dem Gesetz einen Paragrafen bei, der Teile Assams und der anderen Nordost-Staaten von dessen Bestimmungen ausklammert.
Aber es ist vorauszusehen, dass ähnliche Probleme auftauchen werden, sollte Shah die Bürgerzählung nun auf alle Bundesstaaten mit ihren insgesamt 1,4 Milliarden Bewohnern ausdehnen. Beobachter sehen nicht nur einen kaum verkraftbaren administrativen Aufwand voraus. Es könnten sich zudem ernsthafte ethnische Konflikte zwischen benachbarten Bundesstaaten entwickeln, wie sie heute schon bestehen – etwa zwischen Tamilen und Einheimischen in Bangalore.
Islam als instrumentalisiertes Feindbild
Dennoch, der erste legale Pflock für ein neues, majoritäres Hindu-Indien ist gesetzt. Auch wenn die diskriminierende Maschinerie ins Stocken geraten sollte – die Pflege eines rabiaten Feindbilds ist gesichert. Mit dessen Hilfe wird Narendra Modis Rhetorik bei jeder künftigen Wahl ein neues Opfer-Sieger-Szenario beschwören können. Es ist auch deshalb opportun, weil Kaschmir und die Ayodhya-Moschee nun Siegestrophäen sind und als Aufputschmittel ausgedient haben.
In der Parlamentsdebatte rechtfertigte Innenminister Shah die Gesetzesrevision mit dem „unfinished business of Partition“. Pakistan wurde 1947 zu einem Islamischen Staat, Indien dagegen gab sich der Idee hin, ein multikultureller Staat zu sein. Das war laut Shah falsch und soll nun ein Ende haben. Indien droht damit zu einem hinduistisch-doktrinären Spiegelbild seines Erbfeinds zu werden.
Im Zeichen des Peronismus
Vor ein paar Tagen fand in Argentinien die präsidiale Amtsübergabe statt. Der glücklos agierende Mauricio Macri hat die Wiederwahl verpasst. Es übernimmt für die nächsten vier Jahre Alberto Fernández. Er gilt als gemässigter Linksperonist – und da fangen die Probleme schon an. Denn: Was ist ein Peronist und was ein gemässigter Linksperonist?
Vieldeutiger Peronismus
Es gibt unter den schwer zu definierenden politischen Parteien oder Bewegungen Lateinamerikas nichts Vieldeutigeres als den argentinischen Peronismus. Sein Erfinder und erster Anwender, Juan Perón, war ein geschmeidiger Stratege und Opportunist, ein Weltmeister im Anpassen seiner Überzeugungen an die jeweiligen Bedürfnissen und Stimmungen im Land.
Seine Nachfolger haben ein Übriges getan, um den Begriff Peronismus vollends zu verunklären. Von Linkspopulismus, glühendem Nationalismus und sogar von neoliberalistischen Tendenzen war die Bewegung seit dem Ende der Militärdiktatur geprägt – ein Wechselbad, das dem Land regelmässig die schlimmsten Krisen bescherte.
Korrupte Strippenzieherin im Nacken
Der neue Mann startet unter düsteren Bedingungen und ist nicht zu beneiden. Die potentiellen Investoren investieren nicht, die Sparer verstecken ihr Geld lieber unter der Matratze, als es den Banken anzuvertrauen, die Inflation ist nicht zu stoppen und der Peso auf Tiefkurs. Millionen leben in Armut, das Land ist extrem verschuldet, und weil es den Schuldendienst nicht mehr bedienen kann, droht der Staatsbankrott.
Niemand vermag zu sagen, wie der neue Präsident aus dieser katastrophalen Situation herauskommen soll. Erschwerend wird sich die Tatsache auswirken, dass ihm als politische Strippenzieherin Ex-Präsidentin Cristina Kirchner im Nacken sitzt. Sie, auch eine Peronistin, gegen die wegen Korruptionsverdacht verschiedene Verfahren hängig sind, hat die Kandidatur von Fernández unterstützt und dem Parteigenossen zum Sieg verholfen. Niemand zweifelt daran, dass sie aus dem Hintergrund mitregieren will und wird.

Keine Änderung im Bundesrat
Die Neuwahl des Bundesrats durch die vereinigte Bundesversammlung ergibt folgende Ergebnisse:
- Ueli Maurer, SVP, 213 Stimmen
- Simonetta Sommaruga, SPS, 192 Stimmen
- Alain Berset, SPS, 214 Stimmen
- Guy Parmelin, SVP, 191 Stimmen
- Ignazio Cassis, FDP, 145 Stimmen
- Viola Amherd, CVP, 218 Stimmen
- Karin Keller-Sutter, FDP, 169 Stimmen
Regula Rytz, GPS, erreicht beim Wahlgang um den fünften Sitz 82 Stimmen. Damit bleibt sie unter dem Potential der Fraktionen von SPS und GPS, die gemeinsam in der Vereinigten Bundesversammlung über 83 Stimmen verfügen.
Bundeskanzler Walter Thurnherr (CVP) wird mit 219 Stimmen wiedergewählt.
Mit 186 Stimmen wird Simonetta Sommargua zur Bundespräsidentin für das Jahr 2020 gewählt. Es ist ihre zweite Präsidentschaft nach 2015.
Schwacher grüner Angriff
Die Überraschung ist ausgeblieben. Trotz breiter Anerkennung des grünen Anspruchs auf einen Regierungssitz war die Kandidatur der Grünen-Chefin Regula Rytz von Anfang an chancenlos. Dass sie nicht einmal sämtliche Stimmen der Sozialdemokraten und Grünen in der Vereinigten Bundesversammlung auf sich vereinen konnte, stellt der Strategie der Grünen ein schlechtes Zeugnis aus.
Die Grünen waren offensichtlich vom Ausmass ihres Sieges in den eidgenössischen Wahlen vom 20. Oktober dermassen überrumpelt, dass sie keinen Plan für die Bundesratswahl vorbereitet hatten. Die nachmalige Kandidatin tat sich tagelang schwer mit dem Entscheid zum Antreten. Der Partei- und Fraktionsführung war lange kein entschlossenes Vorgehen anzumerken.
Ein Fehler war der Entscheid für die Einer-Kandidatur mit der ganz am linken Rand des parlamentarischen Spektrums verorteten Parteichefin. Dass anscheinend niemand ausser ihr überhaupt zur Verfügung stand und so die Partei faktisch zu diesem wenig erfolgversprechenden Vorgehen gezwungen war, stellt den Grünen ein schlechtes Zeugnis aus. Offensichtlich haben sie sich selber bis zum 20. Oktober auf eidgenössischer Ebene ausschliesslich als Oppositionspartei und nicht als potentielle Regierungspartei gesehen.
Ein Anzeichen dafür ist auch die Sprachregelung der Grünen, eine «Klima-Bundesrätin» zu fordern. Auch wenn Klimapolitik zweifellos von überragender Wichtigkeit ist: Regierungsmitglieder können niemals Ein-Themen-Politikerinnen sein. So gesehen war es trotz der grossen Schubkraft der Klima-Thematik im Blick auf den Anspruch des Mitregierens nicht klug, wenn die Grünen sich als «Klima-Partei» apostrophierten.
Pech für die Grünen war, dass der von ihnen angegriffene Ignazio Cassis als Vertreter der italienischen Schweiz durch Mitte-Rechts ausgesprochen leicht zu verteidigen war. Das von der Verfassung geschützte Prinzip der Berücksichtigung der Landesteile – das man nota bene vor Cassis’ Wahl ganze 18 Jahre lang in Bezug auf den italienischen Teil sehr locker gehandhabt hatte – lieferte eine bequeme Argumentation, um den im Prinzip nicht bestrittenen grünen Anspruch hinausschieben zu können.
Ein Unentschieden für Selenski
«Nennen wir es ein Unentschieden, aber wir wollten mehr», erklärte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski nach den mehrstündigen Gesprächen im Elysée-Palast vom Montag, bei denen es um den Konflikt mit Russland um die beiden separatistischen Provinzen im Donbass ging. Das dürfte eine passable Zusammenfassung dieser hochrangigen Veranstaltung sein, zu der der französische Präsident Macron neben Selenski den russischen Staatschef Putin und die deutsche Bundeskanzlerin nach Paris geladen hatte. In einem grösseren Zusammenhang und ohne Rücksichten auf diplomatische Empfindlichkeiten betrachtet, könnte man sogar von einem vorläufigen Erfolg für den jungen ukrainischen Präsidenten sprechen.
Rückkehr mit gestärkter Autorität
Denn die Ausgangslage für dieses Treffen auf höchster Ebene zu dem seit mehr als fünf Jahren andauernden hybriden Krieg im Donbass, bei dem das militärisch überlegene Putin-Regime die entscheidenden Fäden zieht, schien zunächst für Selenski nicht besonders günstig. Zwar hatte sich der junge Präsident, der im Mai mit einem Traumresultat von über 70 Prozent in sein Amt gewählt worden war, seit längerem um eine solche Begegnung bemüht. Doch vor allem von oppositioneller Seite im eigenen Land gab es lautstarke Befürchtungen, dass der noch wenig erfahrene Neuling auf dem politischen Parkett von dem mit allen Wassern gewaschenen Machthaber im Kreml mit Leichtigkeit über den Tisch gezogen werden könnte.
Zudem schien auch das Verhältnis Selenskis zum französischen Präsidenten und zur deutschen Kanzlerin nicht ungetrübt, nachdem die Öffentlichkeit erfahren hatte, wie undankbar und opportunistisch er sich bei dem berüchtigten Telefongespräch mit US-Präsident Trump über die beiden europäischen Regierungschefs geäussert hatte.
Trotz solcher Vorbelastungen kehrt der ukrainische Präsident nach der Pariser Gipfelrunde mit gestärkter Autorität nach Kiew zurück. Er kann auf mehrere Vereinbarungen verweisen, die zur Entschärfung der Kriegsleiden unterzeichnet wurden. Dazu gehört ein vollständiger Waffenstillstand im Donbass und ein Austausch sämtlicher Kriegsgefangener bis zum Ende dieses Monats, eine grundsätzliche Zustimmung zur Durchführung von Wahlen in den beiden umstrittenen ostukrainischen Provinzen Donezk und Lugansk sowie das Versprechen, in vier Monaten ein neues Treffen Selenski-Putin mit den beiden Vermittlern Macron-Merkel zur Lösung des Ostukraine-Konflikts durchzuführen.
Ungelöste Hauptfragen
Gewiss, derartige Waffenstillstands-Zusagen sind schon ungezählte Male zu Papier gebracht, aber bisher nie vollständig verwirklicht worden. Dennoch sind die Hoffnungen, dass es diesmal nicht bei leeren Absichtserklärungen bleibt, nicht ganz unbegründet. Immerhin sind in den letzten Wochen schon ein grösserer Gefangenenaustausch sowie lokale Truppenentflechtungen in Taten umgesetzt worden. Für die von diesen Massnahmen betroffenen Menschen sind das wesentliche Erleichterungen.
In den Hauptfragen zur Lösung des Donbass-Konflikts hat sich in Paris noch kein Durchbruch abgezeichnet. Es geht um die Durchführung von Wahlen in den beiden abtrünnigen Provinzen sowie um die Kontrolle der ukrainischen Staatsgrenze in diesem Gebiet. Selenski will, nicht zuletzt unter Druck innenpolitischer Kritiker, solche regionalen Wahlen erst abhalten, wenn die Ukraine ihre Aussengrenze zu Russland wieder vollständig kontrollieren kann. Putin beharrt demgegenüber darauf, dass dieser Zustand und der Abzug aller russisch gelenkten Truppen erst nach der Durchführung solcher Wahlen hergestellt werden könne. Er beruft sich dabei offenbar auf die sogenannte Steinmeier-Formel, die der frühere deutsche Aussenminister zu einem früheren Zeitpunkt in die Diskussion gebracht hatte.
Erinnerung an das Krim-Referendum
Hier geht es tatsächlich um die Knackpunkte für eine ernsthafte Lösung im Donbass. Solange russische Streitkräfte und die von ihnen gelenkten separatistischen Kämpfer im Donbass agieren und die ukrainische Regierung die dortige Grenze zu Russland nicht kontrollieren kann, wird ein glaubwürdiger Wahlprozess in den beiden separatistischen Provinzen schwerlich stattfinden können. Unter solchen Bedingungen dürfte auch die neutrale OSZE nicht in der Lage sein, einen solchen Prozess als fair und frei zu zertifizieren.
Das Beispiel auf der Krim, wo unter russischer Besetzung im März 2014 ein Referendum über den «Anschluss» der Halbinsel an Russland ein sowjetisches Ergebnis (95 Prozent Ja) erbrachte, wird in Kiew mit guten Gründen als unakzeptables Muster eingestuft.
Einem solchen Wahlverfahren im Donbass, wie Putin es anstrebt, hat Selenski in Paris eine deutliche Absage erteilt, was selbst seine innenpolitischen Kritiker mit Befriedigung registriert haben. Diese nehmen sogar für sich in Anspruch, es sei nur ihren lautstarken Kiewer Demonstrationen im Vorfeld des Treffens zu verdanken, dass der junge Präsident sich von dem gerissenen Kremlchef nicht habe übertölpeln lassen.
Russland-Sanktionen als Hebel
Wie dem auch sei, der frühere TV-Entertainer Selenski kann nach seiner ersten direkten Begegnung mit dem Machthaber des expansiven Nachbarlandes einige positive Bewegungen im verlustreichen Kampf um die separatistischen Donbass-Provinzen in Aussicht stellen. Weitere Fortschritte und eine akzeptable Lösung dieses Konflikts werden indessen nur zustande kommen, wenn auch Putin sein bisher nur zögerliches Interesse an solchen Fortschritten nicht wieder aufgibt. Lange Zeit war ihm offenkundig die politische und wirtschaftliche Destabilisierung der Ukraine, die sich dem russischen Machtbereich zu entziehen versucht, wichtiger als eine Beilegung des Donbass-Konflikts.
Die sich nach dem Pariser Gipfel vorsichtig abzeichnende kompromissbereitere Haltung des Kremls dürfte mit den anhaltenden westlichen Wirtschaftssanktionen gegenüber Russland und einer Reihe von Magnaten in Putins Umfeld zu tun haben. Diese Sanktionen beeinträchtigen offenbar die Interessen und Ziele der Moskauer Machtelite härter, als die Kreml-Propagandisten und ihre Mitläufer im Westen zuzugeben bereit sind.
Selenski kann deshalb nur dann auf wirkliche Bewegungen auf russischer Seite zur Lösung des Donbass-Konflikts hoffen, wenn die westlichen Verbündeten den Sanktionsdruck auf das Putin-Regime vorläufig aufrechterhalten. Die deutsche Bundeskanzlerin scheint dazu entschlossen – weil sie die Zusammenhänge und Triebkräfte auf diesem Schachbrett besser durchschaut als ihr europäischer Kollege Macron oder der Egomane Trump im Weissen Haus.
Abschied von den Nerds
Am Schluss bekommt er sie doch noch, die Auszeichnung, von der er schon als Junge annahm, dass sie ihm zusteht. In Stockholm wird Dr. Sheldon Cooper (Jim Parsons) der Nobelpreis für Physik verliehen, zusammen mit seiner Frau Dr. Amy Farrah Fowler (Mayim Bialik), die ihn von neurowissenschaftlicher Grundlage her bei der Entdeckung der Super Asymmetrie unterstützt hat. So viel Spoiler darf sein in Bezug auf die allerletzte Folge der zwölften und letzten Staffel einer Sitcom, die über ein Dutzend Jahre hinweg alle Welt zum Lachen gebracht hat.
Alternde Sitcoms
Es war Jim Parsons, der Darsteller des Sheldon, der seine Figur und damit die ganze Belegschaft in Pension geschickt hat. Gewiss nicht zu früh, denn die letzten beiden Staffeln wären nicht mehr nötig gewesen. Wenn die jugendlichen Protagonisten in die Jahre kommen und sich die Folgen um Eheknatsch und Kinderaufzucht zu drehen beginnen, dann ist die Luft in der Regel raus. Das war schon bei «Friends» nicht anders, wo die Reissleine bereits nach der zehnten Staffel gezogen wurde.
Und dennoch verdient «Big Bang Theory» eine Würdigung in einem leicht wehmütigen Rückblick, weil diese Serie es verstanden hat – ähnlich übrigens wie seinerzeit «Friends» –, im Rahmen anspruchsloser Fernsehunterhaltung den Zeitgeist zu spiegeln. Sollte dereinst ein Historiker aus dem 23. Jahrhundert die westliche Kultur des frühen 21. beschreiben wollen, so böten ihm die vollständigen Staffeln von «BBT» auf jeden Fall hervorragendes Quellenmaterial. Um die richtigen Schlüsse zu ziehen, bräuchte er allerdings eine grössere Sarkasmus-Kompetenz als der Obernerd aus der Serie.
Ethnographisches Tableau
Es beginnt schon mit der Komposition der ursprünglichen Stammbesetzung: Da sind Sheldon, der Hochbegabte aus Texas, Leonard (Johnny Galecki), ein Spross der Ostküsten-Elite, Howard (Simon Helberg), Jude mit Begabung zu mehr oder weniger freiwilliger Komik, schliesslich Penny (Kaley Cuoco), das Girl aus Nebraska, und Raj (Kunar Nayyar), der farbige Immigrant aus Indien. Später kommt mit Bernadette (Melissa Rauch) ein Kind polnischer Einwanderer hinzu und Amy stammt aus der kalifornischen, eher der unteren und stockkonservativen weissen Mittelschicht. Ein paar wenige Figuren bilden so ein ethnographisches Tableau der US-Gesellschaft, das mit Klischees zu spielen und immer wieder kulturelle Gegensätze zu verulken erlaubt.
Dann gibt es die sehr spezielle Konstellation von vier Nerds mit einer intellektuell unbedarften Wohnungsnachbarin. Im Normalfall stehen die superschlauen Hochintelligenzler bei Alltagsproblemen wie Esel am Berg und die Schauspielerin/Kellnerin von nebenan darf sie raushauen. So beispielsweise als Sheldon, dem «grossen Sheldor», beim Online-Spiel wertvolle Gadgets geklaut werden: Die Netfreaks haben den diebischen Hacker zwar schnell ausgemacht, aber wie sie als Rächer auf der Veranda des riesenhaften, dicklichen Nerds stehen, wissen sie nicht weiter. Und Penny löst das Problem nach Männerart: mit einem gezielten Kniestich.
Mag sein, dass diese Grundanlage nicht die edelsten Antriebe beim Publikum anspricht. Da dürfte einiges an schlichter Schadenfreude dabei sein, wahrscheinlich auch ein wenig Bildungsneid. Es kann doch irgendwie guttun, zu erfahren, dass den Strebern in der Schule mitunter die Köpfe in die Unterhosen gepackt oder gleich ins Klo getaucht wurden. Lachen – das wissen wir seit Freud – hat viel mit Regelverstössen zu tun und damit auch einen Draht zum Unkorrekten.
Kastrierende Mütter
Politisch korrekt ist die Serie natürlich auch nicht in der Art, wie sie das Geschlechterverhältnis darstellt. Dass Penny als Hetero-Frau allein ihren Mann steht, mag ja noch durchgehen; aber das Bild, das die Mütter der Nerds abgeben, das passt nun gar nicht. Debbie Wolowitz, stets nur als Stimme, dafür umso raumfüllender präsent, hat ihr «Bubele» dermassen an sich gekrallt, dass es sein Kinderzimmer auch nach dem Abschluss am MIT keinesfalls verlassen will.
Beverly Hofstadter, ihres Zeichens Psychologin, frönte der Passion, bei Klein-Leonard alle oralen, analen oder genitalen Betätigungen zu überwachen und publizistisch auszuschlachten. Und auch gegenüber dem erwachsenen Sohn kennt sie keinerlei Scham, sein Sexualleben zu kommentieren. Am besten kommt noch Mary Cooper weg, die Bibelfeste aus Texas, die ein zweites Buch zu lesen verspricht für den Fall, dass Gott noch eins schreiben sollte. Sie kann ihren Shelley wenigstens als – zwar etwas bizarres – Geschenk des Herrn annehmen, zumindest nachdem sie ihn auf seinen Geisteszustand hat testen lassen.
Verunsicherter Blick
Das sind durchwegs Frauengestalten aus dem psychologischen Gruselkabinett der sechziger und siebziger Jahre, wo die «versagende Mutter» für den ganzen Neurosenstrauss der Sprösslinge verantwortlich gemacht wurde. Und frau braucht keineswegs Radikalfeministin zu sein, um in diesem Mutterbild frauenfeindliche Tendenzen wahrzunehmen.
Die wären unbestreitbar vorhanden, wenn die Serie einen soziologischen Befund oder gar eine ontologische Bestimmung von Weiblichkeit vorlegen wollte. Aber das ist definitiv nicht die Absicht; die Macher von «BBT» zeigen einfach nur – parodistisch überhöht – den Blick, den verunsicherte Männer auf die Welt richten, Männer, denen familiäre wie gesellschaftliche Rollenvorbilder gefehlt haben, so dass ihnen Frauen, ob nun Mütter oder mögliche Partnerinnen, übergross und bedrohlich erscheinen müssen.
Männer als Spielkinder
Zumindest bei drei der vier Nerds haben die Väter sich dünn gemacht, sind farblose Randfiguren geblieben oder, wie in Howards Fall, gleich ganz abgehauen. Nur bei Raj treten die Eltern – jeweils auf Skype – als Paar auf, aber der ist Inder und letztlich scheitert auch hier die Ehe. Auf jeden Fall hat ein Gegengewicht zu den Müttern gefehlt, was die Abnabelung der Söhne erschwerte. So haben die es vorgezogen, Spielkinder zu bleiben, sammeln angefressen die Comic-Hefte aus ihrer Kindheit, träumen sich in die Rolle von Superhelden und kennen sich besser im Auenland aus als in ihrer Nachbarschaft.
Auch was ihre Sex-Phantasien betrifft, sind sie in der Pubertät hängen geblieben, mit Ausnahme natürlich von Sheldon, der gar keine hat, dafür aber auf Modelleisenbahnen steht. Überhaupt das Technische, es fasziniert sie, weil es hier keine Zwischentöne gibt, sondern nur überschaubare, oft binäre Optionen. Von daher auch die Begeisterung für Science Fiction und nicht weniger ihre Berufswahl: Als Naturwissenschaftler und Techniker geniessen sie das Privileg, in einem virtuellen Universum zu leben – weit weg von allen Knörzen des Alltags – und damit sogar Anerkennung sowie ein Auskommen zu finden.
Hier trifft die Serie durchaus einen Nerv, denn verunsicherte Männlichkeit ist ja alles andere als ein Randphänomen. Entsprechend kann man(n), ausreichend Selbstironie mal vorausgesetzt, sich in den Nerds durchaus wiedererkennen. Die Flucht in übersichtliche Parallelwelten ist beim sogenannt starken Geschlecht jedenfalls ziemlich verbreitet. Hierher gehört sicher die Faszination für technisches Spielzeug, bei dem es zentral um Power geht, sei’s nun das neuste, leistungsfähigere Tablet oder das getunte Auto. Hierher gehört auch das Abtauchen in Fan-Kulturen oder sonstige Männerbünde, wo die Buben-Klüngelei munter fortbetrieben wird.
Lust am Dysfunktionalen
Der Lustfaktor, der für den Erfolg dieser Sitcom entscheidend war, liegt aber möglicherweise nochmal woanders. Da sind nämlich Protagonisten, die sich der heute angesagten Funktionalität und Stromlinienform verweigern. Sie sind nicht taff, sondern mimosenhaft und unendlich kompliziert. Sie leiden an seelischen Bresten, welche sie seit der Kindheit mitschleppen und die sie daran hindern, fix auf die wechselnden Anforderungen des Augenblicks zu reagieren. Dabei machen sie nicht die geringsten Anstalten, sich im Sinne der modischen Glückspsychologie selbst zu optimieren.
Keine der Hauptfiguren unterzieht sich einer Therapie; Raj, der immerhin gegen seinen selektiven Mutismus ankämpft, tut dies ausschliesslich mit chemischen Mitteln und entsprechend ambivalentem Erfolg. Nur gerade der depressive Buchhändler Stuart, eine Nebenfigur, nimmt ärztliche Hilfe in Anspruch, hat dabei aber schon mal einen Therapeuten in den Selbstmord getrieben.
«Was wäre das Leben ohne Schrullen?» – so Sheldon im Originalton. Die Figuren der Serie sind dysfunktional, und das ist gut so. Sich über sie zu kugeln hat etwas Befreiendes, weil sie sich durchwegs in einer Weise verhalten, die heute untersagt ist. Im Lachen über sie können wir beides: uns distanzieren und doch insgeheim an ihrem schrägen Wesen Anteil nehmen, das auch an die eigenen Schwächen erinnert.
Die Liga der Autisten
Potenziert findet sich der Widerstand gegen die aktuelle ideologische Weichspülung natürlich in der Figur des Obernerds. Sheldon lebt offen Züge aus, die wir heute sorgsam verbergen müssen: Eigenheit, Eigensinn sowie eine Gradlinigkeit, die sich auch nicht um eine Bogensekunde verbiegen lässt. Sheldon geht es stets um das Wesentliche, um die Sache; das ist zuerst die String-Theorie, später sind es andere Spielfelder der theoretischen Physik.
Darüber pfeift er auf kommunikative, ja überhaupt soziale Kompetenzen, nimmt grundsätzlich nicht am allgemeinen Austausch von Nettigkeiten teil und schon gar nicht an Sponsorenpartys, die Geld in die Universitätskasse spülen sollen. Auch mit Political Correctness hat er nichts am Hut, reduziert ungeniert Mitarbeiterinnen auf Hormonhaushalt oder Monatszyklus und zeigt auch keine Einsicht, als er deswegen bei der Personalchefin antanzen muss, – einfach selig verpeilt.
Es ist völlig unmöglich, ihn in ein Team einzubinden. Das hat er im Übrigen mit anderen Serienhelden gemein, die nach dem Millenium aufgetaucht sind: Der Detektiv Monk oder Dr. House lassen grüssen, und selbst der «Tatort» hat heute ein paar spezielle Kommissare. Für diese Konjunktur der Autisten gibt es in der Tat Gründe. Wer möchte denn nicht gern einmal Vorgesetzten frech ins Gesicht lachen und NEIN sagen – in der unnachahmlichen sheldonesken Selbstgewissheit, die Dr. Cooper auszeichnet?
Er und seine Mitnerds haben Abend für Abend auf vielen Kanälen Einspruch erhoben gegen Glücksdiktat und Flexibilisierungsgebote. Insofern waren sie eine Art Stadtguerilla gegen den durchgestreamten Lebensstil. Sie werden uns fehlen.

Winston Churchill
Lache nie über die Dummheit der anderen. Sie ist deine Chance.
Bitte nicht nach Estland pilgern!
Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die Pisa-Studie. Und dies im Land mit den höchsten Kosten pro Schüler! Von einer Schmach spricht der „Tages-Anzeiger“. Ein Viertel der 15-Jährigen ist hierzulande nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Sie können das Geschriebene entziffern, verstehen aber das Gelesene nicht.
Systemversagen stört nicht
Seit Jahren sinken die Leistungen der Schweizer Schüler in den Pisa-Studien. Das „Programme for International Student Assessment“, kurz Pisa, ist die grösse internationale Evaluation von Schulleistungen. Sie erfolgt im Auftrag der Organisation für Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. Getestet wurden diesmal rund 600’000 Schülerinnen und Schüler in fast 80 Ländern, davon 6’000 Jugendliche in 200 Schweizer Klassen. Nach wie vor gut in Mathematik und durchschnittlich im Bereich der Naturwissenschaft, doch schwach im Lesen, lautet das jüngste PISA-Fazit für die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler unseres Landes.
Bildungspolitiker zeigen sich erstaunt und reiben sich die Augen. Wie wenn man es nicht gewusst hätte! Eigentlich müssten die Alarmglocken läuten. Schon vor Jahren hat die renommierte ETHZ-Lernforscherin Prof. Elsbeth Stern darauf hingewiesen, wonach mindestens 15 Prozent der schulentlassenen Jugendlichen funktionale Analphabeten oder Illiteraten wären. Die Bildungsverantwortlichen schwiegen. Das Systemversagen im teuersten Bildungssystem der Welt schien sie nicht zu stören. (1) Geschehen ist wenig.
Der Schlüssel liegt im Schulzimmer
Viel wurde in den letzten Tagen geschrieben, noch mehr geredet und am häufigsten wohl ein flinkes Patentrezept präsentiert. Signifikant ist der Reflex des Schweizer Lehrerverbands. Der LCH begrüsst die „positiven [PISA-]Resultate“ und fordert für die Schule bessere „Rahmenbedingungen“, sprich noch mehr Geld. Die Bildungspolitiker ihrerseits plädieren fast unisono für eine Frühförderung. Das ist wichtig und richtig, darf aber nicht der einzige Fokus bleiben. Der zentrale Blick gehört ins Schulzimmer gerichtet.
Das Lesen und das Schreiben trainieren
Von dieser Perspektive spricht erstaunlicherweise nur der „Tages-Anzeiger“. Er redet Klartext und bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Der falsche Reformeifer rächt sich.“ (2) Hier liege des Pudels Kern: Integration lernschwacher Schüler in die Regelklasse, zwei frühe Fremdsprachen, Abbau von Deutschlektionen, Überfrachtung durch sozialpädagogische Aufgaben. Das alles bringe die Schulen vielerorts an ihre Belastungsgrenzen. Das Boot ist schwer beladen. Nötig wäre eine Konzentration aufs Wesentliche. Dazu gehören die Basiskompetenzen.
Lesenlernen ist anspruchsvoll, das Einüben grundlegender Lesetechniken eine schwierige didaktische Aufgabe. Lehrerinnen und Lehrer haben heute kaum mehr Raum und Zeit, richtig und vertieft und immer wieder übend ins Lesen einzuführen – oder im Klassenverband zu lesen, anleitend. Zu vieles muss in zu kurzer Zeit durchgenommen und behandelt werden. Korrektes und verstehendes Lesen müsste auch mit einem vertiefenden Schreibunterricht verbunden sein – nicht einfach bis weit in die oberen Klassen mit einem „Schreiben nach Gehör“.
Verfehlte Reformen schaden schwächeren Kindern
Dieser Zusammenhang geht leicht vergessen. Die 15-jährigen Jugendlichen waren nicht selten Versuchskaninchen für Experimente beim Lesen- und Schreibenlernen. Guten und begabten Schülern schadet das nicht wesentlich. Auf schwächere Kinder oder solche mit einer anderen Muttersprache als Deutsch wirkt es sich aus. Sie bleiben unter ihren Möglichkeiten: die Folgen falsch gelagerter Reformen oder methodischer Fehlgriffe.
Gerade diese Kinder müssen wirklich gut lesen lernen und die Laute sicher den Buchstaben zuordnen können – und dies, ohne sich zuerst eine falsche und dann eine korrekte Rechtschreibung einprägen zu müssen. Etwas ganz Entscheidendes. (3)
Die Kernfrage: Was läuft denn falsch?
Die Leseleistungen unserer Schüler haben sich verschlechtert. Das ist Fakt. Die Bildungspolitik müsste darum der Frage nachgehen, was in diesem Bereich passiert und warum vielleicht einiges falsch läuft. Und dazu zählt eben auch die einseitig favorisierte Methode des selbstregulativen Lernens. Es gibt Klassen, in denen sich die Kinder in Lernwerkstätten das Alphabet selber beibringen müssen. Der Lehrer, die Lehrerin begleitet nur als Coach.
Viele Kinder aber brauchen das anregende und führende Gegenüber. Sie benötigen Halt und ein sicheres Geländer. Allein sind sie überfordert. Das wirkt sich aus. Wichtig wären lautes Lesen im Chor, im Tandem, auch allein und still vor sich hin. Das erhöht die Leseflüssigkeit. Stetes Wiederholen und feste Routinen helfen.
Die „direkte Instruktion“ als effektive Lehrform
Besonders im Elementarunterricht mit dem Lesen und Schreiben ist das gemeinsame Einführen und das gemeinsame Üben und Optimieren eine effektive Unterrichtsform. Empirische Studien belegen den Wirkwert der direkten Instruktion. Im Vergleich zu anderen Lehrmethoden führt sie zu höheren Durchschnittsleistungen, zu stärkerem Leistungszuwachs und zu besseren individuellen Lernergebnissen – vor allem auch bei schwächeren Schülerinnen und Schülern.
Franz E. Weinert, Kronzeuge für den Lehrplan 21 und früherer Direktor des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung, hielt kurz und bündig fest: „Zum Entsetzen vieler Reformpädagogen erwies sich in den meisten seriösen Studien eine Lehrform als überdurchschnittlich effektiv, die […] als ‘direkte Instruktion’ bezeichnet wird. Sie verbessert die Leistungen fast aller Schüler, erhöht deren Selbstvertrauen in die eigene Tüchtigkeit und reduziert ihre Leistungsängstlichkeit.“ (4)
Das ferne Estland liegt im nahen Schulzimmer
Lesen können ist fürs Leben entscheidend. Und lesen können ist die Grundlage der Lesefreude. Denn nur wer lesen kann, wird es auch gern tun. Und hier hapert es: Die Lesefreude unter den Jugendlichen sinkt. Eine problematische Tendenz.
Schule muss gegenhalten, muss Gegenläufiges betonen. Das gehörte schon immer zu ihrem Auftrag. Und dazu zählt die basale Lesefähigkeit. Und zwar aller Kinder. Diese Erkenntnis braucht keinen Bildungstourismus wie einst nach Finnland. Das ferne Estland liegt im nahen Schulzimmer.
(1) SKBF (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung, S. 73.
(2) Raphaela Birrer, Der falsche Reformeifer rächt sich, in: Tagesanzeiger, 04.12.2019, S. 2.
(3) Heike Schmoll, Leseschwach, in: FAZ, 04.12.2019, S.1.
(4) Gerd-Bodo von Carlsburg (Hrsg./ed.) (2008), Baltische Studien zur Erziehungs- und Sozialwissenschaft. Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH, S. 100.
Afrikanisches Sprichwort
Man wird nicht besser, indem man die anderen schlecht macht.
Pokerspieler Boris triumphiert
Boris Johnson hat hoch gepokert und jetzt hoch gewonnen. Obwohl er schon als früherer Journalist als ätzender Kritiker der EU mit Sinn für einäugige Schlagzeilen Karriere gemacht hatte, war er ursprünglich nicht für den Austritt Grossbritanniens aus der Brüsseler Union eingetreten, als der damalige Premier Cameron 2016 ein Referendum über diese Frage anberaumte. Doch bald danach folgte er seinem hochentwickelten Riecher zur persönlichen Profilierung und setzte sich als Wortführer an die Spitze der Pro-Brexit-Kampagne.
Taktisch überlegen
Weil es Theresa May, seiner Vorgängerin als Regierungschefin, nicht gelang, für ihren Brexit-Vertrag mit der EU im Parlament eine Mehrheit zu finden und sie sich obendrein bei einer vorgezogenen Unterhauswahl bös verrechnet hatte, konnte sich Johnson im Juni dieses Jahres einigermassen mühelos zum neuen Tory- und Regierungschef katapultieren.
Sein pausenlos eingehämmerter Slogan «Get Brexit done» hat sich als durchschlagendes Erfolgsrezept erwiesen. Damit sind vor allem zwei zentrale taktische Ziele erreicht worden: Erstens hat Johnson mit dem ungestümen Versprechen, den Ausstieg aus der EU unter allen Umständen durchzuziehen, dem gefährlichen Konkurrenten Nigel Farage und dessen Brexit-Partei vollständig den Wind aus den Segeln genommen. Und zweitens hat er gleichzeitig den vom endlosen Brexit-Gerangel zermürbten Publikum ein scheinbar definitives Ende dieser alptraumhaften Tunnelfahrt angezeigt.
Corbyn und Swinson als Wahlhelfer
Aber Boris Johnson hatte noch zwei weitere effiziente Wahlhelfer. Sie heissen Jeremy Corbyn und Jo Swinson. Der alles andere als charismatische Labour-Führer hat sich in diesem Wahlkampf völlig verrannt und nun laut BBC für seine Partei das schlechteste Resultat bei Unterhauswahlen seit 1935 eingefahren. Der zum politischen Sektierertum neigende Altmarxist Corbyn konnte sich nicht einmal zu einer eindeutigen Haltung in der alles dominierenden Brexit-Frage durchringen. Und wer seine windungsreichen Antworten im BBC-Interview auf den Vorwurf antisemitischer Strömungen in seiner Partei mitverfolgt hat, konnte schwerlich den Eindruck haben, dass mit der Persönlichkeit des Labour-Chefs eine überzeugende Alternative zum durchtriebenen Pokerspieler Johnson zur Wahl stehe.
Corbyns Tage als britischer Oppositionsführer sind nach diesem Fiasko mit Sicherheit gezählt. Vielleicht werden sich einige besonnene Köpfe in der Partei daran erinnern, dass Labour mit einer ideologisch weniger verbiesterten und kommunikativ begabteren Figur wie Tony Blair vor nicht allzu ferner Zeit drei Mal hintereinander die Unterhauswahlen gewonnen hatte.
Eine schwere Enttäuschung müssen indessen auch die in der politischen Mitte angesiedelten Liberaldemokraten (Lib Dems) einstecken. Sie hatten gehofft, neue Wählerschichten zu gewinnen, weil sie von Anfang an für ein neues Referendum über die verkorkste Brexit-Frage geworben hatten. Doch die Lib-Dems-Führung machte im Wahlkampf schwere taktische Fehler. Sie gaukelte dem Publikum vor, das sich das Brexit-Dilemma dadurch auflösen liesse, dass eine von ihr mitgeführte Regierung den früheren Antrag zum Austritt aus der EU einfach widerrufen könnte – und zwar ohne Rücksicht auf das Brexit-Referendum vor drei Jahren. Die junge Parteichefin Jo Swinson ist für diese politische Naivität hart bestraft worden: Sie verlor ihren bisherigen Unterhaus-Sitz in Schottland. Auch die Lib Dems müssen sich nun nach einem neuen Parteiführer umsehen.
Keine grüne Welle
Anders als etwa in der Schweiz, in Deutschland oder Österreich ist bei dieser britischen Parlamentswahl von einer grünen Welle kaum eine Spur zu entdecken. Die junge Grüne Partei hat zwar laut den bisherigen Ergebnissen ihren dürftigen Wähleranteil von ein auf zwei Prozent vergrössern können, doch sie wird mit keinem einzigen Sitz im Unterhaus vertreten sein.
Boris Johnson hat im Wahlkampf dem Publikum vorgeschwärmt, mit einem Sieg seiner konservativen Partei sei der Brexit «ofenfertig» gesichert, doch er unterschlug dabei, dass nur das von ihm ausgehandelte formelle Austrittsdatum vom 31. Januar einigermassen solide festgeklopft ist. Danach aber folgen schwierige Verhandlungen über das künftige Verhältnis des Königreichs zur EU, die gemäss Fahrplan bis Ende 2020 abgeschlossen sein sollten. Gelingt das nicht, will Johnson einen No-Deal-Brexit durchboxen, was nach Ansicht namhafter Experten die Briten mit grossen wirtschaftlichen Problemen belasten würde.
Weg nach «Kleinbritannien»?
Schwer kalkulierbar wird nach Johnsons Poker-Triumph auch der politische Zusammenhalt Grossbritanniens. In Schottland, wo eine deutliche Mehrheit der Wähler schon 2016 gegen den Brexit gestimmt hatte, hat die Scottish National Party (SNP) bei der jetzigen Unterhauswahl kräftig zugelegt und ihre Sitzzahl um 13 auf 48 verstärkt. Die Parteichefin Nicola Sturgeon hat bereits erklärt, sie betrachte diesen Erfolg als Mandat für ein neues Referendum über einen möglichen Austritt Schottlands aus dem britischen Königreich. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass als Folge von Johnsons Brexit-Jubel aus Grossbritannien eines nicht allzu fernen Tages ein Kleinbritannien wird. Auch trickreiche Pokerspieler stehen am Ende ihrer Karriere nicht immer als überragende Sieger da.
Giovanni Guareschi, italienischer Schriftsteller, 1908–1968, „Don Camillo und Peppone“
Sobald ein Optimist ein Licht erblickt, das es gar nicht gibt, findet sich ein Pessimist, der es wieder ausbläst.
Das Gesicht zeigen
Es ist in einer offenen Gesellschaft guter Stil, das Gesicht zu zeigen. Dies zu tun, zeigt die Bereitschaft, Teil dieser offenen Gesellschaft zu sein. Nur: offen ist sie gerade auch dann, wenn sie es ihren Mitgliedern ermöglicht, das Gesicht zu verstecken. Dies kann aus sehr unterschiedlichen Gründen geschehen. Die meisten von ihnen würden eine offene Gesellschaft anerkennen. Problematisch wird der Tatbestand der Gesichtsverschleierung dann, wenn das Motiv selbst als problematisch angesehen wird und wenn diejenigen, die sich das Gesicht verschleiern, weigern, den Schleier zu lüften, sobald der Staat und seine Institutionen dies in Vertretung der Gesellschaft verlangen.
Nun kann kein Zweifel daran bestehen, dass der moderne Staat ein Recht hat, das Gesicht seiner Angehörigen zu sehen und eine Person aufgrund des Gesichts zu identifizieren. Er hat also das Recht zu verlangen, das Gesicht zu enthüllen. Dieses Recht hatte er schon immer und muss nicht noch eigens verfassungsrechtlich bestätigt werden.
Den Sinn der Bundesverfassung wahren
Wenn nun aber das Verhüllen des Gesichts verboten werden soll, dann wird das situationsbezogene Recht des Staats in eine Generalprävention verkehrt. Die in der Bundesverfassung mit der Formel «Niemand darf ...» eingeleiteten Grundsätze betreffen das Verbot von Diskriminierung, von Zwang zu einer Mitgliedschaft, von Ausschaffung, wenn Folter droht oder von Bevorzugung aufgrund der Bürgerrechte. Es handelt sich also um Formulierungen, die den liberalen Rechtsstaat begründen helfen. Dies spiegelt sich auch in den bisherigen Verbotsanordnungen der Verfassung. Verboten sind die Todesstrafe, die Folter, die Zensur, der Handel mit menschlichen Organen und – seit 2009 in Art. 72.3 – der Bau von Minaretten. Bis auf das letztgenannte Verbot ist das verfassungsrechtliche «Verbieten» als Generalprävention zum Schutz des Lebens und der Freiheit zu verstehen.
Das angestrebte «Verbot der Verhüllung des eigenen Gesichts» folgt nun der antiliberalen Logik des Verbots des Baus von Minaretten. Es wurde behauptet, Minarette gefährdeten die Freiheit, deshalb müssten sie verboten werden. Nun hat schon der Philosoph Karl Popper in seiner Verteidigung der «offenen Gesellschaft» darauf hingewiesen, dass Freiheit nicht durch Verbote, sondern nur durch die Gewährleistung der Freiheitsrechte verteidigt werden kann. Andernfalls droht das Paradox des illiberalen Liberalismus.
Insofern ist die Forderung, dass niemand gezwungen werden darf, sich das Gesicht zu verhüllen, im Prinzip richtig. Problematisch hingegen ist es, wenn mit der Formulierung «aufgrund des Geschlechts» nur ein Motiv der Zwangsausübung genannt wird und wenn mit dem Verbot der Verhüllung nur ein Handlungsfeld des Erzwingens genannt wird. Denn im Prinzip gilt jede unzulässige Gewaltanwendung oder Drohung, jedes unzulässige Einwirken von aussen auf jemanden unter Anwendung oder Androhung von Gewalt, und damit jede Unterdrückung des Freien Willens als Zwangshandlung, die durch bestehendes Recht verboten und sanktioniert ist. So ist die Frage berechtigt, warum die Bundesverfassung genau diese eine und nur diese eine Form des Zwangs beziehungsweise der Nötigung verbieten soll.
Umgekehrt werden in der Gesetzgebung zahlreiche Tatbestände angesprochen, für die es keine Setzungen in der Bundesverfassung gibt. So wird in § 232a StGB im Abschnitt «Straftaten gegen die persönliche Freiheit» die Zwangsprostitution verboten, da der Tatbestand das Rechtsgut der persönlichen Freiheit der Betroffenen verletzt. Konsequenterweise müsste in der Bundesverfassung ein Verbot der Zwangsprostitution eingefügt werden. Die Verletzung des Freien Willens liegt auch bei Zwangsheiraten vor, die nun als «Verbrechen» und nicht bloss als «Vergehen» eingestuft werden. Hier ist das Zivilgesetzbuch zuständig. In der Schweiz soll es pro Jahr etwa 3–400 im Ausland geschlossene Zwangsheiraten geben. Die Zahl ist drei bis viermal so hoch als die Zahl derjenigen Frauen, die sich in der Schweiz öffentlich das Gesicht verhüllen. Dringlicher als die Verhüllungsfrage ist die Problematik der Züchtigung von Kindern. Warum es bis heute in der Schweiz immer noch nicht verboten, Kinder mit Prügel zu züchtigen? Warum gelingt es der Legislative hier nicht, eine Gesetzgebung in die Wege zu leiten?
Aus der Sicht der Initianten gibt es zahlreiche Situationen, in denen das Verhüllen des Gesichts legitim ist. Wenn sich Menschen vor einer Ansteckung schützen, wenn sie sich zu ihrer eigenen Sicherheit unerkenntlich machen, wenn sie sich vor klimatischer Exposition schützen und sie einem «einheimischen Brauchtum» folgen wollen, dann dürfen sie sich das Gesicht verhüllen. Logischerweise wäre es illegitim, in anderen Situationen das Gesicht zu verhüllen. Faktisch läuft dies so auf eine sittenpolizeiliche Ordnung hinaus, wo Verhüllte nach der Gesinnung ihres Tuns befragt werden müssen um abzuklären, ob ihre Verhüllung illegitim ist. Oder im Ausführungsgesetz wird mitgeteilt, an welchen Formen der Verhüllung erkennbar ist, ob diese legitim ist. Selbst dann könnte es schwierig werden. So tragen in Frankreich manche Frauen, die weiter ihr Gesicht verschleiern wollen, einen medizinischen Gesichtsschutz.
Vom Vermummen und Verhüllen
Es gibt Kleidervorschriften an Firmen, Schulen und Behörden. Es gibt Bekleidungsvorschriften am Arbeitsplatz und in Clubs. Es gibt das Reglement «Bekleidung und Packungen» der Schweizer Armee. Aber es ist ein wesentliches Merkmal einer Freien Gesellschaft, dass sie ihren Mitgliedern keine Vorschriften macht, wie sie sich öffentlich zu kleiden haben. Inzwischen sind auch die sozialen Konventionen, die bislang die öffentliche Kleidungsordnung bestimmt hatten, weitgehend abgebaut worden. Der Staat hat dies schon längst anerkannt. Es gibt keinen Zwang, sich in der Öffentlichkeit den Körper zu verhüllen, es sei denn, andere nehmen Anstoss daran und kantonales Recht definiert dies dann als «unanständiges Benehmen». So darf der Körper im Prinzip auch öffentlich nackt sein. Zugleich gibt es keine Verpflichtung, dass Teile des Körpers nackt zu bleiben haben. Dies wäre der Fall, wenn Menschen das Zeigen ihres Gesichts als «Entblössung» oder «Nacktheit» bestimmen. Der Staat hat natürlich kein Recht, den Menschen Vorschriften zu machen, ob sie sich in irgendeiner Weise «nackt» zu zeigen hätten. Nun gibt es Frauen, die aus welchen Gründen auch immer die Gesamtheit des unbekleideten Körpers und nicht allein den unbekleideten Rumpf als «nackt» verstehen. Genauso wenig wie der Staat eine Bekleidungsgebot erlassen kann, kann er ihnen die Vorschrift machen, sich zu «entblössen», selbst wenn es nur einen Teil des Körpers betrifft.
Der Sache nach wird um die soziale Bedeutung des Gesichts gestritten. «Kein freier Mensch verhüllt sein Gesicht», heisst es. Das ist eine normative Aussage, die sich mit dem Prinzip der Freiheit nicht verträgt. Zur Freiheit gehört aber auch, dass sich Menschen ohne Angst erkennbar machen können, so auch religiös erkennbar. In dem Sinne können Mensch selbst dann Gesicht zeigen, wenn sie das Gesicht verhüllen. Die Metapher «Gesicht zeigen» gilt heute vor allem dem zivilgesellschaftlichen Engagement gegen Rechtsextremismus, auch unter muslimischen Gemeinden wird dieser Ausdruck zunehmend verwendet, um den Widerstand gegen islamisierende Extremismus und islamische Sektenkulturen zu mobilisieren. So müsste der Satz eigentlich heissen: «Der freier Mensch zeigt Gesicht gegen Extremismus und Gewalt.»
Das wahre Gesicht zeigen – es geht um den Islam
Rhetorisch ist seit dem frühen 19. Jahrhundert die Rede davon, dass Menschen unter Umständen «ihr wahres Gesicht zeigen» würden. Das zeigt auch die aktuelle Debatte um das Verhüllungsverbot. So hat Walter Wobmann anlässlich einer Medienkonferenz zur Volksinitiative im September 2019 referiert, dass im Gegensatz zur Situation in islamischen Ländern die Gesichtsverhüllung «in abendländisch-rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnungen nichts zu suchen» habe (kath.ch, 29. September 2015). Damit wird klargestellt, dass die Volksinitiative auf eine islamische Praxis zielt. Andere Praxen der Verhüllung, die gegebenenfalls auch unter ein Verbot fielen, werden kaum thematisiert.
Das war früher anders. «Gesichtsverhüllung» und «Vermummungsverbot» waren von 1981 bis 2003/4 fast ausschliesslich auf eine linksradikale Protestkultur ausgerichtet. Ausgelöst durch den französischen Kopftuchstreit, der am 10. Februar 2004 zum Entscheid des Parlaments führte, wonach das öffentliche Tragen «grösserer» religiöser Symbole verboten sei, änderte sich der semantische Bezug der Debatte um die Gesichtsverhüllung fundamental. In den meisten westlichen Ländern wurde sie nun auf die islamische «Vollverschleierung» bezogen. Erstmals sprach man in Deutschland, dann in Österreich und ab 2009 auch in der Schweiz, von einem «Verhüllungsverbot».
Ausgelöst durch die Bilder des Afghanistankriegs und aufgeschreckt von der martialischen Herrschaftspolitik der afghanischen Taliban wurde die islamische Vollverschleierung bald schon mit dem Bild der paschtunischen Burqa gleichgesetzt. Seitdem dominiert diese Bezeichnung über andere Ausdrücke, die auf eine islamische Vollverschleierung bezogen sind. Der soziale Zwang, der Frauen in paschtunischen Umwelten zum Tragen einer Burqa auferlegt wird, wurde schnell auf alle muslimische Traditionen, das Gesicht zu verhüllen, bezogen, das aus Stoff oder Rosshaar vergittert erscheinende Sichtfenster der Burqa wurde bald zum Symbol des Gefängnisses, in dem sich voll verschleierte Frauen befänden.
Doch kann die Burqa tatsächlich als Symbol für die Unterdrückung der Frau verstanden werden, und handelt es sich überhaupt um ein islamisches Symbol? Die Vollverschleierung ist natürlich nicht an sich ein Zeichen der Unterdrückung. Es handelt sich ja zunächst nur um die Praxis von Menschen, die die Verhüllung ihres Körpers auch auf das Gesicht beziehen. Solch eine Praxis hat formal genauso wenig Bedeutung wie die Tatsache, dass man Schuhe an den Füssen oder Handschuhe trägt. Bedeutung erlangt die Praxis erst durch die Art und Weise, wie sie erfolgt, durch den sozialen Ort, an dem sie Gewohnheit erlangt und durch ihre Rechtfertigung.
Die Praxis, das Gesicht zu verhüllen, hat auch in muslimischen Umwelten nicht an sich eine religiöse Bedeutung. Vielmehr wurde dieser Praxis erst im Laufe des 20. Jahrhunderts religiös gedeutet und durch den Rückverweis auf islamischen Normenordnungen rechtfertigt. Es ist richtig, dass auch in der islamischen Tradition von Frauen verlangt wurde, als Zeichen ihrer Tugendhaftigkeit den Körper zu verhüllen. Wie weit diese Verhüllung reichen sollte, war immer umstritten und ist selbst innerhalb islamischer Rechtsschulen nie verbindlich geregelt worden. Im Hochmittelalter galt, dass sich edle Frauen besonders um eine Verhüllung des Körpers zu bemühen hätten. Die Verhüllung des Körpers wurde aber nie als Akt eines religiösen Bekenntnisses verstanden, sondern als tugendhaftes Verhalten, das sich an einer an die Frauen des Propheten Muḥammad gerichteten moralischen Empfehlung im Koran orientierte.
Zudem wurde in der frühislamischen Zeit eher darauf geachtet, dass bestimmte Bekleidungspraxen von Frauen, wie etwa das Tragen von Handschuhen oder auch das Verhüllen des Gesichts, nicht während der Kulthandlungen ausgeübt wurden. Vorislamische Quellen legen nahe zu vermuten, dass in hellenistischen Zeiten im Vorderen Orient die Verschleierung des Gesichts bei Frauen wie Männern vorgekommen war. Erst im Hochmittelalter befassten sich muslimische Juristen und Moralisten mit der Frage, ob das Gesicht einer Frau zu ihrer «Scham» gehöre und daher in der Öffentlichkeit «abzudecken» sei. Nur eine Minderheit von ihnen bejahten dies, und auch sie behandelten diese Frau nicht als religiöses Problem, sondern als rechtliche Sicherstellung des sozialen Status der Frau und ihrer «Sicherheit».
Doch ihre Theorien hatten kaum Auswirkungen auf die gelebte Praxis. Eine Kleiderordnung, die für Frauen auch einen Gesichtsschleier einschloss, wurde erst im 18. und 19. Jahrhundert üblich. Gefördert wurde sie vor allem von puritanischen Hofparteien in Istanbul, Isfahan und Delhi sowie von puritanischen Gemeinschaften selbst. Wie auch in entsprechenden Milieus in Europa definierten die Puritaner eine keusche Mode, die zugleich ihre Normenkontrolle über die Gesellschaft absichern sollte. Im Späten 18. Jahrhundert erfasste die puritanische Tradition auch ländliche Milieus etwa auf der arabischen Halbinsel und in den Herrschaftsgebieten paschtunischer Stämme in Afghanistan und Nordwestindien; selbst in ländlichen Regionen im muslimischen subsaharischen Afrika geriet die Mode zu einem geeigneten Instrument sozialer Disziplinierung und Kontrolle.
Eine religiöse Bedeutung erlangte die Gesichtsverschleierung erst in der Moderne, und zwar genau in der Zeit, als die Oberschicht in vielen islamischen Ländern ihre alte Statusordnung, die sie in Kleidung und Habitus ausgedrückt hatte, an die Moden und Stile der Europäer anpassten. Männer legten den Turban ab und setzten sich einen Hut auf. Frauen der Oberschicht legten den meist weissen, durchsichtigen Gesichtsschleier ab und schmückten sich mit einer Art Turban, der dann auch in den europäischen Metropolen nach dem Ersten Weltkrieg Mode wurde. In der Oberschicht und dann auch im breiteren Bürgertum verschwand der Gesichtsschleier innerhalb weniger Jahre. Bisweilen überlebte er in sozialen Nischen im Kontext der kolonialen Ausgrenzung zum Beispiel in Algerien. Als in den 1920er Jahren der Gesichtsschleier ausser Mode geriet, bildete sich in Metropolen und Provinzstätten der islamischen Welt ein neues islamisches Milieu, das sich an einer neuen islamischen Normenordnung orientierte. In diesem Milieu waren zum Beispiel die ägyptischen Muslimbrüder beheimatet. Für die in diesem Milieu ansässigen Frauen schufen sie eine spezielle rituelle Kleiderordnung, in deren Mittelpunkt ein nun als islamisch interpretiertes Kopftuch (Hidschab) stand. Angeregt durch die Kleiderordnung der wahhabitischen Puritaner auf der arabischen Halbinsel integrierten sie in diese Hidschab-Mode als Option einen Gesichtsschleier (Niqab) und einen mantelartigen Überwurf (Abaya).
Formal hatte diese Kombination eine gewisse Ähnlichkeit mit der paschtunischen Burqa, was dazu führte, dass westliche Beobachter auch die neuislamische Kombination aus Hidschab, Niqab und Abaya als Burqa bezeichneten. Dabei habe beide Kleidungsstile wenig gemein. Die Burqa, im Unterschied zur Niqab-Kombination ein Ganzkörpergewand, ist ein Bekleidungsstil für paschtunische Frauen, der ursprünglich auf städtische Eliten begrenzt war. Im vormodernen Arabisch bezeichnete das Wort Burqa (burquʿ) einen Kapuzenmantel, der unter arabischen Beduinen üblich war. Der Begriff wurde dann für die Tschador-Mode verwendet, die Ende um 1800 herum in Persien aufgekommen war. Der Tschador war ist ein Ganzkörpermantel, der aber das Gesicht unbedeckt lässt. Daher wird die Burqa in Afghanistan oft auch Tschadari genannt. Die Burqa und der von den Taliban dann durch Rechtsvorschriften verallgemeinert wurde. Es handelt sich eindeutig um einen Kleidungsstil, der die Frauen aus dem öffentlichen Raum ausschliessen sollte und andere Massnahmen wie das Verbot, die Schule zu besuchen oder arbeiten zu gehen, ergänzte. Mit diesem Gesamtpaket rächten sich die Taliban zugleich an jenen Emanzipationsprozessen, die zwischen 1930 und 1980 die Modernisierung der afghanischen Gesellschaft geprägt hatten.
Die arabische Vollverschleierung aus Hidschab, Niqab und Abaya hat inhaltlich mit der Burqa wenig zu tun. Die bisweilen in Ländern am arabisch-persischen Golf anzutreffende Mode, eine Buschiya (oder Ghatwa, eine schwarze Pelerine, die oft über die Abaya gelegt wird) zu tragen, wird selbst von den betroffenen Frauen nicht mit dem Islam in Verbindung gebracht. Natürlich zwingen auch auf der arabischen Halbinsel manche Familienväter und Verwandte Frauen, diese Kombination zu tragen; bis vor kurzem hatten zudem wahhabitische Sittenwächter diesen Zwang ausüben dürfen. Doch ausserhalb der Milieus arabischer Puritaner ist die Vollverschleierung nicht mehr Teil einer Sozialisierungs- oder Disziplinierungsordnung. Bisweilen bekommen wir diese noch mit, wenn Touristen von der arabischen Halbinsel bei uns absteigen oder einkaufen. Doch im Allgemeinen ist die Vollverschleierung heute das Ergebnis einer individuellen Entscheidung geworden.
Selbst hartgesottene muslimische Puritaner und Fundamentalisten erachten das Tragen eines Gesichtsschleiers heute nicht mehr als Teil der islamischen Pflichtenlehre. Dies verwundert nicht, da sich weder im Kanon frühislamischer Texte, auf den sie sich für gewöhnlich beziehen, noch im Koran und in der Prophetentradition normative Aussagen zur Gesichtsverschleierung finden. Frauen, die sich heute das Gesicht in der Öffentlichkeit verhüllen, verstehen ihre Praxis als Frömmigkeit, als Keuschheit, als Ablehnung westlicher Vorstellungen von Sexualität, als Wunsch nach mehr Mobilität, Privatsphäre oder Schutz in einem von Männern dominierten sozialen Umfeld oder als Symbol der Mitgliedschaft in einer speziellen islamischen Gemeinschaft. Zwänge, sich das Gesicht zu verschleiern, gibt es natürlich auch, oft ausgeübt durch Gruppen oder Familienangehörige. Bisweilen sind die Grenzen fliessend. Aber immer handelt es sich um Einzelfälle, die auch als solche beurteilt werden müssen.
Wenn also gefragt wird, ob die Burqa Symbol der Unterdrückung der Frau ist, dann lautet die Antwort: Die Burqa kann im Kontext der paschtunischen Gesellschaftsordnung in Afghanistan und Pakistan durchaus als Symbol der Unterdrückung verstanden werden. Dies gilt aber nicht für die moderne Vollverschleierung an sich.
Kooperation statt Verbot
Darf der Staat unter solchen Voraussetzungen Kleidervorschriften machen? Eine Vorschrift, bestimmte Kleider zu tragen beziehungsweise nicht zu tragen kann nur dann erfolgen, wenn sie der öffentlichen Ordnung dient. Im deutschen Versammlungsgesetz gibt es zum Beispiel ein Uniformierungsverbot. Dort heisst es: «Es ist verboten, öffentlich oder in einer Versammlung Uniformen, Uniformteile oder gleichartige Kleidungsstücke als Ausdruck einer gemeinsamen politischen Gesinnung zu tragen.» Auch in der Schweiz gab es einmal (1935) ein bundesrätliches Uniformierungsverbot. In den Kantonen Basel-Stadt, Zürich, Bern, Luzern, Thurgau, Solothurn und St. Gallen wurde zwischen 1990 und 2009 ein Vermummungsverbot erlassen. In all diesen Fällen geht es formal darum, ein bestimmtes Kleidungsstück nicht zu tragen, weil andernfalls die öffentliche Sicherheit gefährdet ist. Wenn der Staat also mit einer Bekleidungsvorschrift interveniert, dann muss dies aufgrund einer Gefährdung des ordre publique erfolgen. Doch bislang fehlt jeder stichhaltige Beleg dafür, dass diese Ordnung durch das Tragen eines Gesichtsschleiers gefährdet ist. Eher müsste man da an den Ganzkörpermantel denken. So hatte der osmanische Sultan Abdülhamid II in den 1880er Jahren das Tragen eines Ganzkörpermantels verboten, da er vermutete, dass sich anarchistische Attentäter hinter dem Körperschleier verbergen könnten. Wenn ein solcher Sicherheitsaspekt in Betracht käme, müsste nicht der Gesichtsschleier verboten werden, sondern weite Mäntel und Jacken, unter denen sich Sprengwesten verbergen liessen. Wenn das Verhüllungsverbot dazu dienen soll, muslimischen Frauen in prekären Lebenssituationen, in denen sie zum Tragen eines Schleiers durch wen auch immer gezwungen würden, beizustehen, dann gilt die Beistandspflicht auch ohne ein solches Verbot. Zudem dürften gewalttätige Ehemänner oder Familienväter kaum von ihrem Tun Abstand nehmen, wenn die Frauen auf ein Verhüllungsverbot verweisen oder wenn sie sich in der Öffentlichkeit nicht das Gesicht verhüllen.
Angesichts dieser Umstände besteht natürlich der Verdacht, dass ein Ja zum Verhüllungsverbot einen weiteren Schritt hin zur Verdrängung des Islam aus dem öffentlichen Raum darstellt. Ansonsten wäre die gesamte Aktion vollkommen unverhältnismässig. Denn in die Verfassung ein Verbot einzutragen, das mangels Tatbestände nur eine minimale Wirkung haben kann, kann nur dadurch rechtfertigt werden, wenn vermutet wird, dass hinter der Burqa ein viel grösserer Gegner lauert. Auch wenn der Effekt eines Verbots gleich Null sein dürfte, so wird es eine Wirkung auf die Islampolitik der Gesellschaft haben. Nach dem Verbot des Baus von Minaretten würde Musliminnen nun das Tragen eines Gesichtsschleiers verboten, und da beide Verbote Verfassungsrang hätten, würde das Verbot die muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz mit dem Stigma auszeichnen, dass sie nur im Rahmen einer Verbotsordnung öffentlich agieren könnten. Das aber widerspricht der Ordnung einer Gesellschaft als Gemeinschaft Freier Menschen.
Anstelle einer erneuten verfassungsrechtlichen Regelung des Zusammenlebens mit muslimischen Gemeinschaften das Wort zu reden, sollten diese vielmehr eingeladen werden mitzuwirken, das vermeintliche Anliegen der Initiative aufzugreifen: nämlich mitzuarbeiten, einer islamischen Rechtfertigung der Unterdrückung der Frauen das Wasser abzugraben, mitzuhelfen, die Idee der freien, offenen Gesellschaft auch in muslimischen Gemeinden nachhaltig zu verankern, und mitzugestalten, wie die Freiheitsrechte auch im islamischen Kontext begründet und durchgesetzt werden können.
Völlig ausser Acht lässt die Initiative die Tatsache, dass der Wandel, mit dem die Länder in der islamischen Welt konfrontiert sind, zu einer drastischen Veränderung der sozialen und religiösen Verhältnisse führen wird. Der Gesichtsschleier, der seit knapp 100 Jahren eine religiöse, islamische Bedeutung erlangt hat, wird diesem Wandel irgendwann zum Opfer fallen. Und doch: Alle Religionen bestehen aus Traditionen, die im Laufe der Jahrhunderte angesammelt, verändert oder verworfen wurden. Manches, was uns heute als Grundbestand einer Religion erscheint, hat nur eine sehr kurze Geschichte. Man denke nur an die katholische Festsetzung der Unfehlbarkeit des Papsts, die protestantische Kirchenmusik oder die Orgel in jüdischen reformierten Synagogen. Die religiöse Symbolik der Kleidung ist im islamischen Kontext auch nur wenige Jahrzehnte alt. Und doch gehört sie für viele Muslime heute zum Islam. Zu behaupten, dass etwas deshalb keine Berechtigung habe, weil es in der Urfassung einer Religion nicht vorhanden sei, hätte zur Folge, dass kaum etwas, was heute unsere Religionen bestimmt, noch Bestand hätte. Weder Beichte, noch Zölibat, noch Bibelübersetzungen, noch Kirchtürme, noch Glocken, noch kanonische Rechtsordnungen hätten heute eine Daseinsberechtigung. Insofern ist die Frage sinnlos, ob die Burqa zum Islam gehört. Die Burqa gehört zu den Frauen, die sie tragen wollen oder müssen, und es ist an ihnen zu sagen, ob sie die Burqa als dem Islam zugehörig erachten. Dies ist Teil unserer Freiheitsordnung. Alles andere ist historischer Fundamentalismus.
Ein Nachtrag
Der Ausdruck «mit Kanonen auf Spatzen schiessen» wurde 1872 von einem ungarischen Politiker geprägt, um das deutsche Verbot von Niederlassungen der Jesuiten als übertriebene Massnahme zu brandmarken.
Abschied von der Lady
Die Fakten sind klar. Im Oktober 2016 und im August 2017 greifen Kämpfer der Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) Polizeistationen im südwestlichen an Bangladesh grenzenden Bundesstaat Rakhine an. Polizisten aber auch Zivilisten sterben. Das Militär – als Tatmadaw bekannt – greift ein. Und zwar so, wie es das seit Machtantritt 1962 – besonders gegen aufmüpfige nationale Minderheiten – immer macht: mit äusserster Brutalität.
Cox’s Bazaar
Nach UNO-Ermittlern kommt es zur Zerstörung ganzer Dörfer. Frauen werden systematisch vergewaltigt, Mord in grossem Stil an Männern, Frauen und Kindern. Zehntausend Menschen sollen nach dem Uno-Bericht ums Leben gekommen sein. Nach jenem August 2017 fliehen über 700`000 Rohingyas über die Grenze nach Bangladesh. Dort werden sie im Cox`s Bazaar in einem Lager untergebracht, wo bereits weit über 200`000 Rohingyas aus früheren Vertreibungen unter prekären Umständen leben. Nach Einschätzung der Vereinten Nationen sind die Rohingyas die «am stärksten verfolgte Minderheit der Welt» ist.
Apartheid
Noch immer leben über 500'000 muslimische Rohingyas in Myanmar. Vor allem in Lagern und nach aussen abgeschotteten Dörfern. Es sind Apartheid-ähnliche Zustände. Im buddhistischen Myanmar haben Muslime im allgemeinen und Rohingyas im speziellen einen schweren Stand, obwohl die grosse Mehrheit in Burma Buddhisten sind. Muslime in Myanmar machen je nach Schätzung gerade einmal zwei bis vier Prozent der Bevölkerung von 55 Millionen aus.
Üble Hetze von Mönchen
Extreme buddhistische Mönche hetzen in übelster Weise auf Flugblättern und in den sozialen Medien – allen voran natürlich Facebook – gegen die muslimische Minderheit. Die Behörden, an deren Spitze als Staatsrätin die Friedens-Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi steht, unternehmen nichts. Soviel zur «friedlichsten Religion» Buddhismus und zu der von Facebook hochgelobten Meinungsfreiheit…..
«Bengali»
Die Rohingyas sind nicht erst seit neuestem eine verfolgte Minderheit. Obwohl die meisten seit Generationen, zum Teil seit über dreihundert Jahren, auf dem Gebiet des heutigen Myanmar leben, gelten sie bis auf den heutigen Tag als illegale Einwanderer. Offiziell werden sie als «Bengali» bezeichnet, aus Bengalen, also Bangladesh stammend. Das Wort Rohingya ist tabu.
Die Rohingyas haben und hatten in Burma keinerlei Rechte. Im Staatsbürgergesetz von 1982 werden 135 ethnische Bevölkerungsgruppen offiziell anerkannt, nicht aber die Rohingyas. Damit haben sie auch keinen Anspruch auf Staatsbürgerschaft. Sie können sich nicht frei bewegen, haben zu vielen sozialen Diensten – unter anderem Bildung – keinen oder extrem limitierten Zugang. Heute leben 1,5 Millionen Rohingyas als Staatenlose im Exil. Bereits 1978 sind 200'000 und 1991 über 250'000 Rohingyas nach einem militärischen Pogrom nach Bangladesh geflüchtet.
Uno-Gerichtshof
Obwohl unterdessen Myanmar und Bangladesh ein Rückführungsabkommen unterzeichnet haben, ist nichts geschehen. Rohingyas im Flüchtlingslager Cox’s Bazaar in Bangladesh nämlich wollen nicht ohne umfassende Sicherheits- und Rechtszusagen zurückkehren. Gambia hat nun vor dem Internationalen Uno-Gerichtshof in Den Haag ein Verfahren gegen die systematische Verfolgung der muslimische Rohingya-Minderheit angestrengt. Gambia handelt im Namen von 57 Staaten der Organisation für Islamische Zusammenarbeit. Anklagepunkte sind ethnische Säuberung oder gar Völkermord. Zur Verteidigung der Militärs ist vor den internationalen UNO-Richtern niemand geringerer als Aung San Suu Kyi erschienen.
8.8.88
Aung San Suu Kyi, die Tochter des kurz vor der Unabhängigkeit Myanmars 1947 ermordeten Nationalhelden General Aung San, ist in den letzten paar Jahren zur Realpolitikerin mutiert. Die 1991 mit dem Friedens-Nobelpreis und dem Sacharow-Preis Ausgezeichnete bot über zwei Jahrzehnte lang den Militärs die Stirn. Nach langen Jahren im Ausland ist Suu Kyi 1988 nach Burma zurückgekehrt, um ihre todkranke Mutter zu pflegen. Im August 1988 – am bedeutungsschwangeren 8.8.88 – kam es zu breiten Studentenprotesten. Am 26. August hielt sie vor der Shwegadon-Pagode in Yangon ihre berühmte Rede zur Demokratie.
Gewaltlosigkeit
Gewaltlosigkeit werde den Sieg bringen. In den nächsten zwei Jahrzehnten hielten die Militärs Suu Kyi fünfzehn Jahre lang unter Hausarrest, verschiedentlich wurde sie ins Gefängnis geworfen, unter anderem auch in das berüchtigte Insein-Gefängnis in Yangon. Bei den Wahlen 1990 erzielte die von ihr mitbegründete Nationale Liga für Demokratie (NLD) einen überwältigenden Sieg. Die Militärs annullierten die Wahl.
Langsame Öffnung
Nach dem Rücktritt von General Than Shwe 2010 begann sich Myanmar langsam zu öffnen. General Thein Sein wechselte als Präsident von der Uniform in den massgeschneiderte Zivilanzug. Aung San Su Kys NLD boykottierte zwar die allgemeinen Wahlen 2010, erzielte dann aber 2012 in Nachwahlen für 45 Sitze mit 43 gewonnen Sitzen einen Überraschungserfolg. Bei den allgemeinen Wahlen 2015 errang die NLD 86 Prozent aller wählbaren Sitze. Die Militärs nämlich reservierten für sich ein Viertel aller Parlamentssitze, um eine Zweidrittelsmehrheit für Verfassungsäderungen zu verhindern. Zudem blieb das Innen-, Sicherheits- und Verteidigungsministerium in der Hand der Militärs. Die Uniformierten können überdies bis auf den heutigen Tag mit einem Federstrich die Verfassung ausser Kraft setzen und die Macht wieder total übernehmen.
Demokratie-Ikone
Seit April ist Aung San Suu Kys de-facto-Regierungschefin mit dem Titel eines Staatsrates sowie Aussenministerin. Präsidentin kann sie nach der geltenden Verfassung nicht werden, weil sie mit einem Ausländer verheiratet war und zwei Söhne mit ausländischem Pass hat. Die lange im Westen als Demokratie-Ikone Verehrte ist mit anderen Worten in der Realpolitik ganz von den Militärs abhängig. Deshalb wohl hat sie auch in Den Haag vor dem Internationalen Uno-Gerichtshof die Militärs verteidigt. «Die Beschuldigungen», so Suu Kyi, «sind irreführend und unvollständig». Die Armee habe nur das Land gegen bewaffnete Rebellen verteidigt. «Wir haben es hier mit einem internen bewaffneten Konflikt zu tun, ausgelöst durch koordinierte und umfassende Attacken der ARSA. Darauf haben Myanmars Verteidigungskräfte geantwortet».
«Ueberproportionale Gewalt»
Möglicherweise habe es auch Übergriffe der Armee gegeben, doch die Justiz in Myanmar sei fähig und willens, die Schuldigen strafrechtlich zu verfolgen: «Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass überproportional Gewalt angewendet worden ist, in einigen Fällen von den Verteidigungskräften unter Missachtung des internationalen humanitären Rechts oder dass die Verteidigungskräfte nicht klar genug zwischen Arsa-Kämpfern und Zivilisten unterschieden haben».
«Tragischerweise»
«Tragischerweise», soviel konzediert immerhin Suu Kyi, «führte der bewaffnete Konflikt zum Exodus von mehreren Hunderttausend Muslims». Ähnliches, so die burmesische Staatsrätin, sei ja auch in Kroatien während des Jugoslawienkrieges – mit dem sich der Internationale Gerichtshof auch befasst habe – geschehen. «Es wird», so Suu Kyi ganz Friedens-Nobelpreisträgerin, «keine Toleranz zu Menschenrechtsverletzungen in Rakhine oder anderswo in Myanmar geben».
Innenpolitik
Warum hat sich Aung San Suu Kyi diesen Auftritt in Den Haag angetan? Der Grund ist einfach: Innenpolitik. 2020 finden in Myanmar die nächsten allgemeinen Wahlen statt. Die Buddhistin Suu Kyi, liebevoll auch The Lady genannt, hätte keine Chance, wenn sie sich offen für Muslime und erst recht für die Rohingyas einsetzen würde. Während ihres Auftretens in Den Haag vor dem Internationalen Uno-Gerichtshof haben in Myanmar Tausende für sie auf der Strasse demonstriert. Das internationale Image als Friedens-Nobelpreisträgerin bringt im buddhistischen Burma keine Stimmen.
Machtpolitikerin
Die moralische Autorität von einst als Demokratie-Ikone ist Aung San Suu Kyi international in der real existierenden Halbdemokratie Myanamars abhanden gekommen. The Lady ist nun durchwegs zur Realpolitikerin, ja zu einer Machtpolitikerin geworden. Wenn sie die Karten richtig spielt, werden die Militärs sie vielleicht gar als Präsidentin akzeptieren. Moral und Politik – ein trauriger Abschied von der Lady.
Was wird verschleiert?
Richtig ist die Feststellung, dass man es beim Problemfeld unkontrollierte Migration mit einem überaus schwierigen, komplizierten und verstörenden Thema zu tun hat, für dessen Lösung bisher trotz uferlosen Debatten kein Politiker (und auch kein Journalist, Soziologe oder sonstiger Experte) allgemein überzeugende Lösungen anzubieten hatte. Soweit ist dem Schriftsteller Charles Lewinsky zuzustimmen, der unlängst zur begrifflichen Auseinandersetzung mit dem aktuellen Migrationsthema einen langen Beitrag in der NZZ beigesteuert hat.
Lewinsky argumentiert, die Ausdrücke Migrant und Migranten seien zwar durchaus neutrale Begriffe, die allerdings verschiedene Arten von Wanderbewegungen betreffen könnten. Dazu zählt auch die legal mit Pass- und Arbeitserlaubnis stattfindende Migration von Fach- oder Hilfskräften, die man im deutschen Sprachgebrauch korrekt als Zuwanderung oder Immigration beschreibt.
Der Autor setzt sich aber hauptsächlich und mit guten Gründen mit der Migration aus Afrika auseinander, wo doppelt so viele Menschen leben wie in Europa und die Arbeitslosigkeit vor allem unter jungen Leuten 75 Prozent, in Deutschland aber nur gerade 5 Prozent ausmache. Wenn man all diese gewaltigen Ungleichheiten in Rechnung ziehe, komme man schnell zu der Erkenntnis, dass da eine Völkerwanderung im Gang sei.
Dieser zutreffende Begriff, meint Lewinski, werde hierzulande aber tunlichst verschwiegen. Man spreche – je nach politischem Standpunkt – lieber von einer «kriminellen Invasion» oder von einer «Verjüngung des alternden Kontinents» Europa.
Mit Verlaub, da scheint begrifflich einiges durcheinander zu geraten. Laut Wikipedia und dem Historischen Lexikon der Schweiz sind mit dem Ausdruck Völkerwanderung gemeinhin «die Wanderbewegungen germanischer und anderer Völker» gemeint, die «zwischen dem Ende des 2. und 7. Jahrhunderts Zivilisationen und Machtzentren erschütterten». Und selbst wenn man diesen Bezug ignoriert, bleibt das Wort Völkerwanderung kaum tauglich für die Beschreibung von Bootsflüchtlingen auf dem Mittelmeer.
A propos Flüchtlinge. Laut Lewinsky wird dieses Wort in manchen politisch korrekten Milieus eher gemieden, weil es gleichzeitig «die Aufforderung zu Hilfs- und Aufnahmebereitschaft konnotiere». Ein kurzer Test bei Google lässt indessen an dieser Behauptung starke Zweifel aufkommen.
In den wichtigen Schweizer Medien kann von einer Tabuisierung des Begriffs «Flüchtling» keine Rede sein. Man stösst in den verschiedensten und meist höchst aktuellen Zusammenhängen auf dieses Wort etwa bei der deutschen «Flüchtlingskrise» 2015, bei den Berichten über die häufigen «Flüchtlingstragödien» im Mittelmeer oder dem «Flüchtlingsdrama» vom vergangenen Oktober in England, bei dem 39 Menschen aus Vietnam erstickt oder erfroren sind.
Wo bei diesen konkreten Fällen «Tarn- oder Deckworte» verwendet werden, wie der Autor Lewinsky behauptet, um die Realitäten beim schwierigen Migrationsthema zu camouflieren, bleibt bei näherer Prüfung ziemlich schleierhaft.
Gewiss sind bei dem weitläufigen und dornenvollen Thema Migration auch Verdrängungen und Halbwahrheiten im Schwange. Solche Defizite haben aber weniger mit der Vermeidung oder Manipulation bestimmter Wörter zu tun, als vielmehr mit der Tendenz, sich mit den Wurzeln und den Dimensionen des Problems gründlicher auseinanderzusetzen.
Vergiftetes Trinkwasser
Dieser Beitrag wurde am 10. Dezember 2019 geschrieben. Am 13.12. meldete das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), dass dem Produkt Chlorothalonil die Zulassung per sofort entzogen werde und ab 1.1.2020 es verboten sei, das Produkt zu verwenden. Manchmal bewegen sich die Behötrden auch hierzulande schneller, als man denkt.
Während Generationen lehrte man uns: Trink Wasser aus dem Wasserhahn. In der Schweiz ist es frisch und sauber, unbedenklich und zudem günstiger als Mineralwasser!
Pflanzengift im Trinkwasser
Im Juli 2019 informierten Radio und TV SRF über Trinkwasserproben, die alarmierende Messwerte ergaben: Die zugelassenen Höchstwerte an Chlorothalonil-Rückständen würden mehrfach überschritten. Kantone haben erste Massnahmen verfügt: Die betroffenen Gemeinden müssen jetzt ihr Trinkwasser „überwachen“. War’s das jetzt?
Auch andere Gemeinden, z. B. im Kanton Zürich sind betroffen. In Trüllikon erhielt der Werkvorsteher der Gemeinde im Sommer 2019 die lapidare Mitteilung des kantonalen Amts für Abfall, Wasser, Energie, „dass in einer ihrer Grundwasserfassungen die Grenzwerte bei den Rückständen des Pflanzenschutzmittels Chlorothalonil deutlich überschritten wurden.“ (TA) Was jetzt? Stilllegung – und was ist dann mit der Versorgungssicherheit der Gemeinde? In Andelfingen hat man vorsorglicherweise schon mal mehrere Dorfbrunnen abgestellt.
Hier wird ein Thema bagatellisiert. Da überlässt der Bund elegant den betroffenen Gemeinden den Handlungsbedarf bei einem nationalen Problem, dessen Herkunft bekannt ist, aber lieber hinter vorgehaltener Hand kommuniziert wird. Betroffen sind in den oben genannten Fällen Gemeinden des Kantons Solothurn und Zürich. Intensiv betriebene Landwirtschaft hat zur Folge, dass gleich an mehreren Standorten die zulässigen Grenzwerte von 0,1 Mikrogramm/Liter überschritten wurden.
Da stellen sich verschiedene Fragen. Wie wurde seinerzeit überhaupt der Grenzwert festgelegt? Wie sähen die Messresultate andernorts aus, würden auch dort Messungen überhaupt vorgenommen? Wie gefährlich sind diese Befunde für Konsumentinnen und Konsumenten?
Die Vorgeschichte
Chlorothalonil ist seit gut 40 Jahren im Trinkwasser, sagen Experten. Es wird vor allem gegen Pilzbefall in Acker-, Obst- und Rebbau eingesetzt. Doch anfangs 2019 hat die EU das Pestizid per 1.1.2020 verboten. Gemäss SRF wird das Bundesamt für Landwirtschaft die Bewilligung für Chlorothalonil widerrufen. Vielleicht per Herbst 2020, bis dann darf das Fungizid weiter gebraucht werden. Denn auch bei uns tönt es jetzt anders als auch schon. Chlorothalonil wird neu als „relevant“ eingestuft – „eine Gesundheitsgefährdung kann nicht ausgeschlossen werden; der Stoff könnte Krebs oder Genveränderungen auslösen“. Deshalb behalten die Behörden die Konzentration besser im Auge …
Ein anderes Bundesamt, jenes für Umwelt (Bafu) berichtet derweil, dass das Grundwasser in der Schweiz durch Pestizide und Nitrat verunreinigt, mancherorts sogar gefährdet sei. An mehr als der Hälfte der 600 Messstellen würden Rückstände im Trinkwasser gefunden. Verantwortlich für die Verunreinigungen sei mehrheitlich die Landwirtschaft.
Hersteller gegen Behörden
Warum tun sich die Behörden in der Schweiz so schwer mit einem generellen Verbot von Chlorothalonil? Wo doch die Kantonschemiker in einer Stichprobe längst nachgewiesen haben, dass „ annähernd 170’000 Schweizerinnen und Schweizer im Frühling 2019 kontaminiertes Wasser getrunken haben“ (Sonntagszeitung)? Obwohl also die EU zum Schluss kam, dieses Mittel wäre krebserregend, „bearbeitet“ dessen Hersteller, der Agrochemie-Riese Syngenta, unsere Behörden mit neuen Daten, die beweisen sollen, dass dieses Fungizid und seine Abbaustoffe unbedenklich seien.
Dies verweist auf ein anderes Problem. Da der Bund verpflichtet ist, alle Befunde sorgfältig zu prüfen, braucht er viel Zeit dafür. Würde der Hersteller gegen ein Verbot Rekurs einlegen, könnten wir noch länger darauf warten. Gemäss BLW (Bundesamt für Landwirtschaft) sind tatsächlich 14 Produkte zu finden, die seit mehr als vier Jahren geprüft werden (!). Nichtsdestotrotz, auch wenn organisatorische Probleme mitwirken – Personalprobleme offensichtlich – lässt es sich verantworten, dass die Bevölkerung die Suppe auszulöffeln hat?
Bundesamt gegen Bundesamt?
Dass die Landwirtschaft hauptschuldig an der Misere ist, darüber ist man sich einig. Bevor man jetzt dem einzelnen Bauernbetrieb etwas vorwirft, (diese wehren sich gegen Anwürfe, sie vergifteten unsere Natur. Sie hätten sich an die zugelassenen Produkte zu halten), sollte man die dubiose Rolle des BLW näher beleuchten. Denn das Bafu fordert seit Jahren mehr Transparenz in dieser Giftwelt. Die Pestizidgegner werfen denn auch dem BLW „seit Jahren vor, die Interessen der Agrochemie und der Bauern über alles zu stellen“. (TA)
Der Vorsteher des Gewässerschutzamtes des Kantons Bern fordert jetzt gar ein Verbot gefährlicher Pestizide. Er ist der Meinung, dass die besonders toxischen Spritzmittel gleich ganz aus den Giftschränken der Landwirte zu verschwinden hätten (sonntagszeitung). Er wird unterstützt durch Kantonschemiker aus anderen Kantonen, die nachdoppeln, dass ihre neuesten Messungen an kleinen Fliessgewässern zeigten, dass bei diesen Substanzen grosser Handlungsbedarf bestünde.
Taktieren statt verbieten?
Angesichts der Tatsache, dass gleich zwei Volksinitiativen Licht ins Dunkel der Pestizide-Welt bringen wollen (Trinkwasserinitiative und Verbot von Pestiziden), kann man feststellen, dass an verschiedenen Orten die Geduld ausgeht. Müssen wir uns eigentlich bieten lassen, dass wir kontaminiertes Trinkwasser aus dem Wasserhahn lassen, wissentlich, und dass „im Moment“ kein Kraut dagegen gewachsen ist? Bekanntlich haben Nationalrat und Bundesrat diese beiden Initiativen ohne Gegenvorschlag abgelehnt. Ob das der Weisheit letzter Schluss sein kann, daran zweifeln aber jetzt die Wirtschaftskommissionen von National- und Ständerat. Gefordert wird endlich eine „gesetzliche Verankerung eines Absenkungspfades mit verbindlichen Zielwerten für das Risiko beim Einsatz von Pestiziden“.
Was immer im nächsten Jahr die Wirtschaftskommissionen und die beiden Räte beschliessen werden – vielleicht wären sie gut beraten, für einmal Nägel mit Köpfen einzuschlagen? Verbindliche Beschlüsse zur Pestizid-Bekämpfung sind überfällig. Dass sogar der umtriebige Bauernpräsident Markus Ritter diese Idee unterstützt, lässt natürlich den Verdacht aufkommen, dass er befürchtet, andernfalls würden die angedrohten beiden Volksinitiativen an der Urne angenommen. Tatsächlich zeigen erste Umfragen eine hohe Zustimmung im Volk für beide Anliegen.
Was dann für die Bauern ein echtes Problem wäre. Der Taktiker Ritter gibt schon prophylaktisch seine Meinung bekannt: „Die Initiativen sind viel zu radikal. Es wird 30 bis 40 Prozent Ja-Stimmen geben.“ (DIE ZEIT) Ritter, bekannt für seine geschmeidigen, bauernschlauen Ratschläge begibt sich da für einmal aufs Glatteis, denn üblicherweise meidet er unliebsame Themen – er schweigt sie lieber tot.
Konsumentinnen und Konsumenten unseres Hahnenwassers sollten nicht für dumm verkauft werden. Volksabstimmungen haben schon früher für Korrekturen und Überraschungen gesorgt.
Jean Paul Getty
Sparmassnahmen muss man dann ergreifen, wenn man viel Geld verdient. Sobald man in den roten Zahlen ist, ist es zu spät.
Das Jahr in Bildern
- JANUAR
1. Januar: Der erste Sonnenaufgang des Jahres

1. Januar: Stürmische Kampfansage

1. Januar: Amtsantritt eines Ultrarechten

14. Januar: Doppelt so viel Schnee wie üblich

19: Januar: Hexen im Schuss

21. Januar: Kurze Annäherung

21. Januar: „Super-Blutmond“

24. Januar: Umsturz-Versuch in Venezuela

31. Januar: Eiszeit


- FEBRUAR
2. Februar: Aufstand gegen Maduro

2. Februar: Versicherungssumme: 4 Milliarden


The Cleveland Museum of Art, Schenkung Hanna Fund
© Succession Picasso / 2018, ProLitteris, Zürich
Foto: © The Cleveland Museum of Art
4. Februar: Vier Millionen leidende Kinder

6. Februar: „State of the Union Show“

8. Februar: Georg Gerster †


9. Februar: Prix de Lausanne: „Jeune espoir“

17. Februar: Aufstände gegen den serbischen Präsidenten

16. Februar: Bruno Ganz †

18. Februar: „Ach dieses Schlamassel!“

19. Februar: Karl Lagerfeld †


27. Februar: Abruptes Ende

- MÄRZ
6. März: Ladies in blu

8. März: Kein Kunstwerk

9. März: „La primera dama más linda“

10. März: Zweiter Absturz einer 737 Max 8

12. März: „Übermenschlich“

17. März: Entfesselte Gelbwesten

15. März: Terroranschläge in Christchurch

16. März: Petarden statt Fussball

23. März: „Remain!“

- APRIL
1. April: Überraschung in der Slowakei

4. April: Franz Weber †


6. April: „Es gibt keinen Planeten B“



12. April: „Foto des Jahres“

11. April: Assange festgenommen

15. April: Notre-Dame brennt




21. April: Machtwechsel in der Ukraine

21. April: Terror in Sri Lanka am Ostersonntag

28. April: Ein Sieg für nichts

30. April: Gescheiterter Putsch in Venezuela

- MAI
1. Mai: Seltsame königliche Sitten

4. Mai: Maduro hält sich

5. Mai: Rache für Rache

5. Mai: Bruchlandung in Moskau

9. Mai: Archie

11. Mai: Konfetti für einen Hoffnungsträger

16. Mai: Ueli Maurer im Oval Office

17. Mai: Ibiza-Gate

21. Mai: Arnold Hottinger †



27. Mai: Jubelnde Grüne

Annalena Baerbock (links), Grünen-Vorsitzende, und Katrin Göring-Eckard, Grünen-Fraktionschefin, nach Bekanntgabe der Ergebnisse in Berlin. Die Grünen sind jetzt zweitstärkste deutsche Partei. CDU und SPD erleiden herbe Verluste. Die AfD wird gebremst. In Frankreich schwingt Marine Le Pen obenauf. In Italien wird die Lega erwartungsgemnäss stärkste Partei. Die Christ- und Sozialdemokraten gehören zu den grossen Verlierern. Zum ersten Mal haben sie zusammen die absolute Mehrheit verloren. Drittstärkste Kraft nach den Christdemokraten und den Sozialdemokraten werden die Liberalen, denen auch Präsident Macrons Bewegung „En Marche“ angehört.(Foto: Keystone/DPA/Kay Nietfeld)
- JUNI
2. Juni: Nahles geht

3. Juni: Gut sieht er aus

9. Juni: Eine Million auf der Strasse

13. Juni: Eskalation im Golf von Oman

14. Juni: Stark befolgter Frauenstreik



16. Juni: Franco Zeffirelli †

18. Juni: Andrea Camilleri †

23. Juni: Schlag für Erdoğan


28. Juni: 4000 Tonnen gesprengt



- JULI
3. Juli: Die Unbeugsame

7. Juli: João Gilberto †

8. Juli: Sudanesischer Frühling?


15. Juli: Drei Jahre nach dem Putsch

16. Juli: Frau Kommissionspräsidentin

19. Juli: Eine Hymne an den Wein


21. Juli: Bahn frei für Selenski

21. Juli: Sommerwind

23. Juli: Prime Minister Boris

24. Juli: „Die Unwahrheit“

28. Juli: Ein Elefant blickt ins Tal

28. Juli: „Schämt euch!“



- AUGUST
8. August: Ziemlich selbstsicher

11. August: Oh, du schöne Ferienzeit

11. August: Sitzen verboten

16. August: Nicht zu verkaufen

16. August: Peter Fonda †


17. August: Gut sieht er aus, mit einen 79 Jahren

20. August: „Die Regierung endet hier“

21. August: Ines Torelli †

23. August: Ferner liefen

23. August: Relaxed

24. August: G7-Gipfel - wozu?


29. August: Conte bis

31. August: „Revolte“ in Moutier

- SEPTEMBER
1. September: Gewinne für die AfD

4. September: Take a break

5. September: Neues Team, neue Hoffnung


7. September: Russisch-ukrainischer Gefangenenaustausch

9. September: Robert Frank †

14. September: Trauernde Witwe

15. September: Scharzer Rauch über der saudischen Wüste

17. September: Patt

23. September: Das Jahr der Greta Thunberg

24. September: Schwerer Schlag für Boris

26. September: Jacques Chirac †

28. September: „Greta in den Nationalrat“


29. September: Sebastian Kurz triumphiert



- OKTOBER
5. Oktober: Schottland begehrt auf

5. Oktober: Kunst im Bahnhof

6. Oktober: Wo Sozialisten noch Wahlen gewinnen

8. Oktober: Physiknobelpreis an zwei Schweizer

9. Oktober: Rechtsextremer Terror



10. Oktober: Tokarczuk, Handke

11. Oktober: Ehre für Abiy Ahmed

14. Oktober: Ohrfeige für Orbán

20. Oktober: Grüne Flut

20. Oktober: Immer brutaler



23. Oktober: „Ich habe keine Luft mehr, ich sterbe“

23. Oktober: Hoffnungsträger in Tunesien

25. Oktober: Massenproteste in Libanon

27. Oktober: Das Ende des Kalifen

September/Oktober/November/Dezember: Troubles

27. Oktober: Rückkehr der Peronisten

- NOVEMBER
3. November: „Schamlose Gier“ der Machthaber

9. November: Lula ist frei


10. November: Abrupter Abgang

9. November: Aufgeheiztes Katalonien

10. November: Wieder Sánchez, wieder keine Mehrheit

10. November: Eine von zwölf

17. November: Erste Tessiner Ständerätin

November. Acqua Alta

24. November: Wieder stürzt eine Brücke ein

25. November: Bloomberg legt los

26. November: Köbi Kuhn †

November: Aufstände in Santiago

28. November: Trump als Rocky Balboa

30. November: Die SPD rückt nach links

- DEZEMBER
4. Dezember: „Der Vergewaltiger bist Du!“

10. Dezember: Die Jüngste

10. Dezember: Die Sardinen sind los

11. Dezember: Status quo



12. Dezember: „Let's get Brexit done, but first let's get breakfast done“

Zum Schluss noch dies

©journal21.ch/zusammengestellt von hh)
Jahresrückblick 2018
Jahresrückblick 2017
Jahresrückblick 2016

Paris – Rue de Tournon
Die No. 4, Rue de Tournon im 6. Pariser Arrondissement ist das 2. Haus auf der rechten Seite, einst das Stadtpalais der Fürsten von Montmorency, erbaut um das Jahr 1780. Zur Strasse hin sieht man von dem Gebäude vier Stockwerke mit gut drei Meter hohen Fenstern im ersten Stock, der Beletage. Hinter der Fassade und einem schweren hölzernen Eingangstor, durch das die schwarzen Limousinen der hier Beherbergten nur mit Müh und Not passen und folglich einige Schrammen hinterlassen haben, verbergen sich noch zwei wuchtige langgezogene Seitenflügel und ein gepflasterter Innenhof aus uralten Zeiten.
Café Le Tournon, ehemals Cafe de la Poste

Hier starb der ehemalige französische Staatspräsident Jacques Chirac am 26. September 2019. Nicht bei sich zu Hause.
Ganze 200 Meter weiter oben beherbergt das letzte Haus der Rue de Tournon mit der No. 18 auf derselben Strassenseite das „Cafe Tourrnon“, vor dem Zweiten Weltkrieg hiess es „Café de la Poste“. Über dem Café hat das Haus nur drei Etagen und nichts vom Prunk der Stadtpaläste aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert ringsum. Im Gegenteil. Es sieht aus, als würde es schrumpfen und von der Umgebung erdrückt werden.
Tod im Necker-Spital
Etwas mehr als 80 Jahre vor Jacques Chirac starb hier ein gewisser Roth, Vorname: Joseph. Genauer gesagt: Der Autor des „Radetzkymarsch“ hatte am 23. Mai – so heisst es – vom Selbstmord seines Freundes Ernst Toller in New York erfahren und war daraufhin zusammengebrochen. Die Bediensteten des Cafes und des „Hotel de la Poste“, das sich im Mai 1939 noch in den drei Stockwerken über dem Café befand, sorgten dafür, dass der etwas wunderliche Mann aus Österreich, den man hier schon seit anderthalb Jahrzehnten kannte, ins Necker-Spital gebracht wurde.

Dort diagnostizierte man eine doppelseitige Lungenentzündung, vier Tage später verstarb Roth mit nicht mal 45 Jahren. Es wurde spekuliert, dass der abrupte Alkoholentzug im Spital die Todesursache gewesen sein könnte.
Dieses von der Rue de Tournon rund 1500 Meter entfernte Krankenhaus hatte sich zur Zeit des Todes von Joseph Roth noch etwas von seiner ursprünglichen Fuktion bewahrt. Knapp zehn Jahre vor der Französischen Revolution war es von Suzanne Necker, der Gattin des Finanzministers unter Ludwig XVI. und Mutter der Schriftstellerin Madame de Staël, als Armenspital gegründet worden.
Ungeheure Mengen Alkohl

Und arm war Joseph Roth. Nicht nur in seinen letzten Tagen und Wochen im Frühjahr 1939, sondern schon in all seinen Pariser Jahren davor. Arm in jeder Hinsicht. Ständig hatte er, spätestens seit er 1933 sein Domizil in Deutschland verlassen und vor den Nazis fliehen musste, bei Verlegern in Frankreich und den Niederlanden sowie bei Freunden, vor allem bei Stefan Zweig, um Geld betteln müssen. Gleichzeitig verzweifelte er an der Geisteskrankheit seiner Frau Friedrike, die in dieser Zeit schon seit Jahren in einem Sanatorium bei Wien interniert war.
Währernddessen trank Roth hier im Café de la Poste in der Rue de Tournon – wo er unter anderem noch „Die Kapuzinergruft“ geschrieben hatte – die Jahre über ungeheuere Mengen Alkohol. Wenn auf seinem Stammtisch mal ein Wasserglas anstatt des Pernod oder eines Weinglases vor ihm stand, wussten alle Eingeweihten, dass auch dieses Glas etwas anderes enthielt als Wasser, nämlich Schnaps. Am Ende war der Weltbürger und rastlos reisende Joseph Roth seelisch und physisch ein Wrack. Sein Freund Walter Mehring, ebenfalls im Pariser Exil, beschrieb Roth als jungen Greis. Mit knapp 45 soll er ausgesehen haben, als wäre er schon 60.

„Die Legende des heiligen Trinkers“
In „Die Legende des heiligen Trinkers“, erst nach seinem Tod veröffentlicht, fand Roths eigener Zustand posthum noch Eingang in die Weltliteratur. Germaine Alazard, die junge Besitzerin des „Café de la Poste“ (heute Café Tournon), hatte, wie schon seit Jahren, auch noch diese Manuskriptseiten des permanent schreibenden und trinkenden Emigranten gerettet.
2019 – es mag am 80. Todestag von Roth gelegen haben – wurde „Die Legende des Heiligen Trinkers“ in Frankreich gleich in zwei verschiedenen Bearbeitungen für das Theater inszeniert, unter anderem bei den Festspielen in Avignon.
In den Palästen der Republik und bei befreundeten Familen
Jacques Chirac war alles andere als arm, und doch wohnte er, seit er 2007 den Élyséepalast verlassen musste, bis zu seinem Tod – wie vorher schon seit fast 40 Jahren – nie in einer eigenen Wohnung oder in einem eigenen Haus, sondern während seiner aktiven Zeit als Politiker, Staatssekretär, Minister, Premierminister oder Präsident in den Palästen der Republik oder aber im Rathaus von Paris. Dort von 1977 bis 1995 als Bürgermeister in einer sage und schreibe 1000 Quadratmeter grossen Wohnung. Warum sollte sich daran auf seine alten Tage etwas ändern? Also logierte Chirac, als sei das für einen ehemaligen französischen Staatspräsidenten selbstverständlich und nicht ein wenig anrüchig, nach seiner Zeit im Élyséepalast seit 2007 in luxuriösen, grosszügigen Stadtwohnungen, die ihm „befreundete Familien“ zur Verfügung gestellt hatten.
Erst auf 350 Quadratmetern am Quai Voltaire in einer der Pariser Stadtwohnungen der libanesischen Milliardärsfamilie Harriri mit Blick auf den Louvre am anderen Ufer der Seine. Und die letzten vier Jahre seines Lebens im Stadtpalais eines anderen Freundes und Milliardärs und eines der reichsten Männer Frankreichs, François Pinault.
Des einst kleinen bretonischen Holzunternehmers, der innerhalb von nur 35 Jahren den zweitmächtigsten Konzern in der französischen Luxusgüterbranche geschaffen hat. Eine grosszügige Erdgeschosswohnung im Seitenflügel von Pinaults Stadtpalast an der Nummer 4 der Rue de Tournon, vor der heute noch ein mit Bändern abgesperrter Parkplatz reserviert ist, war dem Gesundheitszustand des ehemaligen Staatspräsidenten am Ende offensichtlich angemessener.

François Pinault, der Freund des Altpräsidenten, der mit zunehmendem Reichtum ein Faible für alte, feudale Gemäuer entwickelt hatte, benutzte diesen Palast ohnehin schon seit geraumer Zeit nicht mehr als persönlichen Wohnsitz. 1999 schon hatte er sich in der schicken Rue de Bourgogne das Hotel Choiseul-Praslin zugelegt und 2014, ebenfalls im noblen 7. Arrondissement, dann noch zusätzlich für 52 Millionen Euro das zu Beginn des 18. Jahrhunderts erbaute Hotel Clermont- Tonnerre in der Rue du Bac, unweit des Luxuskaufhauses mit dem irreführenden Namen „Bon Marché“.
Unten Chirac, oben Roth
Dazwischen, an der abweisenden Fassade des grössten der zahlreichen edlen Stadtpaläste, die in der Rue de Tournon und Umgebung ab dem 16. Jahrhundert auf ehemals kirchlichem Grund in der Vorstadt von Saint Germain des Prés ausserhalb von Paris gebaut worden waren, findet man nur eine kleine Tafel mit der Aufschrift: „Terrain Militaire – Défense d' entrer“. Aus dem riesigen Palais ist eine der Pariser Kasernen der Republikanischen Garde geworden, deren Mitglieder bei jedem Staatsbesuch im Élyséepalast, bei jedem Staatsbegräbnis im Invalidendom und an jedem Nationalfeiertag zu Fuss oder beritten, mit glänzenden Stiefeln und glitzernden Säbeln daherschreiten oder sich aufstellen, bei jeder Witterung bereitstehen und dies oft stundenlang.
Die Rue de Tournon ist heute eine Strasse, die von der politischen Macht und einer der Hochburgen des Pariser Katholizismus mit der Kirche Saint Sulpice im Mittelpunkt umgeben und gekennzeichnet ist.
Die Strasse öffnet sich wie ein V von unten nach oben, von Norden nach Süden, von der Seine und vom Boulevard Saint Germain her, um am Ende geradezu majestätisch breit zu enden. Dort oben, wo die leicht ansteigende Strasse in die Rue de Vaugirard mündet und der Blick auf gewaltige Hausmauern und Türme fällt, sitzt die Macht. Der Senat, den De Gaulle einst abschaffen wollte, mit seinem angestaubten Image.
Die zweite französische Kammer, in der das tiefe, ländliche Frankreich überrepräsentiert ist, mit dem Jardin du Luxembourg sozusagen als Vorgarten im Süden, wo ein paar Privilegierte sogar ihre Tennisplätze mieten können und brave, überwiegend dunkelblau gekleidete, meist blondhaarige Kinder unter Aufsicht des sie betreuenden Hauspersonals der betuchten Familien aus der Umgebung ihre Seegelschiffchen in den Wasserbassins treiben lassen.
Unter einer Kuppel am östlichen Ende des bombastischen Senatsgebäudes schlägt eine Glocke, die auch Joseph Roth schon gehört haben dürfte, jede Viertelstunde im Turm über dem dicht beflaggten Eingang, als müsse sie die überwiegend betagten und behäbigen Senatoren in den mit Goldstuck überladenen Innenräumen des Staatspalastes wachhalten. Jacques Chirac, der nur 200 Meter weiter unten Verstorbene, der in seinem Leben praktisch alle politischen Ämter bekleidet hatte, die es nur gibt, hatte es merkwürdigerweise nie zu den Senatoren ins Palais du Luxembourg am oberen Ende der Rue de Tournon verschlagen.
Besucher aus der Provinz
Ab und an schleppen sich heute kleinere Gruppen von Menschen die Strasse hinunter. Man sieht ihnen an, dass sie aus der Provinz kommen, sich für die Hauptstadt herausgeputzt und wohl gerade einen Senatsbesuch hinter sich haben, den ihnen der Senator ihres Departements organisiert hatte. Sie sind erschöpft vom langen Gang durch die heiligen Hallen der zweiten Kammer und scheinen nicht so recht zu wissen, ob sie sich ins Café Tournon trauen sollen.
Dort sitzt gerade der anrüchige Präsident des mächtigen französischen Rugbyverbandes FFR, Bernard Laporte, einst kurzfristig sogar erbärmlicher Sportminister unter Präsident Sarkozy. Mit ein paar Verbandsfunktionären steckt er die Köpfe zusammen. Wahrscheinlich haben sie kurz vorher Lobbying für ihren Sport im Senat betrieben, versucht Gelder locker zu machen oder einen Gesetzentwurf zu beeinflussen und sind auf Nachbesprechung hier.
Eine Tafel für den Dichter
Von Joseph Roth wissen heute im „Café Tournon“ weder die Senatsbesucher aus der Provinz noch die Rugbyfunktionäre etwas. Zwar ist an der Fassade des Hauses mit der No. 18, auf Höhe des zweiten Stocks eine Tafel angebracht, die daran erinnert, dass der Schriftsteller hier von November 1937 bis Mai 1939 gewohnt hat. Gestiftet wurde das verblichene Schild von österreichischen Freunden, wie zu lesen ist. Um die Aufschrift aber entziffern zu können, muss man den Kopf ungewöhnlich weit in den Nacken legen, was so gut wie niemand tut.
Im Erdgeschoss des Hauses, im heute geschmacklos renovierten, mit naiven Gemälden des nahe liegenden Jardin du Luxembourg überhäuften Café Tournon, sass der melancholische, im fernen Galizien geborene Autor in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts fast täglich, sofern er nicht auf Reisen war oder zwischendurch einige Monate in Nizza lebte oder im Emigrantenzentrum deutschsprachiger Intelektueller, in Sanary sur Mer an der Côte d’Azur.
„Alles restlos versoffen“
An seinem Stammtisch im Café de la Poste oder im gegenüberliegenden Hotel und Restaurant Foyot, war Roth häufig, begleitet von seiner damaligen Lebensgefährtin Andrea Manga Bell. Offiziell war sie seine Begleiterin und Sekretärin, die über Jahre hinweg seine Manuskripte abtippte. Manga Bell war Tochter einer Hamburgerin und eines kubanischen Pianisten und immer noch verheiratet mit einem Prinzen aus Kamerun, der sie vor Jahren schon hatte sitzen lassen und in sein Land zurückgekehrt war. Er war der Sohn des ehemaligen Königs von Douala, den die deutschen Kolonialherren 1914 hingerichtet hatten. Roth hatte die selbstbewusste, exotische Frau im Ullstein-Verlag in Berlin getroffen und wenig später mit ihr eine gemeinsame Wohnung bezogen.
Als Roth 1933 vor den Nazis ins Exil nach Paris flüchten musste, folgte sie ihm mit ihren zwei Kindern. Bis 1936 sollte diese Beziehung halten, an deren Ende Andrea Manga Bell einem Freund schrieb: „Mein Bruder hatte mir aus Hamburg unter Lebensgefahr Geld aus meinem Erbe über die Niederlande zukommen. Roth hat alles restlos versoffen.“
Ab Sommer 1936 trat die Schriftstellerin Irmgard Keun an Manga Bells Stelle. Joseph Roth hatte die Keun während eines Aufenthalts bei Stefan Zweig in Ostende kennengelernt. Sie folgte ihm nach Paris und wurde dort unmittelbar ebenfalls Stammgast im Café ganz oben in der Rue de Tournon, zumal sie dem Alkohol ebenso verfallen war wie Roth.
Roth hält Hof im Café
„Die beiden saufen wie Löcher“, schrieb Egon Erwin Kisch damals. Und Irmgard Keun, nachdem sie 1938 vor Roth nach Nizza geflohen war, hielt fest: „Da hatte ich das Gefühl, einen Menschen zu sehen, der einfach vor Traurigkeit in den nächsten Stunden stirbt. Seine runden blauen Augen starrten beinahe blicklos vor Verzweiflung und seine Stimme klang wie verschüttet unter Lasten von Gram.“
Roth hielt in diesem Café, sofern er nicht schrieb, regelrecht Hof. Zu seinen Freunden zählten auch zahlreiche österreichische Monarchisten und Katholiken im Exil. Roth wollte in seiner verzweifelten Lage reichlich naiv daran glauben, dass die Wiederbelebung der Monarchie ein Mittel sein könnte, um in Österreich Hitler und den Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland zu verhindern. Was den Autor nicht daran hinderte, gleichzeitig bei antifaschistischen Veranstaltungen und Kongressen des linken „Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller“ als Redner aufzutreten. Auf Vermittlung seines Freundes, des grossen Germanisten und Hölderlinspezialisten Pierre Bertaux, sprach Roth im März 1938 nach dem Einzug von Hitlers Truppen in Österreich sogar noch im französischen Rundfunk zu dem Thema.
„Böse, besoffen, aber intelligent“
Dabei bewegte sich Joseph Roth in den letzten 18 Monaten seines Lebens so gut wie gar nicht mehr aus dem Café de la Poste und aus seinem Hotelzimmer in der Rue de Tournon weg. Sein Radius reichte gelegentlich noch bis zum Boulevard Saint Germain, weiter nicht.
Aus dem November 1938, sechs Monate vor seinem Tod, ist eine Tuschezeichnung von Roth erhalten, die ihn stehend neben einem runden Bistrotisch mit Weinglas zeigt. Darunter stehen die von ihm geschriebenen Zeilen: „So bin ich wirklich! Böse, besoffen, aber intelligent“.
Zwei Jahre auf Bewährung für Chirac
Unten an der Nummer 4 der Rue de Tournon hatten sich nach Chiracs Tod Ende September tagelang Menschentrauben gebildet, der Blumenhändler neben Francois Pinaults Stadtpalais machte das Geschäft seines Lebens. Es waren überwiegend Vertreter der älteren Generation, die vom ehemaligen Präsidenten und mit ihm auch von einer Epoche Abschied nahmen, die inzwischen gründlich der Vergangenheit angehört.
Chirac, der Machtmensch, der Bulldozer, der Charmeur und geborene Wahlkämpfer, der in seinem Leben Abermillionen Hände geschüttelt hatte, war ihnen von Mitte der 60er Jahre bis zur Jahrtausendwende als Vollblutpolitiker der alten Sorte fast 40 Jahre lang ein ständiger Begleiter gewesen, einer, von dem sich viele sagten, er war einfach immer schon da. Dementsprechend trug Frankreich diesen fünften Präsidenten der Fünften französischen Republik geschlagene fünf Tage lang zu Grabe – von einem Donnerstag bis zum darauf folgenden Montag.
Es war als hätte man dem skrupellosen Opportunisten Jacques Chirac sämtliche Gemeinheiten, Skandale und Verrätereien schlicht und einfach verziehen oder als hätten die Franzosen ein sehr kurzes oder überhaupt kein Gedächtnis. Denn immerhin: Chirac wurde, nachdem schon andere für Finanz- und Korruptionsskandale während seiner politischen Laufbahn an seiner Stelle hatten bezahlen müssen, am Ende, 2011, vier Jahre nachdem er den Élyséepalast verlassen hatte, als erster ehemaliger Präsident Frankreichs selbst wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Vertrauensmissbrauch zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Ein persönliches Erscheinen vor Gericht blieb ihm auf Grund seines Gesundheitszustands erspart. Nur Nicolas Sarkozy könnte ihn in dieser Hinsicht in den nächsten Jahren noch übertreffen.
Büros der Immobilienmakler
Bezeichnenderweise beherbergen das erste Haus auf der rechten und das letzte Haus auf der linken Seite der Rue de Tournon im Erdgeschoss jeweils Büros von Immobilienmaklern. Jedermann kann in den Vitrinen direkt nachprüfen, dass er sich hier in einer der mittlerweile teuersten Gegenden von Paris befindet und ehrfürchtig oder empört wieder davonschleichen. Eine 150-Quadratmeterwohnung ist für 6’500 Euro pro Monat zu mieten, was mehr als fünf französische Mindestlöhne ausmacht. Und wer kaufen möchte, kann hier unter anderem 178 Quadratmeter auf fünf Räume verteilt für 3,65 Millionen Euro erwerben .
Der eine Immobilienmakler logiert im herrschaftlichen, denkmalgeschützten Haus mit der Nummer 31, heute das letzte Gebäude auf der linken oberen Seite der Rue de Tournon. Joseph Roth hatte eben dieses Haus, in dem die Schriftstellerin Katherine Mansfield einst eine Wohnung hatte, vom Café Tournon aus stets im Blick gehabt.
Karl Lagerfeld und Yves Saint-Laurent
Gut 15 Jahre nach Roths Tod sollte dort für wenige Jahre ein exzentrischer, Monokel tragender junger Mann aus Norddeutschland einziehen, damals noch mit schwarzen Haaren und durchtrainiertem Körper, einer, der sich gelegentlich auch als Schwede oder Däne ausgab. Vor dem Haus parkte sein Mercedes Coupé, spendiert von den Eltern, die ihm auch seine exorbitanten Schneiderrechnungen grosszügig bezahlten, bevor ihr Sohn seine fulminante Karriere als Modezar starten sollte. Das war Karl Lagerfeld.
Mitte der 60er Jahre sorgte, nur fünf Häuser weiter unten in der Rue de Tournon, Lagerfelds Intimfeind und jahrzehntelanger Konkurrent, Yves Saint-Laurent, für eine kleine Revolution in der Modebranche. Als erster aus der Haute-Couture-Riege eröffnete er gerade dort, als wolle er Revanche üben und sich an seinem Gegenspieler rächen, seine erste Boutique für Prêt-à-porter, die Jahre lang für Furore sorgen sollte. „Yves Saint-Laurent Rive Gauche“ ist heute noch ein Begriff.
Joseph Roth blickte die letzten 15 Monate seines Lebens exakt neben dem Haus mit der No. 31, in dem Lagerfeld Mitte der 50er Jahre rauschende Feste feiern sollte, auf die Abbruchstelle des Hotels Foyot, eines einst vornehmen Eckgebäudes aus dem 18. Jahrhundert, das baufällig geworden war und Ende 1937 der Abrissglocke zum Opfer fiel. Roth, der dem Abriss traurig, ja fast verzweifelt beiwohnen musste, hatte bis dahin während all seiner Paris-Aufenthalte in diesem Hotel, in dem einst auch Rilke und Kokoschka abgestiegen waren, gewohnt – zuletzt sogar unentgeltlich in einer unbeheizten Dachkammer, die er erst verliess, als man ihm buchstäblich das Dach über dem Kopf abzubauen begann.
Der letzte Hafen
Dieses Hotel war seine Pariser Heimat geworden, mit seinem Abriss verlor der gesundheitlich bereits schwer angeschlagene und der Trunksucht verfallene Roth so etwas wie seinen letzten sicheren Hafen.
„Gegenüber dem Bistro, in dem ich den ganzen Tag sitze, wird jetzt ein altes Haus abgerissen, ein Hotel, in dem ich sechzehn Jahre lang gewohnt habe – die Zeit meiner Reisen ausgenommen. Vorgestern Abend stand noch eine Mauer da, die rückwärtige, und erwartete ihre letzte Nacht (...). Jetzt sitze ich gegenüber dem leeren Platz und höre die Stunden rinnen. Man verliert eine Heimat nach der anderen, sage ich mir. Hier sitze ich am Wanderstab. Die Füsse sind wund, das Herz ist müde, die Augen sind trocken. Das Elend hockt sich neben mich, wird immer sanfter und grösser, der Schmerz bleibt stehen, wird gewaltig und gütig, der Schrecken schmettert heran und kann nicht mehr schrecken. Und das ist eben das Trostlose.“
Hotel Helvetia
Heute stehen auf dem damals mit Schutt überhäuften Platz anstatt des Hotels mit der Hausnummer 33 ein recht ansehnlicher und drei eher armselige Bäume neben einem auch in diesen Zeiten noch gut besuchten Zeitungskiosk. Nichts erinnert mehr daran, dass hier und fünf Häuser weiter unten, damals das „Hotel Helvetia“, von 1933 an ein Zentrum der deutschen und österreichischen Emigration war. Auch der Philosoph Ernst Bloch und seine Frau Karola hatten hier 1935 einige Wochen verbracht, Alfred Kantorowicz hatte hier 1934 begonnen, die Exilbliothek der verbrannten Bücher zusammenzustellen, unterstützt von André Gide und Romain Rolland. Ist es Zufall, dass exakt hinter dem Platz, auf dem einst das Hotel Foyot stand, in der Rue Condé seit Jahrzehnten ein Ableger des deutschen Goethe-Instituts untergebracht ist?
Ehefrau Bernadette Chirac

Unten bei der Hausnummer 4 der Rue de Tournon ist seit Jacques Chiracs Tod inzwischen wieder Normalität eingekehrt. Ab und an verlässt eine dunkle Limousine mit getönten Scheiben das Anwesen des Milliardärs François Pinault, wahrscheinlich mit der Witwe des verstorbenen Altpräsidenten auf dem Rücksitz. Bernadette Chirac, eine geborene Chodron de Courcel, die während der tagelang dauernden Trauerzeremonien für ihren Ehemann nie in der Öffentlichkeit gesehen wurde.
Böse Zungen wollten nicht so recht glauben, dass die 86-Jährige schlicht und einfach selbst zu schwach war, um nach dem Tod ihres Gatten das Licht der Öffentlichkeit zu ertragen. Sie sahen in ihrer Abwesenheit vielmehr so etwas wie eine späte Rache an ihrem Mann, der sie ein Leben lang betrogen hatte, doch um eine Scheidung stets herumgekommen war, weil man sich in gewissen Kreisen, wie denen der Chodron de Courcel, ebenso gut wie nie scheiden liess.
Legendär in Chiracs Eheleben bleibt die Nacht, in der Lady Diana und ihr Liebhaber am 13. Betonpfosten der Unterführung unter der „Place d’Alma“ den Tod fanden. Niemand war damals in der Lage, Frankreichs Staatspräsidenten bis in die späten Vormittagsstunden des folgenden Tages aufzutreiben. Seine Ehegattin musste mitten in der Nacht an seiner Stelle in das Krankenhaus eilen, in dem die Prinzessin ihren Verletzungen erlag.
Die Adresse hier unten in der Rue de Tournon war Bernadette Chirac und ihrem Mann schon seit Anfang der 90er Jahre bestens vertraut. Am Abend von Jacques Chiracs Wahlsieg zum Präsidenten der Republik im Mai 1995 wurde sie dann auch einer grösseren Öffentlichkeit bekannt. Der Wahlsieger hatte nach seinem Triumph in einer bequemen Limousine, erstmals von einer Motorradkamera begleitet und live im Fernsehen übertragen, mit heruntergelassenen Fenstern und eifrig winkend eine Art Siegesfahrt durch halb Paris inszeniert. Irgendwann setzte er dann Ehefrau Bernadette, die genug von dem Schauspiel hatte, an eben dieser Adresse in der Rue de Tournon ab, wo die frischgebackene Präsidentengattin mit den Pinaults den Wahlsieg feierte, während der neu gewählte Präsident erst mal wieder in seine bisherige Machtzentrale, ins Pariser Rathaus weiterfuhr, wo er bis dahin 18 Jahre lang Bürgermeister gewesen war.
Die Zeit der Kohabitation
Dass das Stadtpalais des Grossunternehmers Pinault in der Rue de Tournon für die Chiracs ein Haus der offenen Tür war, hat Gründe, die nicht nur mit Freundschaft, sondern auch viel mit Interessen und einer gewissen Schuld zu tun haben, die der eine beim anderen hatte.
Man schrieb das Jahr 1986, und Jacques Chirac war nach dem Sieg der Konservativen bei den Parlamentswahlen bereits zum zweiten Mal in seinem Leben zum Premierminister ernannt worden. Nach zwei Jahren unter Präsident Valéry Giscard d’Estaing ab 1974, diesmal unter Präsident Francois Mitterrand – die Zeit der berühmten ersten Kohabitation hatte begonnen. Francois Pinault, der im Alter von 16 als Sohn eines Holzhändlers in der Bretagne die Schule verlassen hatte, begann in jener Zeit gerade, sich auf die Übernahme von schwächelnden Unternehmen in ganz Frankreich zu spezialisieren. Und Jacques Chirac sorgte damals als neu ernannter Premierminister dafür, dass der Staat respektive die staatliche Bank Crédit Lyonnais seinem Freund Pinault ungewöhnlich kräftig unter die Arme griff.
Pinault kaufte in jener Zeit ein Holzunternehmen und eine Papierfabrik auf, die er dank staatlicher Millionenhilfen beide nur vier Jahre später mit rund 500 Millionen Franc Gewinn weiterverkaufen konnte. Dies war der Anfang einer Unternehmerkarriere, an deren vorläufigem Ende ein Vermögen von zur Zeit rund 30 Milliarden Euro steht.
Von daher war es dann auch wie selbstverständlich, dass Jacques Chirac noch als Staatspräsident und in den Jahren danach, so lange es ihm seine Gesundheit erlaubte, seine Urlaube in Pinaults Villa in Saint Tropez oder in dessem herrschaftlichen Haus an der nordbretonischen Küste in Dinan verbrachte, sofern er sich nicht in wärmeren Gefilden auf eines der Anwesen des marokkanischen Königs einladen liess.
An Joseph Roths Grab
Als der Bewohner im Haus mit der Nummer 18 in der Rue de Tournon starb, mussten die Trauergäste zur Beerdigung in den südlichen Pariser Vorort nach Thiais wandern. An Roths Grab fanden sich damals Vertreter aus drei sehr unterschiedlichen Welten ein. Da standen Österreichs Monarchisten im Exil neben den linken und neben den jüdischen Emigranten. Der Sekretär des österreichischen Thronfolgers, Otto von Habsburg, soll die Worte gesprochen haben: „Für den treuen Kämpfer der österreichischen Monarchie im Namen seiner Majestät, Otto von Österreich“.
Woraufhin der rasende Reporter, Egon Erwisch Kisch, ans Grab trat und sagte: „Im Namen deiner Genossen des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller“. Der eigentlich vorgesehene Kaddish wurde in der allgemeinen Verwirrung dann nicht mehr gesprochen.
Heute liegt unweit von Joseph Roth in der Bannmeile vor der Hauptstadt noch ein anderer Schriftsteller begraben, der Jahre nach Roth ebenfalls im fernen Galizien geboren worden war und in Paris 1970 Selbstmord begangen hatte. Paul Celan wurde nur vier Jahre älter als Joseph Roth.
Chirac, der Bewohner der Hausnummer 4 der Rue de Tournon erhielt nur 100 Meter von seiner letzten Wohnstätte entfernt in der Kirche Saint Sulpice ein Staatsbegräbnis. Barenboim sass am Klavier, den deutschen Ex-Kanzler Schröder hatte man vergessen einzuladen und draussen verfolgten letztlich nur knapp tausend Personen die Zeremonie auf Bildschirmen, während in der Kirche reihenweise alte politische Gegner Chiracs gute Miene machten zum feierlichen Spiel.
„Ist sonst nichts passiert auf der Welt?“
Allein Chiracs politischer Erzfeind fehlte. Der heute 92-jährige Ex- Präsident Valéry Giscard d’Estaing war auch im hohen Alter und nach fast 40 Jahren nicht bereit, dem Mann zu verzeihen, der ihn 1981 verraten hatte. Chirac, damals selbst als Kandidat der Rechten angetreten gegen den Zentristen und bisherigen Präsidenten Giscard d’Estaing und gegen den zu den Sozialisten konvertierten François Mitterrand, war im ersten Wahlgang nur an dritter Stelle und deutlich hinter Giscard d’Estaing gelandet und damit ausgeschieden. Als Unterlegener hatte er vor der entscheidenden Stichwahl dann diskret dazu aufgerufen, für François Mitterrand und nicht für Giscard d’Estaing zu stimmen. Am Morgen nach Chiracs Ableben, so ist überliefert, soll Giscard d’Estaing die Tageszeitungen, die natürlich mit Chiracs Tod aufmachten, allesamt ungelesen in den Papierkorb geworfen haben mit der Bemerkung: „Ist sonst nichts passiert auf der Welt?“

Ludwig van Beethoven, geboren heute vor 249 Jahren
Man muss was sein, wenn man was scheinen will.